Aufrüstung und Verzweiflung
Ganz am Anfang dieses Newsletters, den viele der Mitlesenden unerschütterlich „Blog“ nennen, ging es um die „erste Woche Krieg“, von dem niemand wirklich gedacht hätte, dass er deutlich länger als diese sieben Tage dauert. Auch wenn mir die Zeit seitdem mit Inflation, Energiekosten und der Implosion einer linken Partei deutlich länger vorkommt, erinnere ich mich noch allzu gut an die Hilflosigkeit, mit der ich die Eskalation der Weltlage beobachtete und überlegte: Wie rede ich darüber mit meinen Kindern, die in Moskau wie Kyiv geborene Schulkamerad:innen haben? Eine echte Antwort habe ich bis heute nicht, aber meine Kinder haben jetzt eine Vorstellung davon, was Krieg ist.
Und während dieser Krieg völlig unvermindert weitergeht, beginnt der nächste, nur viel asymmetrischere, im Nahen Osten, und noch mehr stehe ich vor der Frage, wie man sowas vor sich selbst, vor Kindern, vor der Welt erklären soll. Es ist ja angesichts der ständigen Präsenz von globalen Nachrichten darüber, was Menschen zu tun im Stande sind, fast überraschend, dass uns diese Gewalteskalation noch sprachlos machen kann – aber irgendwie ja auch wieder nicht: beim Supernova Sukkot Festival starben 260 meist junge Menschen in ihrer Freizeit, das ist die dreieinhalbfache Opferzahl des Massakers von Utøya 2011, aber das war uns viel näher als Israel, und aus Norwegen sind wir eben keine Massenmorde gewohnt. Die Logik der Aufmerksamkeit ist so unheimlich zynisch, weil sie schonungslos ehrlich ist: Geht es um Israel und Palästina, gehen wir schnell zur Tagesordnung des Ausnahmezustands über.
Die Tagesordnung bedeutet dabei, gerade in Deutschland, Handlungsempfehlungen auszusprechen oder große regionale Expertise hervorzustellen. Per Leo hat einen langen, langen Text bei Facebook (Öffnet in neuem Fenster) geschrieben, der wie eigentlich immer bei Per Leo ein hartes Lektorat bräuchte, weil er aus einer Menge unsortierter, wenig strukturierter aber kluger Gedanken besteht. Andere gehen kürzer und schlimmer vor: Der sonst geschätzte Nils Minkmar begibt sich in ungeahnte Niveautiefen, wenn er die Todesfuge auf die Hamas umdichtet (Öffnet in neuem Fenster) und damit genau das tut, was sonst zu oft zum Vorwurf gemacht wird: Er banalisiert den Holocaust. Und das, nachdem am Samstag mehr jüdische Menschen ermordet wurden als jemals nach Ende der Shoah an einem Tag.
So werden neue Risse offenbar, von denen man lange ahnte, dass es sie gibt, die man aber lieber nicht für so tief halten wollte (und mit man meine ich: ich). Der passionierte Konzertfilmer Sunny Singh, der unter dem Namen „hate5six“ ein gigantisches Archiv von Liveaufnahmen amerikanischer Punk- und Hardcorebands aufgebaut hat, äußerte sich am Wochenende nicht zu getöteten israelischen Familien, sondern streamte lieber eine Free-Palestine-Demonstration, auf der ein afroamerikanischer Redner mehrfach unter lautem Applaus der Umstehenden rief: „I salute Hamas to a job well done!“. Im NDR (Öffnet in neuem Fenster) zieht sich eine Frau mit Kopftuch in einer Hamburger Fußgängerzone den Mundschutz runter und antwortet auf die Frage nach den Massakern mit „Ja ich freue mich, sehr gut! Wir haben auch gefeiert zuhause.“ Und die Berliner Club-Szene, die sich sonst überaus politisch gibt, findet keine Worte dazu (Öffnet in neuem Fenster), dass 260 aus ihrer so globalen wie grenzenlosen Subkultur abgeschlachtet wurden.
Dabei könnte ja alles noch schlimmer sein: Die Solidarität (auch wenn sie manchmal unbeholfen oder gar kontraproduktiv ist), die Israel gerade in dieser Situation auch erfährt, wäre vor zwei Jahrzehnten sicher noch nicht so eindeutig gewesen: Was wir an beschämenden Reaktionen vor allem aus der englischsprachigen Linken sehen, war auch in Deutschland vor nicht allzu langer Zeit der Standard, der erst durch den Diskurs der sogenannten „Antideutschen Linken“ (das mit dem Linken hat sich dort zuletzt weitgehend erledigt) in den späten 90ern nachhaltig aufgebrochen wurde. Der zu kurz gedachte Antiimperalismus, der politische Realitäten nur danach aufteilte, wer die vermeintlich „Kleinen“ und „Großen“ sind, stößt nämlich gerade im Nahen Osten an seine Grenzen – genau wie der postkoloniale und intersektionale Diskurs, der bei allen Verdiensten schon an der Frage scheitert, ob Juden nun zu den „Weißen“ gehören oder nicht, oder ob es von der Situation abhängt.
Diese Solidarität mit Israel bedeutete natürlich nicht, dass man nicht auch Empathie mit dem Schicksal der Palästinenser_innen haben könnte, ja müsste: Auch dort sterben Zivilist_innen, über die Jahrzehnte deutlich mehr als in Israel, und es bedarf keiner besonderen Begabung um vorherzusehen, dass die Situation in Gaza bald unerträglicher wird, als sie ohnehin schon ist. Die bittere Logik der internationalen Beziehungen und der Sicherheitspolitik bietet nur schlicht keine Patentlösung an, die hier anzuwenden wäre. Insofern hüte ich mich, ich hoffe man merkt es mir an, tunlichst davor, irgendwelche klugen Ratschläge geben zu wollen.
Wir befinden uns in einer historischen Umbruchphase, innen- wie außenpolitisch. Gerade deshalb gilt es, Konstanten zu wahren. In diesem Jahrhundert haben deutsche Volksvertreter:innen immer wieder davon gesprochen, dass die Sicherheit Israels Teil der deutschen Staatsräson sei – die Losung „Gegen jeden Antisemitismus“ gehört ebenso wie „Nie wieder“ zu den zentralen Identitätselementen der Berliner Republik. Die nächsten Tage, Wochen und Monate werden zeigen, wie ernst es uns damit ist: Wenn tausend Juden als Juden ermordet werden, dann ist „Nie wieder“ ganz konkret heute und nicht irgendwann und auch nicht in Sonntagsreden.