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Kürzlich suchte die Polizei hier in der Kleinstadt nach einem Mann zwischen 20 und 30, der versucht haben soll, einem Kind auf dem Schulweg den Rucksack zu entreißen. Das Kind hatte den Ranzen festgehalten, der Schuft war geflohen, so bedauerlich wie alltäglich. In der Tatverlaufs- und Täterbeschreibung waren sich beide Kinder die gemeinsam gelaufen waren einig. Es gibt keinen Grund an der Aussage zu zweifeln, aber einen kurzen Plausibilitäts-Check macht der Historiker im Kopf eben doch immer: wie wahrscheinlich ist es, dass sich Kinder so etwas, aus welchen Gründen auch immer, ausdenken?

Das Thema treibt mich immer wieder um: wie erkennt man Unwahrheiten? Es gibt da unterschiedlichste Techniken, die sich zwischen Rechtswissenschaften und Geschichte kaum unterscheiden, es geht um Plausibilität des Geschilderten, darum ob es mit gesicherten Fakten in Einklang zu bringen ist, ob es ein Motiv dafür gäbe zu lügen und so weiter. Und ganz am Anfang steht immer die Frage: hat das einer berichtet oder mehrere Leute? Es ist unheimlich schwierig, als Menschengruppe koordiniert und übereinstimmend zu lügen, aus zwei Gründen: einmal ist es kompliziert, eine so detailgetreue Schilderung zu erfinden, dass sich die Lügner:innen auch bei Einzelbefragungen nicht gegenseitig widersprechen, zudem ist es schon mit enormen sozialen Hürden verbunden, sich anfangs zur Lüge zu verabreden – irgendjemand muss einmal vorschlagen, dass man gemeinsam lügen könnte. Wenn es dabei um Vertuschungen geht, ist das einfacher, wenn es „nur“ um das Erringen von Aufmerksamkeit geht, riskiert man erheblich mehr soziales Kapital, wenn man den Vorschlag macht.

Als ich so darüber nachdachte fiel mir das Dörfchen Marpingen wieder ein, das ein vorzügliches Beispiel dafür ist, wie eine kleine verabredete Lüge eskalieren kann. Marpingen ist ein kleines Dorf, 20 Kilometer nördlich von Saarbrücken, heute ein typischer Speckgürtelort mit vielen Einfamilienhäusern. In den 1870er Jahren war es ein ärmlicher Ort, 1.600 Einwohner, fast nur Katholiken. Sie lebten zum größten Teil von Landwirtschaft und davon, dass viele Männer unter der Woche in den einige Kilometer entfernten Bergwerken arbeiteten, ohne dabei genug zu verdienen um die Familie zu ernähren: Marpingen war in der Krise. In genau dieser Krise verabredeten sich am 3. Juli 1876 die drei achtjährigen Freundinnen Margaretha, Katharina und Susanna zu einer Lüge: Sie behaupteten, im Wald beim Heidelbeerpflücken die Mutter Gottes gesehen zu haben. Ins Dorf zurückgekehrt, blieben ihre Familien zunächst skeptisch, aber aufgeschlossen; wohl unterbewusst gaben sie durch Rückfragen über das genaue Aussehen der Maria und die von ihr gesprochenen Worte Vorgaben an die Kinder, die deren folgende Schilderungen plausibler und ans katholische Marienverständnis andockbarer machten: wer fragt, ob Maria von der unbefleckten Empfängnis gesprochen hat, wird natürlich dafür sorgen, dass das in der nächsten Zeit in der Schilderung der Kinder vorkommt.

Die Geschichte hätte hier trotzdem vorbei sein können, wenn einfach niemand den drei Mädchen geglaubt hätte. Es gibt aber bei Lügen Faktoren, die sie größer werden lassen: Wenn sie Bedürfnisse derer befriedigen können, die sie hören. In diesem Fall traf eine kleine Kinderschwindelei auf perfekte Rahmenbedingungen: ein zutiefst katholisches Dorf in einem konstanten Krisenzustand, mitten im Kulturkampf und ohne Aussicht auf eine Besserung der eigenen Lebenssituation.

Und so kam es schon am 5. Juli zur angeblichen ersten Wunderheilung, nachdem ein rheumakranker Ex-Bergarbeiter einen „Kraftstrom“ gespürt haben wollte, eine erwachsene Frau fiel vor Ort in Ohnmacht und mehrere erwachsene Männer bezeugten, die Mutter Gottes selbst im Wald gesehen zu haben. Solche Marienerscheinungen waren im 19. Jahrhundert aufsehenerregend, aber gar nicht so selten, die bekannteste war im französischen Lourdes berichtet worden. Auch dort war das Mädchen, dem sich angeblich die Mutter Gottes gezeigt hatte, aus ärmsten Verhältnissen in einer armen Region gekommen.

Eine Woche nach der ersten angeblichen Marienerscheinung kamen schon zwanzigtausend Menschen an einem Tag nach Marpingen, es wurden stetig mehr. Dem Staat, der gerade in recht offenem Konflikt mit der katholischen Kirche stand, konnte ein solches massenhaftes Auftreten gläubiger Katholiken kaum recht sein, so dass erst die Polizei versuchte, die Ansammlung aufzulösen und als sich niemand an deren Anordnungen hielt die Armee gerufen wurde. Bei der anschließenden Räumung des Geländes am Wald wurden über 60 Pilger:innen durch Gewehrkolbenschläge und einige Bajonettstiche verletzt. Die Armee blieb zweieinhalb Wochen, danach wurde weitere Polizei stationiert.

Gleichzeitig wurden die Kinder, ihre Eltern und sämtliche Zeugen der angeblichen Marienerscheinung strengen polizeilichen Verhören unterworfen, um den Ausgangsverdacht des Betrugs zu bestätigen. Ein Berliner Kriminalbeamter wurde zudem als verdeckter Ermittler eingesetzt der, um das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen, so laut über die preußische Polizei schimpfte, dass er von seinen unwissenden Kollegen vorübergehend festgenommen wurde. In der Folge wurden die drei Mädchen in eine evangelische Besserungsanstalt nach Saarbrücken gebracht, weitere Zeug:innen angeklagt und bekanntgegeben, dass die Kosten der Militärunterbringung vom Dorf durch eine Sondersteuer zu bezahlen seien. Zahlreiche weitere kleine und große Eskalationsschritte und Provokationen folgten, die erst nachließen, als immer mehr Gerichtsprozesse mit für die Obrigkeit peinlichen Freisprüchen endeten.

Die vom britischen Historiker David Blackbourn glänzend ausgeforschte und erzählte Geschichte der Marpinger Marienerscheinung (Öffnet in neuem Fenster) ist eine Geschichte davon, wie eine eigentlich harmlose Lüge auf fruchtbaren Boden trifft und von dort ein Eigenleben entwickelt, das größer ist als alle direkt Beteiligten und geradezu internationale Wucht entfaltet. Sie brachte den Mädchen kein Glück: eine starb bereits mit 14, die anderen beiden, die später die Lüge gestanden, mit jeweils Mitte 30.

Wer nun allerdings glaubt, dass solche Geschichten in unserer aufgeklärt-durchtechnisierten Moderne nicht mehr vorkommen können, täuscht: Nach Lourdes, wo die katholische Kirche die Marienerscheinung tatsächlich anerkannt hat, kommen jedes Jahr Millionen Pilger:innen. In Marpingen ließ der Marienkult, der in verschiedenen Wellen verlief, in den 1940er Jahren nach. Als 1999 aber drei Frauen aus der Gegend behaupteten, wieder in Kontakt mit der Mutter Gottes zu stehen, ging das Spiel von vorne los: mehr als 60.000 Menschen (Öffnet in neuem Fenster) reisten an und beobachteten die Frauen bei ihrem „Gespräch“ mit Maria.

Was dieses Beispiel meiner Meinung nach anschaulich zeigt ist, was wirklich interessant ist an der Lüge: Nicht so sehr der Lügner oder die Lügnerin, sondern die Welt ihrer Gegenwart, die Kultur oder soziale Sphäre, in der die Lüge gedeihen kann, vielleicht sogar muss: normale Kinderlügen halten, wenn es hochkommt, maximal zwei bis drei Tage. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Marpingen aber schon wundergeheilte Männer, ihn Ohnmacht gefallene Frauen und ein armes Dorf, in das Pilgernde kamen und für Übernachtungen zahlten. Die armen Lügnerinnen hatten, beim besten Willen, überhaupt keine Möglichkeit mehr, zur Wahrheit zurückzukehren.

Was sonst noch war:

Die Rhein-Neckar-Zeitung hat über die Plagiatsvorwürfe gegen den Heidelberger Zeithistoriker (und meinen ehemaligen Chef) Edgar Wolfrum berichtet und dabei bemerkenswerte nachträgliche Änderungen am Text vorgenommen: Anfangs war noch die Rede vom Anschwärzen durch eine „rachsüchtige“, später eine „enttäuschte“ Hilfskraft, mittlerweile ist der Satz zu dieser Person vollständig verschwunden, auch der Tweet mit der entsprechenden Überschrift wurde gelöscht: https://www.rnz.de/nachrichten/heidelberg_artikel,-rachsuechtige-hilfskraft-heidelberger-historiker-edgar-wolfrum-unter-plagiatsverdacht-_arid,858181.html (Öffnet in neuem Fenster)

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