Tor und Torheit
Dafür, dass wir Historiker:innen wohl die Angehörigen der Geisteswissenschaften mit dem größten Sendungsbewusstsein (und der größten Aufmerksamkeit) sind, gibt es doch ganz schön viele Fehlannahmen über uns. Dass unser Studium daraus bestünde, möglichst viele Ereignisse auswendig zu lernen zum Beispiel, oder dass wir alle alles über das mittelalterliche Florenz und das postsowjetische Kirgisistan wissen würden. Eine weitere dieser Fehlannahmen ist, dass wir eine überdurchschnittliche, besondere Begeisterung für die Konservierung von allem Vergangenen haben. Vielleicht ist Indiana Jones, „It belongs in a museum“ und so, daran schuld, vielleicht auch die Tatsache, dass öffentlichkeitswirksame Historiker gerade in Deutschland über viele Jahrzehnte überaus konservativ waren.
Eigentlich ist es, insbesondere für uns Zeithistoriker:innen (also die mit den mitlebenden Zeitzeugen) eher so, dass zu unserer Kernkompetenz nicht das Bewahren, sondern das Aussortieren gehört: Wir haben oft eine sehr große Zahl an in Frage kommenden Quellen und müssen entscheiden, was vertretbar zu bearbeiten ist. Und selbst das ist oft eine Auswahl, öffentliche Archive behalten oft nur acht bis zehn Prozent der in einem gegebenen Jahr produzierten Schriftgüter. Verwaltung, aber auch wir selbst, produzieren einfach zu viel Content, um das alles aufzubewahren. Digitalisierung vorbehalten.
Das Thema fiel mir auf, als ich sah, was ein kleiner Tweet von Hedwig Richter am Sonntag angerichtet hatte:
Lassen wir die Kernaussage und die ganzen Widerwärtigkeiten unter den bisher 2.100 (!) Antworten kurz beiseite: Nicht selten war Erstaunen darüber zu lesen, dass „gerade Sie als Historikerin“ hier für die Beschädigung, Bemalung, Dekoration, Zerstörung (sucht euch aus, welche Umschreibung ihr bevorzugt) eines historischen Bauwerks plädieren würde. Der laut Eigenbeschreibung „Freigeist und Finanzexperte“ und auch ansonsten sehr typische Twitter-Blue-Abonnent Marc Friedrich setzte das „Historikerin“ gar in Anführungszeichen (Öffnet in neuem Fenster), um es in Frage zu stellen.
Dem zugrunde liegt eben die falsche Einschätzung, dass wir als Historiker:innen die Vergangenheit erstens als einförmigen Block und zweitens als unbedingt bewahrenswert ansehen würden. Zumindest für mich kann ich sagen: Das Gegenteil ist der Fall. Wer nur einen groben Überblick über ein, zwei Jahrhunderte im Kopf hat, blickt mit großer Gelassenheit auf die Umformungen, die unsere Mitlebenden an historischer Substanz vornehmen, weil sie eine der Konstanten der Geschichte ist. Schaut man sich etwa Zeichnungen und Fotografien aus der langen Geschichte des Brandenburger Tors an, ändert sich dort jedes Mal etwas: Mal wird der Vorplatz ausgebaut (Öffnet in neuem Fenster), dann fehlt (Öffnet in neuem Fenster) die Quadriga (von Napoleon geklaut und per Schiff nach Paris gebracht), dann ist sie wieder da (Öffnet in neuem Fenster) (von Blücher wiedergefunden und per Kutsche nach Berlin transportiert). Im Zweiten Weltkrieg wurde das Tor stärker beschädigt (Öffnet in neuem Fenster) als das Klebstoff und Farbe jemals schaffen könnten, danach war es lange überhaupt nicht direkt erfahrbar (Öffnet in neuem Fenster) und wurde gar zum Symbol der Verklärung der Mauer (Öffnet in neuem Fenster) gemacht. Und als das Tor wieder auf war, plädierten insbesondere die Konservativen in Berlin massiv dafür, das Tor durch die Öffnung für Kraftfahrzeuge langfristig zu beschädigen (Öffnet in neuem Fenster), mussten sich aber letztlich dem Mehrheitswillen der Bevölkerung beugen. Sogar die zweitjüngste Beschädigung hat das Tor weitgehend überstanden, als im Januar dieses Jahres ein Autofahrer mit seinem Gefährt eine der Säulen rammte, das daraufhin in Flammen aufging (Öffnet in neuem Fenster).
Das Tor ist also ständig Einflüssen seiner jeweiligen Gegenwart unterworfen, und da haben wir noch gar nicht über die ständigen Änderungen am Gebäude-Ensemble drumherum geredet. Ein Tor das es überlebt hat, dass seine Quadriga in der Küche des Grunewalder Jagdschlosses saniert wurde, wird auch einen Farbanschlag überleben. Ja, auch bei porösem Material. Das Tor wird sogar stehenbleiben, wenn die Farbe nie weder weggehen sollte.
Aber über diese Gelassenheit hinaus könnten wir ja die Frage stellen, warum ein solches Nationalsymbol, und das ist das Tor nun einmal, nicht genau dazu da sein sollte: Aufsehenerregende Veränderungen vorzunehmen, die auf die Gefahren unserer Gegenwart hinweisen. Richter selbst hat das auf Nachfrage so erklärt:
„Es ist gut, dass das Nationaldenkmal an die Zerstörungen erinnert, die wir aktuell anrichten, die vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig benannt wurden und gegen die wir viel zu wenig unternehmen.“
Das kann man inhaltlich kritisieren und diskutieren (vielleicht muss man das auch), aber es ist natürlich keine verfassungsfeindliche Bestrebung, die eine Entfernung aus dem Beamtenverhältnis bei der Bundeswehruniversität München rechtfertigen würde – genau das wird aber nun massiv gefordert, wiederum belegend, dass Cancel Culture eine genuin politisch rechte Angelegenheit ist. Das mit der Gelassenheit stünde uns nämlich bei solch banalen Vorkommnissen allen gut zu Gesicht.