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Der Antisemitismus ist seit Jahrzehnten in der Krise. Seit er in Europa durch deutsche Hände beinahe sein Ziel erreicht hätte, findet sich kaum noch jemand, der öffentlich zu ihm steht. Seit fast 77 Jahren muss er sich immer neue Codes ausdenken, scheinbar rationale Gründe, politische Kontroversen, künstlerische Anspielungen, um das Ressentiment über jüdische Menschen und das Jüdische an sich zu pflegen. Generationen von Wissenschaftler:innen haben sich mit diesen Andeutungen beschäftigt, es gibt Arbeitsdefinitionen und Kriterienkataloge, mehrbändige Nachschlagewerke. Tagungen und Fernsehsendungen beschäftigen sich damit, was noch Kritik am außenpolitischen Verhalten eines nahöstlichen Staates ist und was schon ein unzulässiger Vergleich von Investmentfirmen mit Insekten.

Und dann kommt Kanye West. Der T-Shirt-Fabrikant, ehemalige Reality-Soap-Star und Schöpfer von sechs bis sieben wirklich guten Hip-Hop-Tracks der 00er Jahre ist schon länger bekannt als Grenzgänger, hat sich in den letzten Tagen aber doch recht offensichtlich als Antisemit geoutet. Es begann mit einem auf Instagram geposteten Screenshot einer wohl echten Textnachricht an Sean Combs (Öffnet in neuem Fenster), Übersetzung von mir:

„Ich werde dich als Beispiel nehmen, um den jüdischen Leuten, die dir gesagt haben, du sollst mich anrufen, zu zeigen, dass mich niemand bedrohen oder beeinflussen kann.
Ich habe dir gesagt, dass das Krieg bedeutet.“

Wenig später legte er auf Twitter nach:

„I’m a bit sleepy tonight but when I wake up I’m going death con 3 On JEWISH PEOPLE The funny thing is I actually can’t be Anti Semitic because black people are actually Jew also You guys have toyed with me and tried to black ball anyone whoever opposes your agenda”

Der Tweet lässt sich nicht so ohne weiteres übersetzen (Kritische Edition von Social Media, wann?), auch weil West offensichtlich den amerikanischen Alarmzustand „DEFCON“ (Defense Readiness Condition) für eine „Death Con“ hält. DEFCON 3 wäre übrigens die mittlere Alarmbereitschaft, die beispielsweise aktuell gilt. Eigentlich nichts Besonderes. Durch den Kontext des gesamten Tweets ist es aber eine eindeutige Drohung gegen „Jüdische Leute“ insgesamt. Nicht „Zionisten“, nicht „Ostküstenelite“, nicht „Israel“, nicht „Ultraorthodoxe“, nicht „Rothschild“, nicht „Hochfinanz“. Einfach jüdische Menschen.

Umso schwerer fiel es den unvermeidlichen Apologet:innen, das irgendwie zu verteidigen: Schlecht über Juden reden, das versuchen selbst die überzeugtesten Antisemit:innen zu vermeiden. Weil es so leicht erkennbar ist und weil eine der letzten Sachen, auf die sich global noch eine relative Mehrheit der Menschen einigen kann, ist, dass der Holocaust keine gute Sache war. Häufig war „Er meinte eigentlich nur Zionisten!“ zu lesen, als wäre es irgendwie besser, nur die Bezeichnung zu verwenden, mit der Viele eigentlichdie Juden meinen. Aber namentlich erkennbar kam ihm kaum jemand mit öffentlicher Relevanz zur Hilfe.

Fox News, das Zentralorgan des rechtsextremen Aktivismus in den USA, tat es durch Auslassung: Dort ist West schon seit langem ein beliebter Gast, schließlich war seine völlig gescheiterte Präsidentschaftskandidatur 2020 ausschließlich dazu gedacht, Schwarze Wählerstimmen von den Demokraten abzuziehen, ist er generell ein großer Trump-Freund und trug er vor kurzem einen Pullover mit der Aufschrift „White Lives Matter“, einer Parole amerikanischer Rassist:innen. West war zu Gast bei Tucker Carlson, dem einflussreichsten Hassprediger der Welt, und breitete dort seine gesamte, nicht logisch nachvollziehbare Weltsicht aus. Viel davon ist anschlussfähig oder deckungsgleich zur amerikanischen Rechten, deren Liebe West ganz offensichtlich sucht. Interessanter ist aber, was herausgeschnitten wurde, jetzt über diverse unabhängige Medien doch noch an die Öffentlichkeit gekommen ist.

Kanye West spricht dort unter anderem (Öffnet in neuem Fenster) über die Erziehung, die seine Kinder außerhalb der Familie erhalten: Sie würden in der Schule über Kwanzaa sprechen, ein von der amerikanischen Black-Power-Bewegung konzipiertes, siebentägiges Fest, das sich bewusst zeitlich an Weihnachten anlehnt. West hätte lieber, dass sie über Chanukkah reden, das jüdische Lichterfest, denn dann bekämen sie noch etwas finanzielle Expertise („Financial engineering“) beigebracht. Vielleicht meint er es als Witz, er lacht nicht, Carlson lacht nicht, niemand lacht. Es ist eindeutig eine Anspielung auf das uralte antisemitische Vorurteil der Juden, die sich nur um Geld und dessen Vermehrung scheren. Im Hinblick auf die Abkommen, die im Nahen Osten unter Trumps Schwiegersohn Jared Kushner entstanden, erklärte er, Kushner sei es dort nur um Geld gegangen, produziert habe er nichts – an dieser Stelle sprang Carlson der Familie Trump dann doch zur Seite, West hingegen ist unerbittlich; nicht gegenüber Trump, sondern gegenüber seinem jüdischen Verwandten.

Das ist alles natürlich nicht auf Wests Mist gewachsen: Es folgt den Lehren von Louis Farrakhan, einem 89 Jahre alten „Black Supremacist“ und Führer der „Nation of Islam“. Eines der großen Lebensthemen von Farrakhan ist sein Hass auf Juden, der sich aus allen Aspekten von einem Jahrtausend Judenfeindschaft speist: Er hasst Juden, weil sie angeblich Jesus umgebracht hätten (christlicher Antijudaismus), weil sie Geldverleiher waren (mittelalterlicher Antijudaismus), weil sie heimlich die Welt regieren würden (klassischer Antisemitismus um 1900), weil sie Hitler finanziert hätten, weil sie sich im Holocaust umbringen ließen, weil sie Israel gründeten, weil sie Hollywood und die Medien kontrollierten, weil sie Homosexualität legalisiert hätten und so weiter. Es gibt nicht ein judenfeindliches Vorurteil, das Farrakhan nicht schon geäußert hätte, keine Hässlichkeit, de er ausgelassen hätte: „Und vergesst nicht: Wenn Gott euch in den Ofen steckt, dann für immer!“ rief er den Anhängern seiner Gruppierung schon in den 1980er Jahren zu.

Farrakhan ist in einem kleinen, radikalen Kreis von Schwarzen Amerikaner:innen prominent, was immer nur dann auffällt, wenn einer dieser Menschen bekannt genug ist, um die Nachricht nach außen zu tragen. Vor West war das zuletzt der Footballspieler Desean Jackson, der auf Instagram Zitate von Farrakhan sowie eine gefälschte Äußerung von Adolf Hitler postete, verbunden mit der eigenen Wertung „Hitler was right“. Zugrunde liegt diesen Äußerungen und auch vielen von Kanye West die Idee, dass die Schwarzen das eigentliche biblische Volk der Hebräer seien, die heutigen Juden nicht viel mehr als Hochstapler, die sich in der Diaspora an die Stelle des „auserwählten Volkes Gottes“ gesetzt hätten und Schwarze Menschen überall wo es ging unterdrückt hätten. Es ist eine durchaus verlockende christlich-fundamentalistische Verschwörungsideologie, die anschlussfähig an anti- und postkoloniale Diskurse ist und gleichzeitig den politisch rechten Mainstream als Verbündeten offenhält – schließlich sind die Verantwortlichen für rassistische Unterdrückung hier nicht die weißen Mehrheitsgesellschaften, sondern eine kleine jüdische Minderheit.

Interessant ist an dieser Geschichte natürlich auch die Meta-Geschichte: Wir verschiedene Akteur:innen darauf reagieren: Einhellige Verurteilungen kamen in den USA bislang eigentlich nur von links, von der demokratischen Mitte und von Republikaner:innen, die in der Trump-Partei ohnehin abgemeldet sind. Die Rechte hingegen scheint gerade nachzuweisen, wie leichtfertig sie ihre demonstrative Unterstützung für jüdische Menschen aufgibt, wenn es wichtigeren, wählerträchtigeren Themen (ein populärer Schwarzer Künstler wählt GOP!) zum Nutzen gereicht. Die Leaks aus dem Fox-Interview sind daher ein Desaster für die Versuche, den Demokraten die weithin sicheren Stimmen amerikanischer Jüdinnen und Juden streitig zu machen.

Fürs Erste ist Kanye West von Instagram und Twitter gesperrt worden. Das heißt aber noch lange nicht, dass er keine Verlautbarungskanäle hat. Die Frage wird sein, ob er sich tiefer ins selbstgegrabene Loch einbuddelt, oder ob er seine eigene Vermarktbarkeit über seine offensichtlich tief empfundenen Absichten stellt.

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