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Manche Themen fallen einem in den Schoß, und manche Themen bekommt man zu Weihnachten geschenkt. Vor 23 Jahren bekam ich an Heiligabend eine hübsche Doppel-CD (Öffnet in neuem Fenster), einen Sampler mit dem Titel „Woodstock 1999“ von der ich nicht viel wusste, außer dass einige Bands darauf waren, die ich gerne mochte oder versuchte gern zu mögen: Rage Against the Machine, The Offspring, Bush. Die Doppel-CD sollte sich als prägend für meinen Musikgeschmack der folgenden Jahre erweisen, sie brachte mich mit Korn, Live und Limp Bizkit einerseits, mit Elvis Costello, den Chemical Brothers und The Roots andererseits in Berührung. Zwischen den vielen, vielen Hits fand sich aber auch ein Track namens „Interlude“, den ich damals nicht einordnen konnte. Eine leicht quäkige Männerstimme war dort zu hören, die das Publikum direkt ansprach:

„Hey guys, calm down a minute, woah, woah. As you can see if you look behind you, we have a bit of a problem. Chili Peppers are gonna come back, calm down. We got three days through, we need — calm down, we don’t want anybody to get hurt. The relay tower is on fire as you can see, it’s not part of the show. It really is a problem. […] There’s only a couple hundred thousand of you guys, but we need your help. So, let’s back away, let’s let the fire department do their job, make sure nobody gets hurt. We’ll be ready to go in just a little while!”

Damals weckte das mein Interesse, weil es den Eindruck des Samplers brach. Bis heute dürfte es einmalig sein, dass so eine Live-Compilation auch eine öffentliche Notfalldurchsage als eigenen Track abspielt. Kurzum: Seit Weihnachten 1999 beschäftige ich mich immer wieder mit dem Desaster, das Woodstock ’99 war. Seit einer guten Woche tun das auch viele andere Menschen, weil auf Netflix die dreiteilige Dokumentation „Trainwreck“ erschienen ist, die die drei Tage des Festivals nachzeichnet. Ich will nicht auf die einzelnen, eskalierenden Schritte des Ereignisses eingehen, dafür gibt es einen recht guten englischsprachigen Wikipedia-Artikel und natürlich die Doku (es gibt auch einen HBO-Film aus dem vergangenen Jahr dazu). Spannend ist das Nachleben, wie die Ereignisse eingeordnet und erklärt wurden, wie sie als Zeichen der damaligen und heutigen Gegenwart gelesen wurden und natürlich die Suche nach den Schuldigen.

Dass die dritte Auflage von Woodstock gigantische Probleme hatte, wurde live und unmittelbar bekannt, und das war vielleicht die erste große Neuerung in diesem medialen Zeitalter. Als beim 1000. Konzert der Toten Hosen zwei Jahre zuvor, live übertragen bei Premiere (jetzt Sky), eine Zuschauerin zu Tode gekommen war, hatte man zwar Zwangspausen mitbekommen, aber nicht das Ausmaß des Unglücks. Dass in Rome, New York, wo das neue Woodstock stattfand, Autos brannten, Barrikaden und Mischertürme abgerissen wurden und Menschen Opfer von Gewalttaten wurden, sahen die Menschen zuhause auf MTV in dem Moment, als es passierte. Dass mindestens vier Frauen auf dem Gelände vergewaltigt wurden, unzählige weitere mindestens Opfer sexueller Nötigung wurden, darüber berichteten Medien innerhalb weniger Tage. Was passiert war, lag unmittelbar offen zutage. Was noch fehlte, war die Aufarbeitung der Verantwortlichkeiten.

Sehr schnell fokussierte sich die Diskussion dabei auf Limp Bizkit und deren Sänger Fred Durst. Der hatte am zweiten Festivaltag den Bandhit „Break Stuff“ mit einer Ansage eingeleitet, die das Publikum dazu aufforderte, alle negativen Energien jetzt gebündelt herauszulassen – was dann auch prompt geschah, indem einige Menschen die Spanholzverkleidungen des Mischturms abrissen und begannen, darauf über die Menschenmenge zu „surfen“. Das Konzert war damit der massenmediale Auftakt zu sich aufschaukelnden Ausschreitungen, was als Anlass ausreichte, die Band verantwortlich zu machen. Sie bot sich allerdings auch an: Bis heute sind Limp Bizkit eine sehr jungenhaft-männliche, destruktive, aber auch alberne Band mit einem großmäuligen Frontmann. Mitunter ist und war die Band auf die unangenehme Art und Weise unpolitisch, die das Desinteresse an Politik aus einem Gefühl der eigenen Nichtbeachtung, der Unterdrückung, der Andersartigkeit heraus begründet, also eigentlich sehr politisch. Es ist wahrscheinlich Zufall, aber gleichzeitig sehr folgerichtig, dass Fred Durst die roten Baseballkappen zu seinem Markenzeichen (und dem der Fans der Band) machte, die 17 Jahre nach Woodstock 99 zum Markenzeichen des Trumpismus wurde: Beide kultivieren einen Außenseiter- und Underdogstatus, der die Massenerfahrung umso erlösender macht. 

Das ist natürlich nichts, was Trump oder Durst erfunden hätten, und es als popkulturelles Moment zu verwenden bedeutet weder, dass Limp Bizkit eine trumpistische Band wären noch, dass das irgendwie verwerflich wäre; tatsächlich hat Fred Durst sich mit entwaffnender und verletzlicher Offenheit gegen Trump gestellt (Öffnet in neuem Fenster). Aber das Momentum ist in der Band, und es lässt sich auch Außenstehenden leicht erklären, und so hält sich bis heute die Überzeugung, Limp Bizkit hätten Woodstock 99 entgleiten lassen.

Tatsächlich ist es aber wie nahezu bei allen menschengemachten Katastrophen: Es gibt nicht den einen ursächlichen Faktor. In Woodstock traf 1999 planerische Inkompetenz auf wirtschaftlichen Übermut, ungebremste Maskulinität auf latente soziale Unzufriedenheit, die letzte medial unerfahrene Generation auf die totale Medialisierung und die Musik der Jahrtausendwende auf die Illusionen der letzten Hippies. Diese gesamte Mischung führte zu einem Ereignis, dessen Nachbeben bis heute Einfluss auf die amerikanische Popkultur haben.

Die Zerstörungen begannen nicht mit „Break Stuff“ von Limp Bizkit, die ersten Zeichen von Vandalismus waren die vom Außenzaun abgebrochenen Spanplatten, die verwendet wurden, um darunter Schatten zu suchen oder Brücken über die verschlammten Bereiche vor den mobilen Toiletten zu bauen. Die ersten Akte von Vandalismus waren also bemerkenswert konstruktiv. Sie waren Lösungen für Probleme, die durch schlechte Planung entstanden waren. Das Gelände war für ein Festival vollkommen ungeeignet, da es von oben keinerlei Schatten bot, unten durch Rollflächen der ehemaligen Air-Force-Basis fast komplett versiegelt war und dazu deutlich zu weitläufig. Die beiden größeren Bühnen, auf denen die bekannteren Bands spielten, lagen 2,7 Kilometer auseinander, um von der einen zur anderen zu gelangen musste man über einen schattenfreien Runway laufen und durch den Marktplatz, auf dem u.a. Verpflegung zu überteuerten Preisen angeboten wurde.

Die Besucher:innen des Festivals bemerkten natürlich, in welche Situation sie dort gebracht werden sollten, schließlich hatten sie sämtliche Getränke, auch Wasser, am Eingang abgeben müssen. Diese räumliche Organisation ist also die Grundlage, auf der sämtliche Geschehnisse der folgenden Tage zu betrachten sind: Sie sind bewusste wie unbewusste Reaktionen auf ein außergewöhnlich asymmetrisches Ausbeutungsverhältnis zwischen Konsumierenden und Produzierenden. Die Unzufriedenheit darüber ist schon in Interviews am Freitag zu spüren, nicht erst in der zweiten Hälfte des Wochenendes. Und sie hat zunächst einmal kein natürliches Ventil: Wie eine Besucherin in der Netflix-Doku richtig sagt, gäbe es heute einfach einen Shitstorm auf TikTok und Instagram.

Diese Unzufriedenheit trifft natürlich alle Menschen vor Ort (zumindest jene, die auf ihr Geld achten müssen und 4€ für eine kleine Flasche Wasser als Kostenfaktor betrachten). Sie spricht aber besonders die schon eingangs erwähnte Gruppe von Männern an, die in den historisch verhältnismäßig langweiligen 1990er Jahren erwachsen geworden sind, weder vom Kalten noch vom Krieg gegen den Terror geprägt wurden, deren Eltern zu jung für Vietnam und zu alt für den Golfkrieg waren, kurzum: Die wenig Problembewältigungsstrategien erlernen mussten. Es ist genau die Form von Maskulinität, die wenige Monate später den Film „Fight Club“ als Verehrung des von Brad Pitt gespielten Tyler Durden versteht und nicht als doppelbödige Faschismus-Dekonstruktion. 

Die Männer, die sich in den Fernsehbildern wie auch den ungesendeten Aufnahmen vor die Kameras drängen, sind nicht die typischen Festivalgänger der Jahrtausendwende, nicht die eher randständigen Anhänger von Subkulturen, sondern Teil der „Bro Culture“, die damals noch „Dude“ heißt: Man sieht sie oft ohne Zelt, nur mit einem Rucksack ankommen, sie sind für die Situation vollständig unvorbereitet. Aber ausgerüstet mit der unbändigen Gewissheit, dass Woodstock 99 für sie fantastisch wird und die Welt ihnen zu Füßen liegt.

Das führt zum nächsten Problem: Diese Männer sind es nicht gewohnt, nackte Frauen im Publikum zu sehen, was zumindest bis dahin eine recht alltägliche Erscheinung bei großen Festivals ist: Es ist warm, man imitiert Woodstock 69, es ist eine Demonstration von Freiheit in einem Land, in dem viele Bundesstaaten den Anblick von weiblichen Brüsten in der Öffentlichkeit bis heute kriminalisieren. Am Festivaldonnerstag, als ein nur kleines und musikversessenes Publikum kaum bekannten Bands zuhört, funktioniert das auch noch alles so. Am Freitag hingegen leitet Jamiroquai, erster Act auf der East Stage, das Publikum dazu an, „American breasts are the best breasts!“ zu rufen und später „Breasts! Breasts! Breasts!“ zu skandieren, weil einige Zuschauerinnen ohne Oberteil zu sehen sind. Keine zehn Minuten später zeigen die Fernsehbilder erstmals, dass anonyme Hände aus dem Publikum an die Brüste einer der auf den Schultern eines Mannes sitzenden Frau greifen. Ab diesem Moment wird es bei jedem Konzert diese Aufnahmen geben, auch bei Sheryl Crow, auch bei Alanis Morrissette, und während des Konzertes von The Offspring am selben Abend nimmt es so überhand, dass deren Sänger Dexter Holland es offen als Problem anspricht. Wer nicht glaubt, dass es so etwas wie „Rape Culture“ gibt, kann dem Prinzip im Mikrokosmos Woodstock auch heute noch auf YouTube in Echtzeit beim Entstehen zugucken. Und mit jedem dieser vielen sexuellen Übergriffe wird es für die Täter selbstverständlicher, dass das so schon in Ordnung ist.

Es ist diese Situation, in der offenbar wird, dass die Abwesenheit eines echten Sicherheits- oder Ordnungspersonals der schwerwiegendste Fehler der Organisator:innen war: Nicht, um polizeilich die Einhaltung von Gesetzen zu kontrollieren, sondern um ein sicheres und faires Erlebnis für alle zu gewährleisten, um sichtbar und dezentral als Anlaufstelle und offenes Auge das Festivalgelände zu prägen. All das geschah nicht, und das hauptsächlich, weil es zu teuer war: Große Teile des „Peace Patrol“ genannten Security-Teams waren unerfahrene junge Leute, die für wenig Lohn auf das Gelände gelockt wurden und dort ihr Dienst-T-Shirt gegen ein eigenes tauschten, quasi Fahnenflucht begangen.

Die Liste von Eskalationen könnte noch umfangreich weitergeführt werden, das Thema ist so groß, dass der empfehlenswerte „Podcast 99 (Öffnet in neuem Fenster)“ mittlerweile 59 Folgen von oft mehr als einer Stunde Länge hat. Spannend bleibt, wie die Nachbearbeitung des Wochenendes vollzogen wurde: Dass es ein Desaster war, ließ sich nicht mehr leugnen, nur wer verantwortlich war, musste noch ausgehandelt werden. Neben Limp Bizkit wurden (deutlich seltener) die Red Hot Chili Peppers genannt, die, während es im Hintergrund des Sonntagabends an vielen Stellen auf dem Gelände brannte, nicht zur Ruhe aufriefen, sondern mit der hörbaren Ansage „You wanna do it? Fuck you!“ das Lied „Fire“ von Jimi Hendrix anstimmten. Es wurden Korn genannt, die die undankbare Aufgabe hatten, als erster Headliner des Festivals vor einer Viertelmillion Menschen zu spielen, die durch keinen einzigen Wellenbrecher, keine Zwischenabsperrung voneinander getrennt waren (dass dabei niemand gestorben ist, grenzt an ein Wunder). Drogendealer wurden genannt, die angeblich große Teile der unerfahrenen Zuschauer:innen mit Stoff versorgt hätten, natürlich auch die Personen an der organisatorischen Spitze für die offensichtlichen Versäumnisse.

Aber das Gesamtsystem des Festivals, das Kartell aus Veranstalter, Handel, Verpflegung und Verkehr kam nie in den Fokus. Es anzugreifen hätte bedeutet, den gesamten musikalisch-industriellen Komplex anzugreifen, eine Maschine aus Medien, Veranstaltern und Plattenfirmen, der es damals noch ziemlich gut ging: Napster und damit Filesharing und das Ende von Plattenverkäufen als Haupteinnahmequelle war erst sieben Wochen vor Woodstock 99 online gegangen. Das Festival hätte das letzte Hurra einer bald abstürzenden Branche werden können, scheiterte aber an der Hybris und letztlich Gier derer, die es zu verantworten hatten. 

Das hatte enorme Auswirkungen: Rockmusik vermännlichte danach auf Jahre und beginnt erst langsam, auch auf den Headlinerpositionen alle Geschlechter zu repräsentieren. Große Festivals gibt es in den USA immer noch, auch mehrtägig, ihnen ist aber die Erfahrung von Woodstock anzumerken: Selbst bei hochpreisigen Events wie Coachella gibt es ausreichend sauberes Trinkwasser. Aber die mangelnde Gesamtaufarbeitung führte auch zu einer Konsequenzlosigkeit für die vielen Täter sexualisierter Übergriffe: Dude Culture kam, bis auf ein paar böse Worte, ungeschoren davon. Diejenigen, die damals ungestraft nach fremden Brüsten greifen konnten, vermutlich auch viele, die im Publikum oder auf Campingplätzen Frauen vergewaltigten, leben bis heute unbehelligt. Man muss gar keine große argumentative Brücke bauen, um von dieser Erfahrung zum Trumpismus zu kommen und von damals 20-jährigen Zuschauerinnen zu #metoo. Natürlich hat Woodstock weder Trump ermöglicht noch all die anderen reaktionären Bewegungen von Incels bis Proud Boys, aber als einschneidendes massenmediales Erlebnis in einer massenmedialisierten Welt gehört es zur kollektiven Erfahrung eines Teils der amerikanischen Bevölkerung, der weiß und heute Anfang bis Mitte 40 ist. In der Rückschau wird es natürlich vom 11. September und vom Irakkrieg überdeckt, aber den kulturellen Impact aufzuarbeiten, darauf hat sich immer noch niemand vollständig eingelassen - nicht einmal Netflix. 

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