Der Flughafen als Spiegelbild des 20. Jahrhunderts
Eine philosophische Bilder-Collage, um aus dem Trübsinn zu erwachen.
von Alex Niehoff-Toral
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(Fußnoten sind gelb markiert und befinden sich am Ende des Textes.)
Das 20. Jahrhundert, das wir gedanklich immer noch bewohnen, hinterlässt uns einen Trümmerhaufen – eine unübersichtliche Wüste aus Schutt, Abfall, Maschinenteilen und Schadstoffen, die sich in die Höhe türmt und tief in die Erde hineinfrisst. Diese Plage steht aber nicht still oder liegt tot vor uns, sodass wir in ihren Ruinen spielen können, nein diese stampfende Maschine gräbt sich unerbittlich weiter in die Erde und schraubt sich zugleich weiter in die Lüfte, von einem dämonischen Willen besessen, nicht aus der Welt zu scheiden und sich stattdessen selbst zu vergotten. Buchstäblich, insofern die Fabriken, Kraftwerke, Gruben, Autobahnnetze, Hafenanlagen und sonstige Ungetüme die wunde Oberfläche unserer gemeinsamen Welt versiegeln und immer mehr überdecken, sinnbildlich, weil die Ideen dieser traumatischen Ära, ihre geplatzten Träume und Visionen keinen Raum für Neue hinterlassen haben, und so als zurückgebliebene, furchteinflößende Gespenster den Blick vor uns selbst und in die Zukunft versperren.
Die von jeglicher Bedeutung entleerte Aneinanderreihung von mehr und mehr Maschinen zur Zeugung von Profit, die von damals bis nach heute ragt und alles in den Abgrund reißt, verweist auf eben dieses politische Scheitern des 20. Jahrhunderts zurück. So kühn, terroristisch und grausam wie es war, scheint im heutigen Trübsinn als dessen letzte Konsequenz die niederschmetternde Einsicht geblieben, dass dem neoliberalen und globalisierten Streben nach Profit keine vernünftige Alternative entgegenzustellen ist; denn auf beiden Seiten dieses Weges des Höher-schneller-weiter-mehr der Modernisierung lauern als Abgrund böser Erfahrungen der autoritären Antimoderne und der Staatssozialismen, die Lager und Gefängnisse der Totalitären. Nun, wo sich dieses „unideologische“, zombiehafte Ungetüm eines stahlbetonierten petro-maskulinen Techno-Kapitalismus mit seinem Glaube an ewiges Wachstum und den reinen Egoismus sein eigenes Grab schaufelt, aber Erde, Tiere, Pflanzen und Menschen mit in die Grube der ökologischen Auslöschung reißt, scheint es für uns Heutige angebracht, diese verschiedenen verlebendigten Trümmer philosophisch zu lesen und aufzumerken, ob sich nicht doch diesen paradoxerweise rostenden wie fortlebenden Wracks ein neuer, sogar aktueller Sinn oder Unsinn entlockt werden kann. Was haben diese Früheren verpasst, missverstanden, vergessen, das sie in diese Verstrickung und Enge getrieben hat, an deren ernüchternden Ergebnis wir jetzt stehen? Was gab es damals, bei den früheren Anfängen dieser Ära, was uns heute fehlt? Welche Träume und Wünsche trieben diese in solche monumentale Dimensionen, die dermaßen viel Opfer und Schaden ignorieren, herausrechnen, abzutun oder gar auf dem Weg in die bessere Zukunft zu rechtfertigen schienen? Lässt sich dem plumpen Überlegenheits- und Unterlegenheitsgefühl gegen diese fortdauernde Zeit eine tiefere Schicht entlocken? Das Unterfangen, da tiefer zu blicken, könnte allein schon deswegen scheitern, weil wir Heutigen selbst noch mittendrin stecken, in diesem Ungetüm mit samt seiner Weise zu fühlen, zu leiden und zu sehnen. Wir können keine Distanz dazu aufbauen, wir stehen im 20. Jahrhundert mit dem Rücken zur Wand, mitten im ökozialen Ausnahmezustand. Das Ungetüm tot zu nennen, einen fauligen Trümmerhaufen, ist zum einen eine Lüge - und doch zugleich eine Vorwegnahme davon, auf was es blind und besinnungslos in der Klimakatastrophe unerbittlich zusteuert. Und wie sich zeigen wird, bildet sogar dieses Richten über das Jahrhundert als eines Haufens Schrott ein Verfangensein in seinen eigenen Begriffen. Sogar die Gegenwehr scheint nur in seiner Sprache möglich, sie kommt hier zu Wort.
Wie kommt dies aber zustande? Menschen leben nicht nur in den Habseligkeiten, Behausungen und Beziehungen, mit denen sie tagtäglich umgehen, sondern immer einen Schuss über diese Gewöhnlichkeit hinaus. Selbst in der biedersten und ärmlichsten Alltagswelt steckt ein Stück Illusion, Genuss, Romanhaftigkeit, Fiktion und phantasiertes Gelungensein, die es alles erst erträglich macht. Vor der Moderne war dies vor allem in den Ritualen, dem Verhältnis zu den Verstorbenen und der Religion zu finden, überall da, wo Dinge ihre Zauberhaftigkeit und Aura hatten, dann später stärker in der Metaphysik und Kunst. Was aber die Herzen des 20. Jahrhunderts höher schlagen lässt, ist eine kürzer werdende Spannung von eben jener schnöden Wirklichkeit und als unerfüllbar geltenden Träumen, also die Verwirklichung von Sehnsüchten, an die man kaum zu hoffen gewagt hatte, ein Näherrücken der Zukunftsvision an die Gegenwart. Dieses moderne Leben hat das Immer-Mehr, die unendliche Steigerung oder das Anhaltend-Neue dauerhaft als Inhalt und Lebenssinn, und zwar aus der faktischen Erfahrung heraus, dass sich diese Spannung gerade schrittweise in der Geschichte aufheben konnte. Am Ende des 19. Jahrhunderts, meinten die Modernisierer die letzten traditionellen Elemente der europäischen Gesellschaften besiegt zu haben und ein wissenschaftsgestütztes industrialisiertes und aggressives Ausgreifen auf die Länder, Rohstoffe, Märkte weltweit ließ ebenjenes Europa zur unangefochtenen imperialen Weltmacht aufsteigen, dann gab es nur noch diese sich empor schraubende Unendlichkeit der Moderne, das Unendliche, das Immer wieder Neue wurde Gewohnheit und dann auch eingefordertes Recht. Über die Generationen hinweg wurden die kaum überwindlich wirkenden Grenzen von Gestern nur zum Anlass eines schnöden Alltags von morgen; so versteht sich das moderne Lebensgefühl als ein gemächliches Zerfließen der Schranke von Realität und Utopie, Wirklichkeit und Phantasie, mal zu langsam, mal zu schnell, aber stetig vorangehend. Die Stile der abstrakten avantgardistischen Kunst, die Träume der Politik, vor allem aber die Macht der industriellen Technik, dann zuletzt das Projekt eines neuen Menschen in verschiedenen Varianten sind alles Punkte auf dieser Überholspur, bei der niemand zurückbleiben will. Auch die Völker außerhalb Europas sahen sich alsbald bestrebt, in diesem Rennen aufzuholen.
Damals war das neu, was heute alltäglich und unhinterfragt ist. Auch in den zombiehaften, fortlebenden Trümmern des 20. Jahrhunderts, die wir nun bewohnen, berühren sich an jedem Stück immer maschineller Wunsch und maschinelle Wirklichkeit, sie sind bloß Haltepunkte eines ehrgeizigen Strudels von Gestern nach Morgen. Das Auto ist nie einfach nur das, was es ist, sondern immer auch der erfüllte, kaum geglaubte Wunsch und Nachfolger eines früheren, schlechteren Fahrzeugs und seines Halters, sei dies ein älteres Modell oder eine Pferdekutsche oder gar ein Fahrrad, und es ist der noch unvollkommene, schnöde, gewöhnliche Vorgänger von etwas Späterem, das vielleicht die Allerreichsten und Kundigsten schon besitzen. Smartphones und PCs sind auch immer in dieser Ungeduld gefangen, in dieser Polarisierung von einem schlechteren Früher und einem besseren Später, in einer ständigen Hetze nach weiterer Verbesserung und neueren Modellen.
Diese geschraubte Zeitlichkeit geht mit einem spezifischen Ausblenden einher. Gerade auch beim alltäglichen Benutzen ist man immer schon in dieser halb greifbaren, fetischisierten Zukunft, und will die irdische, schmutzige Gegenwart und noch mehr die Vergangenheit vergessen; eine Zukunft, die sich mit dem Verstreichen der historischen Zeit mitwandelt, wie sich das überschlagende Veralten der Science Fiction das Jahrhundert über zeigt. Aber auch die historischen Romane, Filme, Stücke und Museumsausstellungen veralten in ihrem Stil mit, auch insofern als dass sich die unschädlich machende Erinnerung an das Früher dem Zeitverlauf anschließt und nur das eigene Überlegenheitsgefühl beflügelt. Schneller, Größer, Genauer, Gewaltiger, Leichter und Ungebundener, auf der Müllhalde der modernen Welt gibt es in jedem rostenden Fundstück eine Unruhe und Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Verhältnissen, eines gespreizten Verhältnisses zur Zeit, eine allgegenwärtige Relativität, dass das ja nun nur vorläufig, auch noch nicht das Wahre gewesen ist. Alles ist immer schon Abfall, eine veraltetes Stück Schrott, das giftig in das Flussbett sinkt, bevor es überhaupt erst entstanden ist. Jede neue Idee wartet ungeduldig darauf, materielle Wirklichkeit zu werden und dann Anlass für noch größeres und noch genaueres zu werden, eine noch größere Unzahl an Waren, Dienstleistungen und versprochenen höheren Lebensqualitäten. Alles ist auf Kredit da, ein Ständiges Noch-Nicht und Nicht-Mehr.
Aber dieser Traum ist für uns heutige geplatzt, die am Ende des Jahrhunderts stehen. Dieses Nicht mehr so wie früher und noch nicht so wie morgen, dieses ungeduldige Verweisen im lebendigen Unendlichen ist für uns heutige und Enttäuschte nur als der menschliche, täuschende Kehrwert der stumpfsinnigen, immergleichen Aneinanderreihung von Profit zu entlarven. Doch lässt diese nahbare Seite, wie diese Maschinen Teil eines Alltags und eines alltäglichen Träumens waren, zu, sie teilweise als etwas mehr zu entschlüsseln. Der Nihilismus, der sich selbst vergottenden kapitalistischen Maschine, die alles Irdische, Natürliche und Vergangene hinter sich lassen will und in das ungeheuer Riesenhafte wächst, zur totalen Technik, ist aber nur das erste, was für die Resignierten daraus zu lesen ist. Wir sind heute alle zuerst resigniert, in einer dunklen Höhle, die im kapitalistischen Ökozid nur bittere Wahrheit und Verzweiflung bereithält, aber das ist nicht unbedingt alles.
So findet sich zunächst ein weiteres Detail. So ähnlich wie die Dinge Kraft der modernen Ungeduld durch die Zeit verweisen, so verstricken und verschachteln sie sich auch immer dichter ineinander, sodass keine Region der Erde, kein Hausrat und keine Gebäudeanlage für sich allein steht. Zwischen ihnen sind Pfade und Verkupplungen, sie hängen als größere Gebilde enger zusammen als gedacht, die sich ins Ungefähre erstrecken, von den Zentren bis an den Stadtrand, dann die Dörfer, Zufahrtstraßen und verweisten Einöden, wo die Bergwerke, Felder und Müllhalden sind. Sie bilden so Umgebungen, dann Szenarien und Panoramen, die sich durch Funktionalität, Abhängigkeit und Produktion verknüpfen von Anfang bis Ende aller Liefer- und Produktionsketten. Auch ist keine von diesen Anlagen wirklich da, wo sie ist, auf regionale Bedarfe und Bedürfnisse vor Ort bezogen, sondern immer im Verhältnis zu einem Außen und einem Anderswo, wo es schön, prächtig und gelungen ist oder sein sollte. Die Aufmerksamkeit der Anlagenbetreibenden und ihrer Kundschaft anderswo ist von der hässlichen Seite der Arbeit, des Elends, der stampfenden Maschinen und der schmutzigen Produktion der für sie Ausgebeuteten Natur und Menschen vor Ort abgewandt. Greift man sich ein Stück heraus, schaut man es aufrichtig an, so liegt darin das ganze Übrige eingeschlossen, sowohl in Gestalt seines sinnstiftenden Traumgehalts wie auch der Mühsal und Materialien, aus dem es besteht. Der schöne Schein, das ist der Anteil für die Erholung und Freizeit, die kostbare Freiheit, die sich die Menschen das Jahrhundert über immer mehr leisten und erstreiken konnten, die Seite des Schaufensters, der Werbung, der Stich etwas zu grelle Farbe, den es immer in den Illustrierten, der Werbung und auf den Postkarten gibt.
Die hässliche Wahrheit, das ist das Elend, die Ausbeutung, das Blut, das für die Diamanten fließen musste, die Abfallgruben, die radioaktiv verseuchten Atolle. Um diese hässliche Wahrheit zu ertragen, braucht es die Vorderseite, umso mehr Entbehrung, umso grellere und kitschigere Farben hat man zum Vergessen nötig. Da wo es mit jedem Tag mehr neue Varianten gibt, strapaziert zu werden, das Immer wieder neue – die immer wieder neue Arbeit und Mühsahl, psychische und physische Krankheit durch den Arbeitsdruck ist. Die Vorderseite ist also für die Rückseite da, um sie zu ertragen, so spricht sich die Wahrheit des Materialismus aus, durch welchen die so Unterdrückten zu Wort kommen und gerade gegen ihr Vergessen kämpfen. Diese zweite Seite der Spannung der Dinge bestätigt das verbitterte Vorurteil, das schon ihre zeitliche Ungeduld nahelegte, dass ihnen die unendliche Wertverwertung, das einfallslose Geld=Mehr Geld, bis wir alle in den Ökozid rauschen, wieder einzig und allein inne liegt noch umso deutlicher. Vor der politischen Verbitterung die wir heute kennen, scheint scheint dies alles nur eine Anhäufung von Leid und Zwang zu sein, die kein Ende nehmen kann, außer den kalten Tod.
Auch hier mag man sich fragen, ob dieser emsige Verkauf und Verbrauch von noch mehr Stoffen der Erde in Konsumprodukten und ihre Überführung in Abfall, der kein Ende zu nehmen scheint, nicht doch etwas mehr ist als eine bloße Betäubung von der Entbehrung, die es brauchte, um „weitere Betäubungsmittel“ am Fließband zu produzieren. Ist da nicht vielleicht doch noch mehr gewesen als das sinnentleerte Streben nach einem besseren Fernseher, einer schöneren Urlaubsreise, einer komfortableren Wohnung, weil man selbst in Bergwerken, Fabriken, Büros geschuftet hat? Könnte es sein, dass unsere Phantasie belastet ist, historisch belastet ist, weil wir selbst diesem Nihilismus, diesem sich-Bewegen von Vergessen zu Vergessen des Schmutzes nicht entkommen können, der sich am langen, sterbenden Ende dieses Jahrhunderts noch einmal selbst übertrifft? Vielleicht meinen gerade diejenigen den zerstörerischen Nihilismus überall zu sehen, die ihm selbst nicht entkommen können, die selbst im kraftlosen Trübsinn feststecken. Wenn das aber so ist, so mag es sein, dass gerade das tiefere Eindringen in das 20. Jahrhundert den Heutigen etwas zurückspiegelt, was man selbst verloren hat und nicht mehr glauben kann. Es gibt – vielleicht – in diesen Trümmern eine Spur, die aus dem Nihilismus herausführt, in ein Stück Hoffnung. Die lähmende Frustration, die sich durch die Empfindung dieses Trümmerhaufens in allen seinen Schattenseiten und stumpfsinnigen Trieben ausbreitet, kann vielleicht mit seinen eigenen Mitteln ausgehebelt werden. Der Fatalismus für immer und unaufhörlich, im besinnungslosen ökozidalen Kapitalismus gefangen zu sein, kann aber nur konkret an einem Ding überwunden werden.
Jedes jüngere und ältere Stück dieser großen verschlungenen Maschine, die dieses 20. Jahrhundert und seine industriellen Verzweigungen bildet, ist eine Monade, in der sich alles andere teils treu, teils verzerrt spiegelt und so dem forschenden Blick zeigt. Vier Richtungen scheint jedes industrielle Ding vor dem materialistisch-phänomenologischen Blick zu haben. 1. Es strebt ehrgeizig in die industrielle Zukunft, sein künftiges, besseres, schnelleres, größeres Modell und 2. wendet sich vom veralteten ab, das langsam, schal und mager ist 3. es will seine schöne, phantastische, betörende Seite zeigen und 4. verbirgt seine hässliche, die aus Arbeit, Müll und Bodenerschöpfung besteht; will zu einem anderswo hin und von etwas anderem wegführen. Daher scheint es fast gleichgültig, welches konkrete Ding auf dem Trümmerhaufen als Vertreter des ganzen Jahrhunderts herangezogen werden soll, um dieser Spur zu folgen, die möglicherweise aus dem Trübsinn und dem allseitigen Nihilismus herausführen könnte, an dem sich der Einsturz des Fatalismus beobachten ließe. Soll man über das Automobil sprechen? Rundfunk und Fernsehen?
Kaum eine Architektur scheint das 20. Jahrhundert besser in sich aufgenommen, gespiegelt und konzentriert zu haben, als der Flughafen, – und kein Ding scheint deutlicher dessen nihilistischen Größenwahn, seinen politischen Wagemut und Irrsinn zu untermauern und so das Auffinden einer Spur zu verunmöglichen, die zeigen könnte, dass da mehr ist als ein Vergessen, Verdecken und Betäuben und das monotone Streben zu mehr Profit von mehr Profit, das es zu verdrängen versucht, wie sich die Verbitterung von heute ausspricht. Vielleicht zerspringt aber diese lähmende Illusion gerade hier, am Flughafen, dem größten Tiefpunkt, am deutlichsten. Hier Hoffnung zu schöpfen und zu dechiffrieren, scheint eine echte Herausforderung, könnte Kraft der Dialektik jedoch ein lohnenswertes Ziel sein. Es kann als spiegelnde Monade das ganze Jahrhundert mit seinem politischen Trauerspiel und die darin verpuppte, verlorene Hoffnung aufschließen, gerade weil sie zunächst so trübe scheint. Diese Fähigkeit, die ganze Wirklichkeit widerzuspiegeln, hat sie auch Kraft dessen, dass ihr die Harmonie nicht eigen ist – den Flug der Vögel zu technisieren. Und die übrigen Geschehnisse des Jahrhunderts paaren sich zu etwas, was jedem notwendigen Zusammenhang spottet; – es hätte alles ganz anders kommen können. Es ist ein zufälliges Aufeinandertreffen geschehen, so wie auch die ganze übrige Geschichte über. Weltkriege, Sozialismus, Flug, Mondfahrt, dieses Karambolage, hätte sie Sinn, würde sie nicht sein.
Wenn Benjamin das 19. Jahrhundert in den luxuriösen Einkaufspassagen von Paris zu entschlüsseln suchte, (1) und das verborgene Elend der Unterklasse und ihre unendlich scheiternden und niedergeschlagenen Aufstände dahinter zu finden, das sich wie ein dunkler Fluch bis in sein eigenes Zeitalter ausdehnte, scheint sich das 20. Jahrhundert im Flughaften zu manifestieren, der bis in unsere Zeit hinein die Zerstörung der Lebensgrundlagen der heutigen und künftigen Menschen und Tiere bedeutet. Sein „Dahinter“, die Seite an sich, die er nicht wahrhaben will, ist die Klimakrise und mit ihr zusammen der ökozidale Kapitalismus, die Zerstörung halber Kontinente durch den kurzfristigen Urlaub. Das macht es auch so fragwürdig, für uns heute Trübsinnige hier noch ein Stück Hoffnung zu entdecken. Aber es wäre zu vorschnell, den Flughafen nur in dieser Form zu lesen, wie er sich seit 1990 ab der Kennntis der IPCC Berichte deutlich manifestierte, es ist nur seine letzte, niederschmetternde Sinnschicht. Er hatte eine große Vorgeschichte, die viel mehr in sich trägt, und aus der sich vielleicht etwas Hoffnung für uns Heutige gewinnen lässt.
Der floskelhafte „Menschheitstraum zu fliegen“ ist ein unendlich wiederholter und abgestandener Märchenstoff und Redewendung in einem, der just zurechtgelegt und wieder aufgefrischt wurde, als es tatsächlich daran ging, ihn in Technik zu gießen. Der Mensch ist in seinen Speziesgrenzen gefangen, nur in der Dichtung und der Phantasie konnte diese Grenze überschritten werden, den griechischen Göttern waren z.B. Verwandlungen in Vögel gegeben: Es war bloß eine mythische Idee, teils Märchen, teils Legende, teils Science-Fiction, dies veränderte sich auf einmal, und er trat in eine von Geschichte und Leid gesättigte Welt. Ikarus konnte selbst in der Phantasie der Griechen nur abstürzen. Der Flug mittels einer Propellermaschine tritt in die menschliche Geschichte, als die kapitalistischen Stellschrauben zur Unfreiheit und Sklaverei am Boden so eng waren wie noch nie, am Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20. Jahrhunderts – je nach Definition, was als erster erfolgreicher Flug zählt. Zu dieser Zeit war die Welt vom europäischem Imperialismus und einer beispiellosen Ungleichheit geprägt, dem allerschärfsten Gegensatz der betörenden Passagenwelt einerseits, die Benjamin untersuchte, und die koloniale, proletarische und verarmte Welt andererseits. Die Brüder Wright, die in diesem Zusammenhang gerne gerne genannt werden, entwickelten die erste voll steuerbare Flugmaschine gegen 1903. (2) So tritt unerwartet der Vogelflug in dieses Jahrhundert.
Mit diesem Gefährt hatte die Menschheit das erste Mal ihre Bodengebundenheit hinter sich gelassen, das Laufen, Fahren und Reiten, überhaupt die Erd- und Wasseroberfläche war auf einmal etwas tendenziell veraltetes, das man hinter sich lassen konnte, wogegen die Phantasie, wie die Zukunft wohl jenes Fliegen für alle zugänglich machen konnte, ungeahnte Blüten trieb. Die engen Grenzen der Spezies waren erneut eingerissen worden. Irgendetwas trieb den Menschen, eigentlich einer Affenspezies, dazu, all diese Grenzen, die seiner endlichen Natur aufgelegt waren, nur als etwas vorläufiges anzusehen und sie bei erster Gelegenheit einzuebnen, sich immer weiter in Richtung dessen zu bewegen, was man einst göttlich genannt hatte – soll man diese Neigung Ehrgeiz nennen, Neugier oder Unzufriedenheit? Es war jedenfalls eine weitere Konsequenz seiner Fähigkeit, die Welt wissenschaftlich und technisch zu erschließen, als eine bloße Ansammlung von Materie, die sich restlos beherrschen ließ, und die sich nun hervorragend in das moderne Lebensgefühl codieren ließ. Das Abheben, das Flügel wachsen lassen im buchstäblichen und übertragenen Sinne, bis man die Erde als Ganze von oben sieht, ist dem Menschen schon sinnbildlich betrachtet immer eigentümlich gewesen; es ist dieser Drang zur Utopie und zum bislang Phantastischen, der die technische Entwicklung weitergetrieben hat, zum Fliegen brachte und nun weitertreibt, an dieser Stelle wird es nun buchstäblich. Im 20. Jahrhundert wird diese Kraft mehr als je zuvor manifest, und im Flug vielleicht besonders deutlich, auch in all seiner fatalen Dialektik. Fortan sollte sich das Jahrhundert über der Flug immer weiter verbreiten, normalisieren und effektiver werden, und mit ihnen zusammen der Flughafen als seine Schaltstelle. Die Flugmaschine wurde von einem Wunderwerk und militärischem Spezialgerät zu einem Reisemittel, der sich die Elite der meist europäischen Industriestaaten bediente, mit dem sich die Entfernungen zu anderen Gebieten und Kontinenten schnell vergessen ließen. Im Flughafen öffnete sich das Tor zur Welt, also zu blitzschnellen Reisen in entfernte Gegenden, wenn auch zunächst nur beschränkt für die Allerreichsten und allermächtigsten Politiker und Militärs.
Insofern ließen diese die einfachen Menschen, die breite Mehrheit am Boden zurück, die Erhabenheit der Fliegenden bedeutete hier auch eine Erhebung über die allgemeine Bevölkerung, ein Zurücklassen derselben auf dem Boden, die im Vergleich wie einfache, landlebende Tiere auf ihren Füßen stehen bleiben, vor allem aber schuften, arbeiten und leiden mussten. Die Spannung zwischen Göttern im Märchen und den Menschen wurde die zwischen Menschen und Menschen, ein weiteres Mal. Die Entfernungen über den Atlantik und in andere Weltgegenden konnten von der fliegenden Elite vergessen und hinter sich gelassen werden. Andererseits entsprang so eine viel deutlichere Verknüpfung der Welt in alle Himmelsrichtungen, das historische Phänomen der frühen Passagierflüge ist selbst unendlich doppeldeutig, zugleich Befreiung und Unterdrückung in einem. Die Flughäfen, die in dieser Zeit gebaut worden sind, waren nicht weniger der Versuch einer allgemeinen technischen, politischen und künstlerischen prahlenden Erhebung eines Landes über die anderen. Wahrscheinlich trägt kein Flughafen diesen Zug deutlicher als etwa der Flughafen Tempelhof, der unter der Herrschaft Hitlers die Überlegenheit Deutschlands vor der Welt präsentieren sollte, und als Kreuzungspunkt der ideologischen und politischen Kämpfe des Jahrhunderts dieses wie kaum ein anderes einzelnes Gebäude zum Ausdruck bringt. Aus der Erfüllung eines alten Traumes wurde also ein Kriegsmittel, Propagandamittel und dann ein Aussonderungsmittel von „erhobenen“ Menschen über die übrigen, ein Luxus. Und mit dem Luxus entstand der berechtigte Neid der einfachen Menschen, die vom Fortschritt weniger zurückgelassen werden wollten und stattdessen sogar eingespannt und ausgebeutet wurden. Der Flug der einen sollte nicht, wurde aber tatsächlich mit der erdgebundenen Sklaverei der anderen ermöglicht.
Diese Spannung zwischen den Menschen, die noch auf der Erde und schon im Himmel sind, ist nur ein winziger, vielleicht besonders bilderstarker Aspekt eines viel tieferen Zerwürfnisses, welches das ganze Jahrhundert prägte und noch vom 19. Jahrhundert vererbt worden war. Der Schwindel zwischen Arm und Reich, Imperium und Kolonie, Plackerei, Abfall und betörende Oberfläche der Passagen war jene alte Welt, die sich höher und absurder auftürmte wie noch nie. Sie kollabierte jedoch dann in eine Dunkelheit, welche den meisten auf der Erde bislang unvorstellbar war. Im Feuer des ersten Weltkriegs zerflielen die letzten Überreste der Zivilisation. Unter den rauchenden Trümmern der Maschinengewehre und Atrileriegeschosse ließ jene erste große Katastrophe des Kapitalismus (die zweite ist der Klimawandel) selbst das Leben der Plackerei und Not unbekümmerlich wirken, unter dem die Menschen des 19. Jahrhunderts litten. Nach dem ersten Weltkrieg, wo sich der Mensch im Feuer der Geschütze Europas, eingespannt durch die kapitalistischen Mächte selbst für wenige Zentimeter Boden verfeuerte, sahen sich allzu viele nach einer Alternative des gesellschaftlichen Modells um, denn diese Mischung aus Nationalstaaten, Kapitalismus und Liberalismus hatte sich in den Schützengräben Europas endgültig vor den Augen aller widerlegt. Das Jahrhundert wagte daher nicht nur den Flug mit Propellermaschinen, und so die buchstäbliche Erhebung des Menschen über seine ganze bisherige Geschichte, sondern auch die Frage der gesellschaftlichen Fortentwicklung, ja der Erfindung eines ganz neuen Menschen stand auf dem Plan, in welchem gerade diese Spannung zwischen dem Menschen am Boden und in der Luft aufgehoben werden sollte. Es war aber nicht nur Mut, der vielleicht die Brüder Wright trieb, sondern die tiefste und umfassendste Verzweiflung, die sie in dieses Risiko, in diese Flucht der politischen Zukunft trieb. Die hier gesuchte Erhebung war keine Technische, auch wenn sie sich sicher an der technischen orientierte und inspirieren ließ. Auf der anderen Seite stumpfte auch jenes glückliche Freiheitsgefühl der Fliegenden aber schnell ab, als auch die militärischen Potenziale deutlich geworden sind, die im ersten Weltkrieg erstmals in Bombenangriffen spürbar waren, wenn sie auch meist eher eine prominente Nebenrolle als Propaganda- und Spionagemittel spielten. (3) Wenn es möglich war, Flugmaschinen zu bauen, Atome zu spalten, die Relativitätstheorie zu entwickeln und die grenzenlosen Unendlichkeiten der cantorschen Mengenlehre und der großen Kardinale zu finden, Impressionistische, Expressionistische, Kubistische, Surrealistische und Suprematistische Kunst zu schaffen – warum sollte man nicht auch in der Lage sein, dieses uralte Gesellschaftsmodell hinter sich zu lassen, das seit 1800 die Welt plagte, die Welt in einen Abgrund aus Krieg, Ungleichheit und Sklaverei trieb? Und man sah nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit zu dieser Fortentwicklung, denn die Gesellschaftsordnung hatte sich nach dem Urteil der meisten einfachen Arbeiter und Soldaten als monströser Schrott gezeigt, eine veraltete und todbringende Einrichtung auf dem Rücken der Schwächsten, in der alle gerade gut genug waren, um als Kanonenfutter der Reichen zu gelten.
Das politische 20. Jahrhundert, enger gefasst von 1918 bis 1990, (4) war so betrachtet, nicht nur ein Jahrhundert der Verbreitung von Flugmaschinen, sondern auch eine Entscheidungsschlacht um diese politische Frage, um die Frage, ob und wie sich der Mensch über die bisherige Gesellschaftsform erheben konnte, es möglich war, hier ein kleines Stück emporzufliegen, eine Welt zu schaffen, die weniger Krieg, Hunger, Armut und Unfreiheit kannte, ja den Kommunismus verwirklichen würde. Und dieses Unternehmen misslang und hinterließ unsere heutigen Gespenster, die sich nun retroaktiv lesen lassen, als eine kollektive Neurose, die gegen die allgemeine Lähmung durchgearbeitet werden muss, eine wesentliche Quelle unseres Trübsinns.
Denn Lenins, die Stalins und ihre übrigen Genossen, die alles voranbringen wollten; richteten über sich selbst. Ob nun der Mord an den Anarchisten durch Trotzki, die Moskauer Prozesse, der Hitler-Stalin-Pakt oder die Arbeitslager Stalins als Punkt der Entscheidung genommen werden – so war dieser Pfad von Beginn an von weiterem Tod und weiterer Zerstörung begleitet worden, ein wahrhafter Sturz. Er war nicht weniger von einer dämonischen Doppeldeutigkeit versehen, wie die Verbindung der einen globalisierten Welt durch die Flüge der Reichen und Mächtigen welche die einfachen Menschen auf der Erde zurückließen. Der Weg zur Freiheit, Gleichheit und die Demokratie war offenbar von Terror und Zerstörung geprägt. Der Faschismus als Wut gegen die Moderne selbst trat als Alternative auf, zuerst unter Mussolini, dann mit Hitler und dem japanischen Kaiserreich, Franco und anderen, mit der Absicht, die Menschheit noch weiter in die Tiefe zu reißen und so einen Menschen zu schaffen, der nie wieder von Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit träumt. Ja ihre Absicht war es, den Menschen die Flügel zu stutzen, ihnen das Träumen und Hoffen auf eine bessere Welt zu verbieten; das einzige, in dem er sich steigern dürfe, war neben der Plackerei der Arbeit in der Technik und im Kampf, oder konkret der Kriegs- und Todesmaschinerie, die sie errichteten. Ja was sie anboten, war gerade die Verewigung des Daseins als Kanonenfutter, jener äußersten und dunkelsten Tiefe, in welche der Mensch im Feuer des Weltkrieges gefallen war. Ihr großer Feind war zuletzt das Voranschreiten der Zeit, das moderne Lebensgefühl als solches, und die Quelle ihrer Vernichtungsfeldzüge die Angst vor den modernen Ideen. Die West-Allierten wollten dagegen den Menschen auf dem Boden behalten. In den Flughäfen fanden all diese Ideologien ihren Ausdruck, sie wollten sich exhibitionistisch vor den Augen der Welt repräsentieren, als Fortführer der Menschheitserzählung in die eine oder die andere Richtung, dass zuletzt die Faschisten besiegt wurden, Berlin besetzt wurde und dann zur umstrittenen Beute der Westallierten und der Sowjetunion. Deutschland und insbesondere Berlin war überhaupt, gerade durch diese zentrale Stellung als allgemeine Beute der Mächte, die über die Politik entscheiden konnten, der Ort, in den sich diese Erfahrungen des Jahrhunderts am deutlichsten eingeschrieben haben. Diese beiden großen Weltanschauungen wurden hier aus eigener Kraft ihrer Einwohner scheinbar manifest.
Es ist bemerkenswert, dass diese kurze Phase nie dagewesener faschistischer Barbarbei ausgerechnet die Absicht hatte, den Menschen so tief wie nur möglich auf den Boden zu ziehen, zu einem hochbewaffneten, geknechteten Wesen, das nur Krieg und Tod im Sinn hatte, reines Kanonenfutter war. Und das nachdem Hitler – von Eliten finanziert – selbst erstmalig einen Wahlkampf in Deutschland mit dem Flugzeug geführt hatte, was ihm eine bisher unmögliche Präsenz an etlichen Orten ermöglicht hatte, auch wenn deren Effekt auf die Wahlen als eher gering bewertet wird. (5) Die Siegermächte schrieben sich demgegenüber den Humanismus und den Fortschritt auf die Fahnen, man erinnert in Berlin vor allem die US-Amerikanischen „Rosinen-Bomber“ während der SU-Blockade, wollten danach darum ringen, wem es besser gelänge, den Menschen und seine Möglichkeiten unter dem Vorzeichen des Friedens, der Technik, der Wissenschaft und Kunst voll zu entfalten, – wenn auch die Westallierten den gesellschaftlichen Wandel überwiegend einem Verbot unterzogen: In ihrem Entwurf hatte man diese soziale Spannung zwischen den Reichen und Armen, den Fliegenden und denen am Boden eben auszuhalten, – die Kommunisten wollten dagegen den gesellschaftlichen Fortschritt für alle und sahen es dafür als berechtigt an, sich eine elitäre und diktatorische Partei zuzulegen, die sich dann aber ihrerseits über die anderen erhob. Vor dieser Logik dieses pittoresken Systemgegensatzes standen die meisten Menschen, welche heute die Bundesrepublik, Europa und zuletzt die ganze Erde bewohnen, zumindest in ihrer Jugend, sie sind die wesentlichen Träger der Traumata.
Aber so wie der Sozialismus scheiterte und scheiterte, zuletzt sogar an der eigenen Über-Rüstung zusammenbrach, konnte die soziale Spannung zwischen den Reichen und Armen auf der Erde nicht besänftigt werden, die noch aus dem 19. Jahrhundert herrührte und mit samt dem Imperialismus in die Weltkriege geführt hatte. Dieser Zusammenbruch des Realsozialismus entfaltete sich das ganze Jahrhundert hinweg schrittweise, wenn er auch erst definitiv 1990 allen offensichtlich geworden war. Was an dessen Stelle trat, was als Trost für diesen Ausbau zur allgemeinen Gleichheit diente, war der zunehmende Ausbau des relativen privaten Wohlstands, der Privatkonsumkapitalismus, der sich über die gnadenlose Proletarisierung des 19. Jahrhunderts schob und die westliche Illusion eines „Sieges der liberalen Demokratie“. (6) War es für die Arbeiter früher unerschwinglich, kaum mehr zu bekommen, als das Lebensnotwendige, konnten sie sich nach und nach immer mehr Freiheit genehmigen, zuerst nur bei den Angestellten, dann auch bei den übrigen. Gesucht wurde gerade der Bewegungsspielraum, der in den Fabriken, Büros, Bergwerken und dergleichen mehr nicht zu bekommen war, (7) aber auch das Aufrücken in die Luxusgüter der anderen, elitären Klasse. Statt des blutrünstigen gesellschaftlichen Experiments der Kommunisten sollte die Verbreitung jener ursprünglichen Luxusgüter der Bürgerlichen den Fortschritt definieren, eine – im Vergleich zu dem Versprechen des allgemeinen Wandels – zwar schale Lüge, in der sich die Ungleichheit und der Neid nur wiederholte, aber immerhin konnten so nach und nach mehr Menschen abheben und regelmäßig in die Ferne fliegen. Mit der Wende in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, der Kindheit und dann dem Heranwachsen der Babyboomer tritt der Massentourismus als Phänomen auf, als Ersatz und Trost einer politischen, kollektiven Veränderung, und schon bald konnte dieser nicht nur mit dem PKW, sondern auch mit den Passagierflügen verwirklicht werden, sodass entsprechend die Flughäfen immer größer, massentauglicher, bombastischer geworden sind. Der Passagierflug erlaubt es, die Distanz zu anderen Ländern zu vergessen, da in der Ferne zu sein, ohne wirklich da zu sein, es ist ein Berühren der Menschen und Länder außerhalb der eigenen Reichweite, zugleich ein sicheres Getrenntsein von ihnen, sodass sie (und der eigene Anteil an der verdrängten (neo)kolonialen und kapitalistischen Ausbeutung dieser Länder) nicht gefährlich (für das „verdiente“ eigene Wohlfühlselbstverständnis) werden konnten. Beim Tourismus, der die Länder anderer Menschen zu einer Ware werden lässt, dreht sich alles um das Vergessen und Ausblenden, das Berühren, das gleichzeitig in Sicherheit ist und getrennt bleibt, und nichts drückt dieses deutlicher aus, als der Flughafen. Wenn man selbst bloßes Produktionswerkzeug war, somit ohne Kontrolle lebte, so sollte es dafür für einen Augenblick einen Ausgleich geben, - ja sogar eine Art Vergeltung?
Im Tourismus lässt sich durch diese losgelöste, körperlose Freiheit und Kontrolle also die Plackerei des Arbeitsalltags vergessen, wo man vom Chef und der Fabrik auf einen Ort festgehalten und gefangen gehalten war; es lässt sich auch die Distanz zu denen vergessen, die viel viel Reicher und Mächtiger sind und einen erst in die Unfreiheit trieben, für die der Tourismus als Betäubung und Befreiung dient; es lässt sich die Distanz zu denen vergessen, denen es noch viel schlechter geht, und es lässt sich vor allem vergessen, dass in kapitalistischen Gesellschaften diese soziale Spannung zwischen den Menschen nicht bewältigt werden darf. Wie Marie Antoinette, die sich ein falsches Bauerndorf in den Schlosspark von Versailles bauen ließ, um sich von ihrem adligen Luxus-Stress zu erholen, (8) können die reicheren Arbeiter des Westens nun die Ärmeren besuchen, durch deren Ausbeutung und Elend sie profitierten als Erholung von ihrer Plackerei für den blanken Reichtum der Industriestädte. Mit dem Flughafen und seinem Massentourismus ist Marie Antoinettes Flucht aus der eigenen sozialen Alltagsrealität zum neuen Normal geworden. Fort von den sterilen Welten der westlichen Einkaufszentren, die den technischen Wohlstand des Westens unverblümt zum Ausdruck bringen – hinein in das Erdige, Ursprüngliche und Echte, Pittoreske der anderen Länder. Der Tourismus in arme, wilde, elende Länder voller unberührter Völker ist aber nicht das Gegenteil der konsumorientierten Einkaufszentren, sondern dessen Übersteigerung, in der sogar die Armut anderer Länder zum exotischen und emotional würzigen Konsumartikel wird, mit dem sich die einen Touristen gegen die anderen Dagebliebenen abheben. Mit dem zunehmenden Ausbau der Flughäfen zu sterilen wie geisterhaften Einkaufszentren voller Duty-Free-Shops, in denen sich passend dazu noch andere Seiten des betäubenden Konsumlebens und des Warenzaubers wahrnehmen ließen, ist die Fusion mit dem kapitalistischen Präsentierteller des 19. Jahrhunderts, den Passagen von Benjamin, der damals nur wenigen Bürgerlichen offen war, komplett. Der Flughafen wird eine Architektur gewordene Fassade, hinter welcher das kühn-träumerische des vogelhaften Fliegens und der echten Verknüpfung zu anderen Ländern und so das Versprechen auf eine globale Gemeinschaft immer mehr verblasst; gerade durch die Betäubung mit seinem anscheinenden Gegenteil, dass alles, selbst die größte Armut erreichbar und zugleich per Flug entrinnbar wirkt. Der Flughafen und das, was er repräsentiert – dieses Streben ins Unendliche – schraubte die Menschen immer höher nach oben, auf dem Rücken der übrigen, die in einem weiteren qualitativen Sprung zur Ware bestimmt worden sind.
Aber auch dieser Effekt verblasste und wurde fraglich. Mit jedem Flug, den auch einfache Menschen bewältigen konnten, verlor dieser ursprüngliche Menschheitstraum immer mehr seinen phantastischen und illusionären Charakter, wurde ein Stück Alltag, eine maschinelle Funktion, um das Ganze am Laufen zu halten und die Spannung zu betäuben. Was verwehrt worden ist zu erlangen – die Freiheit zur Fortbewegung – , ist selbst in kleinen Dosen ein Werkzeug um dafür zu sorgen, dass alles so bleibt, wie es ist. Man vergisst im Flug aber nicht nur das eigene Elend, sondern auch das Aluminium, aus dem es besteht, und die scheußlichen Minen, aus denen es gewonnen ist. Dann auch das Kerosin, durch die es befeuert wird, die Kriege, die um Öl gefochten wurden. Durch die zunehmende technische Erfassung und Belieferung des Privatkonsums – durch Automobil und Passagiermaschine – starb nach und nach immer mehr die Idee der Politik einer echten sozialen Verbesserung für alle ab, worin sich die 70er, 80er Jahre im Westen zusammenfassen lassen. Aber das Fliegen hatte das 20. Jahrhundert über, wo es zunehmend für die ganze Masse der reichen, vornehmlich weißen und „(nord)westlichen“ Erdbevölkerung erschwinglich wurde, eine im Vergleich zu uns heutigen im 21. Jahrhundert noch eine deutlich abhebbare Unschuld. Denn allgemein wusste man damals nicht – wenn man nicht zufälligerweise Teil der sich damals bildenden Klimaforscher oder eingeweihter, zum vertuschen entschlossener Manager der Fossilunternehmen (9) war – um die aufziehende Gefahr der Klimakatastrophe. Der Bestseller „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome von 1972 konnte daran nichts ändern. (10) Die Zukunft bot noch einen glaubwürdigen Raum für einen allgemeinen gesellschaftlichen Aufstieg in den wirtschaftlichen Wohlstand, also der Überzeugung, dass die eigenen Kinder zwar vielleicht keine freie und kommunistische Welt erleben würden, sehr wohl aber die Chance hatten, es durch harte Arbeit wohlmöglich irgendwann noch besser zu haben als man selbst. Der Aufstieg von allen war glaubwürdig. Und hatte man daran Zweifel, so gab es damals die Möglichkeit, sich in der polar organisierten, am Rande des Nuklearkriegs stehenden Welt auch sowjetisch und maoistisch zu positionieren, es gab die Freiheit zu einer politischen Entscheidung; die fragwürdige Entscheidung also, sich entweder direkt den herrschenden Eliten auf immerdar zu fügen oder sich einer anderen Elite zu fügen, die (nicht besonders glaubwürdig) versprach, dass es mal eine Welt ohne herrschende Elite geben würde. Der Osten begann schließlich ebenfalls, unter dem Druck des Vergleichs mit dem Westen, eine Art Privatkonsumkapitalismus zuzulassen, wie die Produktion von Trabanten in der DDR zeigte; sie mussten diesem Streben, das die Menschen über die Grenze trieb, etwas Glaubwürdiges entgegenstellen.
Das wirkt für uns Heutige, vor allem natürlich für die, welche vor allem die Zeit danach erlebten, weit entfernt. Spätestens 1990 kollabierte sowohl dieser Möglichkeitsrahmen der Politik als auch – wenn auch für die meisten nur schleichend – die Überzeugung von der Machbarkeit einer blühenden technisch-kapitalistischen Zukunft. Der Kollaps der Politik, der unwidersprochene „Sieg“ des Kapitalismus, mit samt des unwidersprochenen Siegeszugs des Neoliberalismus war das deutlichste und auffälligste Merkmal der neuen Zeit, in der die Entscheidung über das Verbrechen des Klimawandels getroffen werden würde. Fortan war der Rahmen der Politik jenseits von Privatbesitz und Parlamenten mit strengen Verboten – Undenkbar, Unmöglich, Unmoralisch verhängt, und die einzigen Träume, die noch erlaubt bleiben, waren die der technisch-wissenschaftlichen Fortentwicklung einerseits – gefasst etwa in den californischen Träumen aus Silizium und Software, welche die Alten aus Aluminium ablösten – und der künstlerischen andererseits – in der sich globalisierenden Pop- und Subkulturenfauna von Disney bis zu den Anime- und K-Pop-Exportschlagern. Insbesondere, was das Erste – das technisch-wissenschaftliche betrifft, entzündete sich aber ein immer deutlicher Widerspruch, an der diese ganze nach außen hin friedliche und entspannte Zeit in der Rückschau wie ein treibender, zerstörerischer Nerv aussieht.
Denn die aus dem 20. Jahrhundert geerbten Vorstellungen vom technischen Wohlstand, die in den Besitz von mehr Autos, mehr Häusern, mehr Flugmaschinen und Flughäfen trieben, um die sich nun überschlagende soziale Spannung zu besänftigen, prallten auf einmal auf einen physischen Widerstand. Und dieser Widerstand war nicht nur die dunkle menschliche oder äußere Natur, die nicht genügend erfasst oder beherrscht wird, sondern gerade die Wissenschaft selbst, welche die Grenzen und Gefahren der fossilen und ökozidalen Maschinerie nachzuweisen vermochte. Die Wissenschaftler waren in ihren Warnungen nicht zu sparsam, sie waren klar und deutlich, aber insbesondere die Unternehmer und Politiker der Industriestaaten beschlossen, um des Profits und der Konkurrenz willen die Zerstörung weiter in Kauf zu nehmen, die notwendige Veränderung aufzuschieben und die Bevölkerung in Sicherheit zu wiegen. Studien wurden bewusst verheimlicht. Und hinter den verbrecherischen Verantwortlichen standen und stehen die Strukturen, die als Siegreiche und Alternativlose im 20. Jahrhundert übriggeblieben sind: Privatbesitz, Parlamente, Nationalstaaten. Und die schuftende Bevölkerung, die Ablenkung vom Arbeitsstress suchte, ließ sich allzu gerne in Sicherheit wiegen, sie wollten aus dem arbeitsteiligen Tunnel vom Arbeitsstress und dem Familienglück und Urlaub als Entschädigung nur ungern ausbrechen. Das Leben für sich, als das globale Ganze ausblendende, für sich seiende Eins, hat nach der Plackerei ein zu großes Gewicht und Beharrlichkeit. Niemand, der in einer Fabrik schuftet, dessen Eltern noch mehr geschuftet haben, will sich dies nehmen lassen, für einen Moment einmal Herr seiner selbst zu sein, nämlich im Urlaub. Die Fliegerei und der Flughafen, die nun für alle zunehmend erschwinglich und normalisiert wurde, der Inbegriff des Aufgestiegenseins einer Familie zu einem relativen Wohlstand, treibt diese Frage wie keine andere auf die Spitze. Eben diejenigen Formeln, welche durch Mühe und Erfindungsgeist gefunden worden waren, um die Geheimnisse der Strömungsmechanik zu ergründen und damit die Flieger zum Abheben zu bringen und sie zuletzt zu perfektionieren, eben diese wissenschaftliche Einsicht wies nun nach, dass diese technischen Geräte mittelfristig gesehen die zivilisierte Welt durch die Klimakatastrophe bedrohen würden. Die Wissenschaft wendete sich offenbar selbst nun gegen ihr eigenes Werk, wies nach, dass ihre Erzeugnisse nicht nur veraltet und giftig, sondern katastrophal gefährlich sind. Diese wissenschaftlichen Berichte einerseits, und die anhaltende, sich mulitplizierende allgemeine Fliegerei der nun völlig globalisierten Welt andererseits standen aber isoliert voneinander, getrennt durch eine sich immer mehr verschärfende Mauer des Vergessens und der Ausblendung; eine Mauer aber, die aus kapitalistischen Gesellschaften wohlbekannt ist. Denn schon immer hat man gerne die Arbeit, den Müll und die Plackerei vergessen und nur auf die Seite des glänzend ausgeleuchteten Konsums geachtet. Das Ausmaß dieser Spannung war aber noch nie so deutlich.
Wenn das Fliegen und der Tourismus früher schon ein wachender Traum war, der ausblendete, wie ungleich die Staaten sind, die man besucht, über welche die Flüchtigkeit des Besuchs und die Intensität der touristischen Erfahrung hinwegtäuschte, so ist das Fliegen im 21. Jahrhundert definitiv zu einer verlogenen Illusion geworden. Die Länder, welche man touristisch besucht, werden wie die Wissenschaft zeigt, durch eben diese Flugmaschinerie teils den Hitzetod erleiden, teils veröden und verwüstet werden, teils in einem Strom fliehender Menschen überfordert werden. Der Flug der heutigen Zeit ist eine Lüge der Verbindung zu anderen Ländern, weil er in Wahrheit die Gräben noch tiefer werden lässt. Der Kapitalismus hatte schon immer einen nihilistischen Zug, vergessen zu lassen, wie schlecht es den anderen geht, hinter den Sichtblenden der Vorderseite der Dinge in den Einkaufspassagen die hässliche Wahrheit, also die Verelendung der Anderen vorsätzlich in Kauf zu nehmen, dieses verwundene Zusammenspiel aus Luxus-Einkaufspassagen hie und Fabriken, Müllhalden und Elendsviertel da, das nur durch ein Einklammern des Ganzen erträglich ist. Dieser feige Nihilismus des Ausblendens steigert sich im Zeitalter der Klimaberichte und Klimaprognosen in ein zerstörerisches Ausblenden, denn es gibt keine glaubwürdige Zukunft mehr, wo alle nach oben aufsteigen können. Es gibt somit einen gesteigerten Nihilismus der Flugreisen nach 1990, es ist nicht nur wie eine flüchtige Affäre mit einem anderen Land, die sicher nicht tiefer moralisch zu werten ist als eine echte Beziehung zu einem fernen Land, sondern es ist eine flüchtige Affäre, der man verheimlicht, dass man AIDS hat. Das maschinell betriebene Vergessen im Tourismus muss entsprechend des eigenen schlechten Gewissens in immer schnellerer Geschwindigkeit und in immer intensiveren Stößen erfolgen, weil jeder Mensch am schwindeligen Rande steht, das Elend des Ganzen erst als Gefühl, dann als wissenschaftliche Gewissheit zu spüren und so daran zu zerbrechen. Alle wissen eigentlich von den Klimaberichten. Ein großes Stopp, eine Stilllegung dieser todbringenden Maschine, selbst ein Langsamermachen, scheint aber unmöglich, denn ohne Vergessen, ohne Erholung von der Plackerei würde der fehlende Sinn des Ganzen Zusammenhangs des Vergessens als Frage aufflammen, und damit die der Verantwortung der Chefs, der Wirtschafts- Politik- und Bildungselite und der reichsten 10%, die am besten und deutlichsten vergessen kann. Der Flug im 21. Jahrhundert möchte so tun, als würde das 20. Jahrhundert und seine Aufstiegsgeschichte gegen die Kräfte der Natur einfach weiter fortbestehen, wo es noch keine so eindeutigen Klimaberichte und keine Verantwortung über die Zukunft gab, und um diese Illusion zu halten, um sich in diesem gesteigerten Vergessen wohl zu fühlen, geht es buchstäblich über Leichen. Andererseits scheint gerade die Wissenschaft dieser früheren Zeit eine gewisse Strenge der Wahrnehmung der Wirklichkeit zu erfordern, die eben diejenige der kollektiven Zerstörung ist.
Durch die Klimaberichte kommt es zu einem Zerbrechen des schrittweisen Wohlstandsversprechens für alle auf dem Globus, das der Kapitalismus für seine Überzeugungskraft braucht und als Ersatz für die faktische und realisierte Gleichheit anbieten muss. Zu leicht wäre es, hier in einen Moralismus zu verfallen. Aber dieses technisch-konsumorientierte Wohlstandsversprechen, das die moderne, schale und nach dem 20. Jahrhundert primär übriggebliebene Variante des Träumens bildet, ist keine moralische Sünde, sondern ein natürliches Recht des Menschen. Es gibt keine falschen Bedürfnisse als solche, weder das Fliegen wie ein Vogel, noch das exotische Bereisen von anderen, kulturell unterschiedlichen Ländern, noch das Interesse an den verrückten Konsumwaren, dem Rausch, der Mode, der Popkultur, der Computerspiele und sogar der Sexualität im Kapitalismus, die alle auf ihre Weisen das tierische Dasein der menschlichen Spezies überwinden, ist nach seinem eigenem Begriff falsch, sie ist nur falsch im unfreien, ungleichen und ausblendenden Zusammenhang des Ganzen, wo es auf Kosten anderer geschieht. Als die Brüder Wright die erste Flugmaschine bauten, setzten sie implizit einen Maßstab und Auftrag, dass alle Menschen einmal fliegen dürfen, dass die eine Welt fliegen kann, dass man von oben blickt und das Ganze erkennt, dass man gemeinsam einen Schritt weiter gehen mag. Der heutige Flug ist eine Pervertierung dieses Versprechens, denn es ist ein Fliegen auf Kosten dessen, dass die anderen abstürzen, dass ihre Heimat zerstört wird, es ist ein Fliegen, dass das Ganze auf der Welt aktiv vergessen muss und einen dichten Nebel, eine Gegenaufklärung braucht. Dieser Nihilismus ist greifbar, und er zieht in allen Ritzen der Gesellschaft auf, wo sie einmal nicht in ihre Tunnel der stressigen Arbeit, Abstriegsängste und betäubender Erholung versinkt. Daher ist das Vergessen des Elends heute nicht weniger verbreitet als der resignierte Fatalismus, sie sind Geschwister. Die Hoffnungslosigkeit, dass es nicht anders geht, dass es alternativlos ist, verdichtet sich dann zu einem düsteren Ungetüm, das noch mehr Ungeheuer gebiert. Von der Integrität des wissenschaftlichen Weltbildes, des Versprechens von Bacon, dass Wissen = Macht sei, dass in der wissenschaftlichen Betrachtung des Menschen dauerhafter – und somit nachhaltiger – Wohlstand für alle verborgen ist, bleiben nur antagonistische Splitter und Scherben übrig; entweder besinnt man sich auf das Wohlstandsversprechen, indem man das Wissen ausblendet, oder man blendet das Wissen ein, und lässt das Wohlstandsversprechen fallen. Das neurotische Bewusstsein, dass dies die einzig denkbare Welt ist, kennt diese doppelte, schizophrene Gestalt.
So steigert sich die Phantasie der Menschen, die vor diesen unerträglichen Zuständen steht zu einer technischen Wundergläubigkeit heran, dass es in der Zukunft einmal möglich sein würde, die Zerstörung an der Umwelt zu beseitigen, eine Wundergläubigkeit an die Technik, die gerade nichts mit einem wissenschaftlichen und technischen Weltzugang, sondern eher mit magischem und mythischem Denken zu tun hat, aber die nützliche Funktion erfüllt, auch beim Sinnieren über die Klimaberichte, das manchmal „aus Versehen“ passiert, das Buisness as usual schönzufärben. (11) Auf der anderen Seite sammelt sich eine Enttäuschung über die wissenschaftlich-technische Welt im Ganzen, die gerade dem wissenschaftlichen Denken die Schuld an der Katastrophe einreden will – Heidegger, Klages, wie viele andere Propheten des notwendigen Untergangs wären hier zu nennen. Aber die Wissenschaft hat früh genug gewarnt, es war die Politik, welche entschied, nichts zu tun, die den Schaden in Kauf genommen hat. Ihr gemeinsamer Nenner ist, dass sie die Schuld an der Katastrophe von den Verantwortlichen abziehen und zu einem allgemeinen Menschheitsschicksal erklären wollen, das sich ohnehin nicht abwenden ließe – sie glauben an einen unabwendbaren, fortlaufenden Zerfallsprozess. (12) Diese beiden Seiten sind zwei einer Medaille des allgemeinen nihilistischen Vergessens, des ziellosen, unendlichen Arbeitens und des Konsumierens, sie sind beide unwissenschaftliche Perspektiven, die jeweils auf ihre Weisen die Gebundenheit und Gefangensein des Menschen an seine gegebenen Verhältnisse predigen, sich dem Mythos hingeben, die eine unbewusst, die andere bewusst. Das Zerschneiden der Bande der Vergangenheit, die Möglichkeit, sich von den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen abzulösen – dass sich einst im Fliegen und dem Luftverkehr selbst manifestierte -, wollen sie beide nicht glauben. Wenn es zunächst glaubwürdig schien, dass nach 1990 im westlichen Kapitalismus zumindest das wissenschaftlich-technische Denken sich frei entfalten kann (wenn auch die gestalterische Politik verboten wurde), so zeigt sich hier, dass auch dieses Denken unterdrückt wird. Der heutige Kapitalismus kann nur fortlaufen, wenn er wissenschaftliche Befunde und auch die Beherrschbarkeit der Natur, die Möglichkeit einen anderen, sozialeren und demokratischeren Weg zu nehmen als Idee aktiv unterdrückt, sich der Gegenaufklärung hingibt. Es ist ein nicht nur bar jeder Solidarität, sondern auch bar jeder wissenschaftlichen Vernunft und Aufklärung, sie hat der Realität den Kampf angesagt, ist kurz gesagt: post-faktisch.
Diese Spannung zwischen dem Wohlstandsversprechen und der Wissenschaft ist zuletzt überall greifbar. Und das „Verbot“ des Wandel der Gesellschaft, das es verursacht, wiegt schwer. Und so wundert es auch nicht, dass sich die heutige Zeit wieder einer verkehrten, auf den Kopf gestellten Systemfrage gegenübersieht. Gab es im 20. Jahrhundert die Wege einer kommunistischen oder liberalistischen Zukunft, zwei Varianten, das Glück, den Frieden und die Demokratie für alle zu finden, so bringen die Rechtsextremen von heute wieder eine weitere, totgesagte Alternative ins Spiel, nämlich den weiteren Rückgang in die Dunkelheit und Vergangenheit. Was sie dem feigen, ökozidalen Nihilismus des Wegblickens gegen das Leid der Anderen als Alternative anbieten, ist das aktive, ausdrückliche und wissende Verachten, Ausbeuten und Unterdrücken der Anderen. Dies drückt sich in ihrer Wortwahl aus. Denn während die allgemeine Gesellschaft durch die ökologische Zerstörung das Leid der Menschen in Nordafrika, Arabien und Indien vorsätzlich herbeiführt, aber ausblendet und sich in der Illusion der eigenen Toleranz sonnt; so ist in den Worten „Tahalon“, „Kanacke“ und „Azzlack“ eben diese Gleichgültigkeit und Verachtung gegen die Bewohner der vom Klimawandel bedrohten Gegenden offen geäußert. Insofern sind die Rechtsextremen von heute etwas aufrichtiger als die Mehrheitsgesellschaft, (13) was es nicht besser macht, sondern nur den Weg zu einer weiteren Enthemmung und kriegerischen Aggressivität eröffnet, an dessen Ende der Faschismus und die Wiederkehr der besiegten Monster des 20. Jahrhunderts steht. Ihr Ziel ist es wieder, die Zeit zurückdrehen, die Globalisierung rückgängig zu machen, meist unter einem deutlich größeren Bewusstsein der Klima-Katastrophe und der absehbaren Massenmigrationsbewegungen, aber der verkehrten Lösung. Beim aufziehenden Sturm den Abbau der internationalen Beziehungen, die Verwandlung der reichen, industrialisierten und kohlenstoffintensiven Nationen in Trutzburgen gegen den Ansturm der Klimamigranten zu tätigen, statt eine gemeinsame Lösung zu suchen, ist der aktive Politik gewordene Nihilismus in Reinform. Das Stammesdenken und Ego-denken soll auf die Spitze getrieben werden. Die Systemfrage wird heute von Rechts gestellt, der Widerstand der Demokratie ist notwendig, aber es herrscht fast nur Trägheit und Angst, ein Festhalten an altbewährten Mustern, die erst an diesen Punkt geführt haben. Das Projekt der Menschheit und der Aufklärung liegt in Trümmern, es hat sich sein eigenes Grab geschaufelt. Wäre es möglich, ein Hinblicken mit Gemeinschaftlichkeit zu verbinden? Eine gemeinsame Lösung für alle auf der Erde?
Diese Freiheit ist aber möglich. Es ist möglich, einen technischen Wohlstand und vielleicht auch das Fliegen für alle von Nord bis Süd zu verwirklichen, nur liegt dieser hinter einer generellen Transformation der Gesellschaft, die umwillen der anderen Menschen und mit den anderen getätigt werden muss, ein Prozess, der nur durch das Durcharbeiten der politischen Traumata erreicht werden kann, die uns heimsuchen, unter dem Leitbild Wiederherstellung der Idee der Aufklärung. Die falsche und verlogene Verbindung in den touristischen Flügen, denen auf ihrer Rückseite die Zerstörung der anderer Länder eingeschrieben ist, die sich nur durch das Ausblenden der Wissenschaft stabilisiert, ist daher die Trennung all dieser betäubenden Flugreisen entgegenzustellen, die zugleich eine wahre Verbindung und Verknüpfung der ganzen Welt aufscheinen lässt. In der international organisierten Flughafenblockade, in der das wissenschaftliche Weltbild in den Alltag der allgemeinen Gegenaufklärung einbricht, scheint die eine, bedrohte Welt auf, der Nebel der Sichtblenden und des allgemeinen nihilistischen Vergessens lichtet sich. Die Klimaaktivisten repräsentieren tatsächlich die Instanz der Wissenschaft, nicht etwa der Feindseligkeit gegen die menschliche Erhebung aus den tierischen Grenzen der Spezies – denn sie halten der verlogenen Verbindung, die nicht sehen will, welche Zerstörung sie nach wissenschaftlichen Erkenntnissen anrichtet und in Kauf nimmt, eine solche entgegen, die nach heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht so zerstörerisch wäre, also die wahre Verbindung. So betrachtet lebt in dem politischen und aktivistischen Teil der Klimabewegung etwas Gutes vom 20. Jahrhundert fort, das den heutigen, trüben Bewusstsein der Allgemeinheit häufig verlustig geworden ist: Der Enthusiasmus, der Wagemut, das Aufschlagenwollen eines neuen Kapitels in der Entwicklung, ein Denken, dass die Wissenschaft als neutralen Blick auf die Welt und ihrer Zukunft, wie auch die Politik als gemeinsame Gestaltung der Welt im Sinne aller vertritt. Sie stehen dem Mythos und dem Egoismus entgegen, einem Leben ohne Wahrheit, welches das bittere Schicksal hingenommen hat. Sie versuchen, aus den Täuschungen und Selbsttäuschungen auszubrechen, dem mythischen Bann von der Buisness-as-usual-Erzählung und der vom unabwendbaren Zerfallsprozess. In ihnen – so merkwürdig es klingen mag – lebt das Versprechen und die Hoffnung des Fliegens von den Wrights, die in der Veränderung der ganzen Welt mündete selbst eher fort, als in denen, die wirklich abheben. Bis die neue nachhaltige und sozial verträgliche Technik da ist (was vielleicht noch Jahrzehnte braucht, nicht garantiert ist, ob es je kommt), sollte kein Flugzeug mehr abheben. Ein Notstand umwillen des globalen Ganzen ist nicht weniger berechtigt, als alle friedlichen Mittel, um ihn herbeizuführen.
Wir „müssen“ heute tatsächlich noch fliegen, und ja – nicht nur aus beruflichen oder familiären Gründen, sondern auch gerade zur Erholung. Aber es macht keinen Spaß mehr. Heute wünscht man sich, nicht mehr fliegen zu müssen. Das Mutige wäre heute nicht, wie die Brüder Wright in den Himmel zu starten, sondern ihr Mut würde heute vielmehr bedeuten, wieder zu landen und Zug zu fahren und die Welt nicht weniger radikal zu verändern wie die Erfindung des Propellerflugs. Wir brauchen ihren Mut – ihren Intellekt, ihre Kühnheit, ihre Hoffnung, ihr wissenschaftliches Weltbild – noch ein weiteres Mal. Der Mut zu einem neuen Anfang. Der Flug ist Schrott, ein veraltetes Gefieder oder sogar ein Gefängnis für den Menschen, der weiter nach oben strebt, und sich nach ökologisch unschädlichen Formen der Reise in andere Länder und auch nach ökologischen Formen des Fliegens sehnt. Diese wirken für uns noch so träumerisch und unerreichbar, wie es einst das Fliegen für die Menschen am Boden des 19. Jahrhunderts war. Der Kerosinflug ist wesentlich veraltet, ein Grab aus Aluminium und Kerosin, ein Teilstück des industriell-kapitalistischen Ungeheuers, nicht weniger als das Verbrennerauto, die Kohle-, Gas- und Nuklearkraftwerke, das vom 20. Jahrhundert wie ein eiserner Fluch auf uns lastet und auf dem Boden festhält.
Und so fällt retrospektiv auf: Den Flughafen, seinen enthemmten Industrialismus und das ganze 20. Jahrhundert als einen Haufen Schrott zu lesen, richtet dieses nach seinen eigenen, den Fortschritt als Norm setzenden Mitteln, Begriffen und Maßstäben, zu einem Stück verrosteter, zu überwindender Vergangenheit – und es ringt ihm so ein Stück Hoffnung auf gesellschaftlichen Wandel ab, den die heutigen Zeiten fast verlustig geworden sind. Es ist eine immanente Kritik. Dass vor der Geschichte ein anscheinendes Wunder – der Vogelflug gesellschaftlich und technisch zu bewältigen war, schnöder Alltag wurde, die ganze Welt veränderte und zusammenbrachte ist auch heute möglich. Denn einst bedeutete das Fliegen den erfüllt gewordenen Traum der Überwindung unserer Grenzen, der Verbindung zu einer Welt, sinnbildlich auch der radikalen gesellschaftlichen Veränderung, die man heute zunächst nicht mehr glauben kann, es sei denn man hebt sich gemeinsam und gemeinwohlorientiert davon ab. Dazu kann der Flughafen einen passenden Anstoß bieten.
Fußnoten:
(1): Vgl. Walter Benjamin, Werke 5.1, Das Passagenwerk, S. 45.
(2): Vgl. Ein Jahrhundert der Flugzeuge, S. 19.
(3): Vgl. Ein Jahrhundert der Flugzeuge, S. 27f.
(4): Vgl. Badiou, Das Jahrhundert, S. 9, wo er vom „sowjetischen“ Jahrhundert spricht und es so zwischen 1917 und 1990 eingrenzt. Auch zu erwähnen: „Das kurze 20. Jahrhundert“ ist ein von dem Historiker Iván T. Berend (Öffnet in neuem Fenster) geprägter Begriff, der der Tatsache Rechnung trägt, dass Jahrhunderte (Öffnet in neuem Fenster) als Einteilung historischer Epochen denkbar ungeeignet sind (da sich historische Ereignisse (Öffnet in neuem Fenster) nicht an Jahreszahlen halten). Populär wurde dieses Konzept, nachdem der britische Historiker Eric Hobsbawm (Öffnet in neuem Fenster) es 1994 in seinem vielgelesenen Buch Das Zeitalter der Extreme verwendet hatte.
(7) Vgl. hierzu Krackauers „Die Reise und der Tanz“, in Das Ornament der Masse, S. 40f.
(8) https://www.diaphanes.net/titel/empfindsamkeitsarchitektur-7518 (Öffnet in neuem Fenster)
(9) Vgl. Etwa Early warnings and emerging accountability: Total’s responses to global warming, 1971–2021 in: Global Environmental Change 71 (2021) 102386.
(10) Manfred Fischedick, Peter Hennicke et Al: Earth for All Detuschland, Aufbruch in eine Zukunft für Alle, München 2024, S.9
(11) & (12) Joanna Macy, Business as Usual, in: Active Hope
(13) Vgl. Hierzu auch Tadzio Müllers These vom schamfreien Zusammenbruch der humanistischen Werte im Angesicht der Klimakrise in Zwischen friedlicher Sabotage und Kollapsakzeptanz, S. 174.
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Alex Niehoff-Toral
ist Philosoph, Autor & Künstler und engagiert sich auch in aktivistischen Kontexten für öko-faire Lebensweise und das gute Leben #füralle. Er promoviert zum französischen Philosophen Alain Badiou und ist Stipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Mehr über und von Alex Niehoff-Toral:

Alle Links in einer Übersicht -im Link-Baum:
https://linktr.ee/rueckenwind_graswurzelpresse (Öffnet in neuem Fenster)Wie RÜCKENWIND entwickelt wurde …
Im April / Mai 2024 gab es erste Ideen zur Kampagne graswurzelpresse.
Im Juni / Juli 2024 gründete sich das Kolloquium RÜCKENWIND und entwickelte die Idee, das Online-Magazin RÜCKENWIND herauszubringen.
Unser Selbstverständnis:
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