Gärung und Grundsatz
Es gab mal eine Zeit, da war Andreas Rödder der geistreichste Konservative in Deutschland. Das ist in der jüngeren Geschichte unseres Landes mal mehr, mal weniger schwer zu erreichen gewesen, aber bei Rödder waren es immerhin ein paar Jahre, in denen man sich für spannende, interessante, herausfordernde Perspektiven an seinen Output wenden konnte. Dabei ging es weniger um die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die Bonner Fokussierung auf die Geschichte der internationalen Beziehungen (ehemals: Geschichte großer Männer) ist mir seit meinem dortigen Hochschulabschluss etwas über. Es waren eher seine Beiträge in Feuilleton, Interviews und drei Sachbücher, die zum Nachdenken anregen mussten. Nichts ist so spannend wie sich anstrengen zu müssen, um die eigenen Sichtweisen behalten zu können, und Rödder hat es anstrengend gemacht.
Man konnte das gerade noch hier sehen (Öffnet in neuem Fenster), in einem Interview mit der (ausgerechnet!) taz, die Rödder als Botschafter des Konservativismus empfing. Er entwirft dabei ein Bild vom Konservativen, das die Linken in ihrem oftmals überschwänglichen Eifer bremst, ihnen Stöcke in die Speichen steckt und am Ende sagt „OK, das und das und das, was ihr gemacht habt behalten wir, das war doch ganz in Ordnung“. Die flapsige Ehrlichkeit, mit der er das skizziert, ist erfrischend, er behauptet da nicht, immer Recht gehabt zu haben oder die einzige Lösung zu haben. Es spricht ein reflektierter kluger Kopf, der aus einem gut sortierten Wertekanon seine Überzeugungen generiert. Immerhin!
Das ist seit einer Weile vorbei. Das CDU-Mitglied Rödder, das war schon lange klar, fremdelte wie viele mit der Kanzlerin Merkel, die gegenwärtige Macht gegen eine zukünftig noch schlagkräftige CDU tauschte. Er tat das auf Podien und in anderen Einwürfen, er suchte nach Einflussmöglichkeiten. Auf Fotos ist er beim Treffen der „Werte-Union“ 2018 in Schwetzingen zu sehen, der ORF führt ihn damals als Mitglied (Öffnet in neuem Fenster). Lange ist er es nicht geblieben, 2021 verglich er sie mit der „Tea Party“ in den USA, wirft ihr „Selbstradikalisierung“ vor und rechnet (offenbar zutreffend, 2022) mit baldiger Implosion. Gut möglich, dass Rödder bemerkt hat, dass in Deutschland echter politischer Einfluss nur innerhalb des großen Schlachtschiffs CDU machbar ist, weil alle Graswurzelinitiativen rechts der Mitte unweigerlich Richtung AfD driften. Im Frühjahr 2022 wird er jedenfalls von Friedrich Merz zum Leiter der Grundwertekommission der Partei gemacht und hat somit die Gelegenheit, ganz real am Profil der Partei mitzuarbeiten.
Das kollidiert natürlich mit seinem Anspruch als Wissenschaftler der Vergangenheit und Beobachter der Gegenwart: Er ist jetzt selbst Akteur, er macht selbst Politik. Dafür ist sein intellektueller Hintergrund sicher nützlich, aber jetzt wo er Politik macht, muss sie auch reflektiert werden. Rödder benutzt diesen Hintergrund aber nur als mundgerechten Argumentehappen für das, was ihm ohnehin schon feststeht. Gefragt nach dem großen C, der Rolle des Christlichen in der CDU, antwortet er sinngemäß (Öffnet in neuem Fenster), dass es dabei ja um Chancengleichheit ginge aber nicht um Gleichstellung und nicht um solche Sentimentalitäten wie „irgendwie mehr sozialstaatliche Leistungen oder Seenotrettung im Mittelmeer.“ Wir alle wissen ja, dass der biblische Jesus den Aussätzigen zurief, sie hätten sich ja frühzeitig um Hygiene bemühen können; nun sei es unfair, eine Behandlungskostenübernahme von der Solidargemeinschaft zu verlangen.
In der letzten Zeit hat sich Rödder, auch wenn er das selbst weit von sich weisen würde, radikalisiert und damit banalisiert: Hinter den Satzbausteinen des geübten Autoren stehen immer häufiger doch nur dieselben Ressentiments über alles, was als links angenommen wird, insbesondere die beiden großen Schreckgespenster des rechten und „liberalen“ Establishments: Grüne und sog. „Woke“. Aus dem konstruktiven Konservativen ist ein zynischer Kulturkämpfer geworden. Man kann das an verschiedenen Entwicklungen ablesen.
Kürzlich hat Rödder die „Denkfabrik“ R21 mit begründet, sozusagen als zusätzliche Flanke im Kampf um die Richtlinienkompetenz der Union, sie finanziert sich nach eigenen Aussagen hauptsächlich über Spenden und scheint dort immerhin genug einzunehmen, um zu klotzen statt zu kleckern: Bei einer in zwei Wochen stattfindenden Tagung direkt am Brandenburger Tor darf so gut wie alles einmal lamentieren (Öffnet in neuem Fenster), was linke Interpretationen von Minderheitenrechten für den Untergang des Abendlandes hält. Sieht man sich den Titel „Identitätspolitik als Bedrohung unserer Freiheit?“ in Verbindung mit dem Programm an, scheint es weniger um offene Debatte und Erkenntnisgewinn zu gehen als um Selbstvergewisserung und Kulturkampfrekrutierung. Widerspruch ist allenfalls in Detailfragen zu erwarten, wenn René Pfister, #CancelCulture-Bedauerer des Spiegels, auf Judith Sevinç Basad trifft, für die der Axel-Springer-Verlag zu links geworden war. (Öffnet in neuem Fenster) Noch vor wenigen Jahren wäre es Andreas Rödder nie in den Sinn gekommen, sich eine widerspruchsfreie Echokammer aufzubauen, in der sich alle im Wechsel über Unterdrückung beklagen und ihren gerechten Kampf bejubeln können. „Wokeness“ in all ihrer Schwammigkeit wird zur Chiffre für alles, was von links in westlichen Gesellschaften falsch läuft, zur zersetzenden Ideologie, während man selbst als „Liberal-Konservativer“ (bloß nicht fragen ob das ein Oxymoron ist) natürlich von sämtlicher Ideologie frei ist.
Rödder hat dieses Weltbild vor zwei Wochen auch gegenüber der ZEIT skizziert (Öffnet in neuem Fenster):
„Da gibt es eine Polarisierung auf beiden Seiten. Der umstürzlerische Rechtspopulismus ist eben die Antwort auf Wokeness. Der Putschversuch am 6. Januar stellt zwar so ziemlich alles andere in den Schatten. Aber ich halte die Cancel-Culture der Linken im Grunde für ebenso problematisch. Das ist eine wirklich toxische Mischung. Mich beunruhigt das sehr.“
Hier setzt der Historiker einen gewaltsamen, mit Todesfällen verknüpften Umsturzversuch in der amerikanischen Demokratie, ein seit Jahren aufgebautes, nicht zufälliges Ereignis, mit einer behaupteten linken „Cancel Culture“ gleich, die trotz aller Versuche bis heute kaum belegbar ist: Die „Dokumentation“ des ebenfalls von Rödder mitbegründeten „Netzwerks Wissenschaftsfreiheit“ scheitert regelmäßig damit, einen linken Meinungsterror zu beweisen, nur weil irgendwo mal ein Vortrag abgesagt wurde, weil die Veranstalter:innen nicht auf zu erwartenden Widerspruch vorbereitet waren. Bei kritischer Lektüre fällt fast jeder der in der Dokumentation genannten Fälle in sich zusammen, wenn er denn als Beleg für „Cancel Culture“ gedacht war: Darunter befinden sich solche freiheitsbedrohenden Fälle wie den einer geplanten Veranstaltung, bei der eine geplante Diskussionsteilnehmerin wieder absagt, ein Artikel, der nicht in einer digitalen Fachzeitschrift veröffentlicht wird, und die Bundeswehruniversität in Hamburg, die zum militärischen Sicherheitsbereich erklärt werden soll (was dann doch nicht passiert). Selbst da, wo legitime Äußerungen durch Protest verunmöglicht wurden, fällt es sichtlich schwer, eine „Kultur“ zu entdecken, die die Wissenschaftsfreiheit bedroht.
Im Umkehrschluss fällt es dem Netzwerk schwer, sich einheitlich zu verhalten. Im Vorwort der Dokumentation (Öffnet in neuem Fenster), also gewissermaßen programmatisch, wendet es sich gegen „Diffamierungen, wenn statt eines inhaltlichen Widerspruchs eine moralisch diskreditierende politische Einordnung einer Person selbst oder ihres Arguments vorgenommen wird (etwa als „Nazi […] ebenso wie „Linksfaschist“)“. Nur einen Klick weiter veröffentlicht es im Blog einen Artikel (Öffnet in neuem Fenster) der beiden Juristen Christoph Gröpl und Christian F. Majer, der im ersten Absatz „selbsterklärten Antifaschismus“ zum heutigen Faschismus erklärt, dann beklagt, dass „Rechts“ und „Faschist“ heute inflationär und unscharf verwendet würden und damit schließt, die „modernen Wüteriche der sozialmedialen Empörungs(un)kultur“ in die Gegend der nationalsozialistischen Bücherverbrennungen zu rücken.
Das hat alles nichts mehr mit einem Ausloten gesellschaftlicher Debatten zu tun, hier geht es um einen Kampf um Hegemonie, um die Vernichtung eines politischen Gegners, die Majer und Gröpl angeblich selbst befürchten. Es ist ein Tiefpunkt der Diskussion, die asymmetrisch geführt wird zwischen üppig von der öffentlichen Hand finanzierten Professor:innen mit Zugang zu gedruckten Feuilletons auf der einen und budgetlosen Aktivist:innen auf der anderen Seite, die durch Soziale Medien erstmals Zugriff auf die sonst in Privathand befindlichen Mittel der Massenkommunikation haben. Ein solch ungleicher Kampf um die öffentliche Meinung lässt sich für die Privilegierten (allein das auszusprechen scheint schon eine Unverschämtheit) nur gewinnen, wenn sie sich gleichzeitig zur wahrgenommenen Minderheit und schweigenden Mehrheit erklären, wenn sie die schlimmsten der (zweifelsohne vorkommenden) Unflätigkeiten von Twitter aufpusten, von den Beleidigungen der Mitglieder des eigenen Netzwerks aber wohlfeil schweigen.
Man darf gespannt sein auf die CDU-Grundsätze, die unter Rödders Leitung formuliert werden: Setzt sich dort der konstruktive Konservative durch oder der radikalisierte Kulturkrieger, der in linken Bewegungen mindestens dasselbe Destruktionspotenzial sieht wie im real existierenden, gewalttätigen US-Trumpismus? In jedem Fall ist er auf dem besten Wege, eben nicht mehr als der über den Dingen schwebende kluge Konservative gesehen zu werden, sondern als Partei. Das ist seine eigene Weichenstellung gewesen. Eine Konsequenz daraus könnte sein, dass er nun außerhalb seiner Partei (und ggfs. der AfD, für die er immer anschlussfähiger wird) weniger Gehör bekommt. Ob er das dann als Canceln wahrnimmt?
Was sonst noch war:
Soll niemand sagen, ich würde hier nur auf die CDU schimpfen: Die Ampel-Koalition hat, versteckt in einem Gesetz über das Zentralregister, eine Änderung des Strafrechtsparagraphen 130 versteckt: das Verbot von Leugnung und Verharmlosung von völkerrechtswidrigen Taten gilt demnach nicht mehr nur für jene, die von NS-Deutschland verantwortet wurden, sondern alle Taten jemals. Die EU wollte das für solche, die gerichtlich festgestellt waren, die Koalition nimmt es für alle in Anspruch. Das könnte zu massiver Rechtsunsicherheit führen. Warum, und woher das Verbot historisch kam, habe ich in einem Twitterthread erklärt, hier besser lesbar zusammengestellt: https://threadreaderapp.com/thread/1585188017513193472.html (Öffnet in neuem Fenster)