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Vergangene Woche sorgte Hedwig Richter auf Twitter mal wieder für milde Furore mit folgender, offenbar massenhaft anschlussfähiger Aussage (Öffnet in neuem Fenster):

https://twitter.com/RichterHedwig/status/1520130126301876225 (Öffnet in neuem Fenster)

Nun fallen mir auf Anhieb, nehmen wir den Tweet mal humorlos wörtlich, viele, sehr viele menschenverachtendere Ideen des 19. Jahrhunderts ein: Moderner Antisemitismus, Dynamit, Eugenik, Senfgas und nicht zuletzt Pepsi Cola. Aber wenn wir mal von der wörtlichen zur Sinnebene hinübergehen, bleibt stehen, dass es populär ist, Schulsport zu verdammen. Die Diskussion in den Antworten wurde sehr kontrovers geführt, in aller Regel erklärt anhand der eigenen Biografie.

Dass der Sportunterricht eine Idee des 19. Jahrhunderts ist, stimmt natürlich. Und sie lehnte sich an bei den vielen heute unausstehlichen Ideen dieser Zeit, beim Nationalismus, beim Militarismus und natürlich auch beim Antisemitismus. Die Leibesertüchtigung in den Schulen war selbstverständlich eine rein männliche Angelegenheit, die dazu dienen sollte, die „luxuriöse Weichlichkeit“ der jungen Generationen auszumerzen, die „Verzärtelung“ der heranwachsenden Männer zu unterbinden. Geschrieben hat das der Pädagoge Johann Christoph Friedrich GutsMuths (Öffnet in neuem Fenster) im ausgehenden 18. Jahrhundert als Vordenker dieser deutschnationalen Pädagogik, versetzt mit Tiraden, die sich lesen wie heutige kulturpessimistische Polemiken gegen Helikoptereltern:

„Für diese Leute gibts — gar keine Gymnastik ; ich kann also  auch keine für sie schreiben. Ihre Kinder sollen weder laufen noch springen, denn sie möchten sich erhitzen ; sie sollen weder in kalte Luft gehen noch baden, denn sie möchten sich erkälten; sie sollen nichts thun, wobei der Körper in Anspruch kommt, denn sie könnten unglücklich sein.“

Vermutlich hat bislang jede Generation der Neuzeit über die Verweichlichung ihrer Nachfolgenden geklagt, in dieser Generation hatte es aber sehr konkrete Auswirkungen: Die Idee von regelmäßigem verpflichtenden Sport als Leibesertüchtigung war in der Welt und ist bis heute in verschiedenen Ausmaßen spürbar. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert hingegen wurde sie erst einmal ausgiebig militarisiert: GutsMuth verkaufte sein Werk dem preußischen Staat als Konzept, wie man den „Körper zum Dienst des Staates“ machen könne und ergänzte zum Turnen Marschübungen und Waffengriffe.

Im 19. Jahrhundert radikalisierte sich diese Idee dann mit und durch den „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn von einer Formung des individuellen Körpers zu dessen eigener Besserung hin zu einer Formung des deutschen Volkskörpers, der durch die kollektive Erfahrung der Muskelstählung auch zu einer kollektiven Identität führen sollte, die dann praktischerweise auch noch gleich militärisch einsetzbar sein dürfte. Und darauf bauten natürlich auch die Nazis auf, wie in „Mein Kampf“ ziemlich eindeutig formuliert steht:

„Seine gesamte Erziehung und Ausbildung muß darauf angelegt werden, ihm die Überzeugung zu geben, anderen unbedingt überlegen zu sein. Er muß in seiner körperlichen Kraft und Gewandtheit den Glauben an die Unbesiegbarkeit seines ganzen Volkstums wiedergewinnen. Denn was die deutsche Armee einst zum Siege führte, war die Summe des Vertrauens, das jeder einzelne zu sich und alle gemeinsam zu ihrer Führung besaßen.“

Und ausnahmsweise werden hier von Hitler auch die Frauen genannt, aber natürlich nur passiv:

„Vor allem aber, der junge, gesunde Knabe soll auch Schläge ertragen lernen. Das mag in den Augen unserer heutigen Geisteskämpfer natürlich als wild erscheinen. Doch hat der völkische Staat eben nicht die Aufgabe, eine Kolonie friedsamer Ästheten und körperlicher Degeneraten aufzuzüchten. Nicht im ehrbaren Spießbürger oder der tugendsamen alten Jungfer sieht er sein Menschheitsideal, sondern in der trotzigen Verkörperung männlicher Kraft und in Weibern, die wieder Männer zur Welt zu bringen vermögen.“

Einer der Texte (Öffnet in neuem Fenster), die ich zum Thema in den letzten Tagen zum Thema gelesen habe, endet überoptimistisch mit dem Satz „Mit dem Dritten Reich endete die Geschichte des deutschen Schulsports unter militärischem Aspekt.“ Das ist natürlich nichtzutreffend, wie sich allein schon durch die Handgranatenattrappen (Öffnet in neuem Fenster) im Maßstab 1:1 belegen lässt, die in der DDR im Sportunterricht der Oberstufen eingesetzt wurden. Aber auch im westdeutschen, ach so demokratischen Schulsport ließ sich der Geist der alten Leibesertüchtigung nicht vollständig entfernen: Die Ansprüche aus der universitären Pädagogik modernisierten sich zwar, aber das Lehrpersonal im „unverdächtigen“ Fach Sport blieb lange Zeit beim Stählungsgedanken. Im Rahmen des allgemeinen internationalen Sportfiebers wandelte sich das Verständnis des Sportunterrichts dann zu dem, was meine Schulzeit ausmachte: die Konfrontation der Schülerinnen und Schüler mit einer Vielzahl unterschiedlicher Sportarten, um einerseits die Sportvereine mit potenziellen Interessent:innen zu versorgen und andererseits Talent- und Elitenauslese zu ermöglichen: „Jugend trainiert für Olympia“ entstand 1969 und sollte diese Talente möglichst früh erkennen, wiederum für den Dienst am Vaterland, glücklicherweise nicht in einem nationalistisch-militärischen Sinne.

Es ist also nicht vollkommen unverständlich, warum Schulsport bis heute so ein großes Schreckenspotenzial bei vielen ehemaligen Schüler:innen besitzt. Ein umfangreicher Krautreporter-Artikel (Öffnet in neuem Fenster) hat sich dieser Frage mit großem Gegenwartsbezug und enormer Datenbasis genähert, bleibt mir aber zu monoperspektivisch: Nach Leistung benoteter Sportunterricht ist natürlich von dem angeborenen Körpereigenschaften der Benoteten abhängig und natürlich bietet er ein (von den Lehrenden eigentlich wegzumoderierendes) Demütigungspotenzial für jene, die mit weniger Talent in die Schulstunde kommen. Aber ist das in Sport so viel anders als beim Vorrechnen an der Tafel, beim Deklinieren in Latein, beim Aufsagen des Gedichtes in Deutsch? Zwei Mal in meiner Schullaufbahn musste ich im Kunstunterricht aufstehen, mein Bild zeigen und den anderen in meiner Klasse zuhören, die erläuterten, was ich alles falsch gemacht habe. Ich empfand das um ein Vielfaches demütigender als es das (auch häufig vorgekommene) Als-Letzter-gewählt-werden in Sport je hätte sein können. Wie geht es dann erst jemandem der oder die in Mathe ob großer Verständnisprobleme endlose Minuten an der ungelösten Aufgabe auf der Tafel stehen muss, bis die Lehrenden Gnade haben?

Vielleicht ist die Popularität der Ablehnung des Schulsports auch darin begründet, dass wir in der mit Reichweite veröffentlichten Meinung hauptsächlich von Menschen lesen, die sich durch andere Schulfächer als Sport mit ihrer schulischen Intelligenz retten konnten oder dort ohnehin Überflieger waren. Vom athletischen Gerüstbauer der regelmäßig die 5 in Mathe mit nach Hause brachte lesen wir mit zehn, zwanzig Jahren Abstand vermutlich weniger über schulische Traumata als von der spiddeligen Schriftstellerin mit Gleichgewichtsproblemen.

Dennoch hat der Schulsport gleichzeitig auch noch das Problem des kleinen Pools an potenziellen Lehrer:innen: Sport unterrichtet nur, wer sportlich ist. Das klingt erstmal banal, aber wer sich einmal die Aufnahmeprüfungen der Sporthochschule in Köln angeguckt hat weiß, dass es dort nicht vorrangig um Spaß an Bewegung geht. Warum aber soll jemand der übergewichtig ist und nicht aus dem Stand 20 Kilometer joggen kann Kindern keinen Spaß an Bewegung vermitteln können? Letztlich wäre den individuellen Schüler:innen wie auch der gesamten Gesellschaft mehr damit geholfen, den Leistungsgedanken den Sportvereinen zu überlassen und dafür einen positiv aufgeladenen Bewegungsunterricht zu schaffen, der mehr Angebote macht als Anforderungen.

Vermutlich ist das längst in der sportdidaktischen Diskussion angekommen. Den heutigen Sportunterricht kann ich (noch) nicht beurteilen, ich kenne ihn bislang nur aus der Grundschule unter Corona-Bedingungen. Ich würde mich freuen von Sportlehrer:innen zu hören, wie das Fach heute angegangen wird – von denen waren nämlich einige in der Diskussion unter Hedwig Richters Tweet lesbar angefressen. Es ist jedenfalls noch viel zu tun, bis die Klischees vom Stahlbad Schulsport aus den Köpfen verschwinden.

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