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In der zweiten Ausgabe: RUHE +++ FRIEDEN +++ NESSELTIERE +++ DEFINITION VON LEBEN +++ FISCHGEFÜHLE +++  CATAPLANA

Hallo!

Wir sind schon ganz schön viele, und das macht mich ein wenig beklommen. Der Plan war, mich mit 20 Abonnent*innen durch die Jahreswende zu schummeln und in Ruhe zu üben, aber im Gratis-Bereich hat sich die Zahl schon ganz schön vervielfacht. Dafür Dank!

Trotzdem übe ich jetzt hier öffentlich weiter und spiele mit Formen und Stimmungen und Rubriken und Links und Videos, die wie immer unten stehen.

1. Die Lage

Sie ist nicht gut. And now for something completely different!

Dies ist mein erster Unterwasser-Newsletter. (Hundert Prozent weihnachtsfrei!)  Vor einer Weile habe ich via Twitter die Unterwasser-Livestreams der „NOAA Ocean Exploration“ entdeckt: Abenteuer eines Tauchroboters mit ferngesteuerter Kamera in 1000 oder 2000 Meter Tiefe. Die NOAA ist eine fiese US-amerikanische Regierungseinrichtung, die den Meeresboden vermisst und dabei auch nach Bodenschätzen sucht, sie hat aber immer auch ein paar liebe Biolog*innen dabei, die uns in eine seltsame Welt zwischen Faszination und Ekel entführen.

Ruhe. Frieden. Ab und zu ein Anglerfisch, der auf einem toten Korallenstock hockt und auf Beute wartet. Einsamkeit, leise Zellteilung, wie nebensächliches einander Verschlingen. Ein paar Tintenfische huschen vorbei. Am Boden liegt so etwas wie eine endlos langgezogene Erbsenschote, es ist aber ein Hai. Dann plötzlich, vor der Küste Floridas, ein alter Fußball.

Nicht hier sein. Weit weg sein, live und sofort. Ein Segen.

Aus irgendeinem Grund sitzen, während ich diesen Newsletter schreibe, die ganze Zeit meine beiden Krähen auf dem Baum vor meinem Fenster und sind einfach da. Ich beziehe das nicht auf mich. Ich beziehe das aber auch nicht nicht auf mich.

2. Tier des Monats

Eine Bezahlabonnentin hat mich schwer unter Druck gesetzt, hier über ihren Hund zu berichten. Ich halte diesem Druck stand.

Mein Tier des Monats ist die Pusteblumen-Siphonophore. Es steht aber nicht fest, ob und auf welche Weise eine Siphonophore wirklich ein Tier ist - ein Individuum ist sie jedenfalls nicht. Sie ist eine Ansammlung identischer Zellen, die sich im Ganzen dieses „Tierstocks“ (ja, so nennt man das, Deutsch ist eine harte Sprache) verschiedene Aufgaben geben und verschieden ausformen. So entstehen Fortbewegungszellen, Fangzellen, Verdauungszellen, was man so braucht.

Aber wie? Und was heißt „sich Aufgaben geben“? Wer verteilt die Aufgaben? Es gibt ja keine höhere Intelligenz, die etwas anordnen könnte, nur wirklich flache Hierarchien.

Und trotzdem bildet sich diese Form, und im Fall der Pusteblumen-Siphonophore ist sie für unsere Augen dazu noch wirklich schön. (Das Foto ist ein Screenshot aus einem Video der NOAA, das man sich unten anschauen kann.) Und im Fall, dass sie beschädigt oder zerstört wird, bildet diese Form sich bei vielen Siphonophoren wieder neu.

Siphonophoren sind mit den Quallen und Korallen verwandt und leben freischwimmend im Meer. Manche, wie die Pusteblume, verankern sich auch am Boden. Sie sind Nesseltiere, das heißt sie fangen ihre erstaunlich große Beute mit giftigen Nesselfäden. Die Portugiesische Galeere schwimmt gern auch an der Wasseroberfläche und kann Menschen schweren Schaden zufügen.

Auf Deutsch heißen die Siphonophorae „Staatsquallen“, weil man sich zur Zeit ihrer Benennung kollektive Organisation nur als Staat vorstellen konnte. So viele deutsche Worte tragen noch immer Pickelhaube! Die größte Staatsqualle kann über 40 Meter lang werden und wäre, wenn sie ein Tier wäre, das längste Tier der Welt.

Die Siphonophore ist ein Lebewesen, das zielgerichtet handelt, aber sie ist kein Individuum. Das ist so schön verwirrend. Die Pusteblumen-Siphonophore macht mich ratlos, und ich finde Ratlosigkeit ein so schönes Gefühl. Das letzte Mal war ich so ratlos, als ich einen langen Text zur der Frage gelesen habe, ob Viren leben.

Nach geltender Definition tun sie es nicht. Sind Viren also kleine Maschinen? Und ergibt es Sinn, einem Ding, dass sich so energisch in unser Leben einmischt und es uns manchmal nimmt, das sich in uns vermehrt und in uns mutiert, das Leben abzusprechen? Müssen wir also unseren Begriff von Leben erweitern – so wie die Staatsquallen uns nahelegen, unseren Begriff des Individuums zu überprüfen? Und wie schnell fahren wir das dann an die Esoterikwand?

Bei mir wirken solche Fragen ein bisschen wie Lachgas. Ratlosigkeit tröstet mich. Außerdem befreit die Befragung der Siphonophore mich ein bisschen von dem Druck, mich selbst als Individuum beweisen zu müssen. Evolutionsbiologisch betrachtet spräche zum Beispiel einiges dafür, mich selbst als Werkzeug einer Kolonie aus Millionen von Darmbakterien zu betrachten, die mich nur besiedelt haben und am Leben erhalten, um mich dazu zu manipulieren, ihnen Nahrung zuzuführen. Soviel zur Krone der Schöpfung und zum Anthropozän.

3. Buchtipp

Eines meiner Lieblingsbücher zeigt von starken Gefühlen geschüttelte Fische. Fische als Affektanzeiger, könnte man auch sagen. Immer, wenn man umblättert, sieht man einen neuen Fisch und ein neues Gefühl. Das Buch stammt von der niederländischen Grafikerin Mies van Hout und heißt „Heute bin ich“. Es ist ein Bestseller, aber ich finde es leider trotzdem toll.

Das Buch ist für die Altersstufe 3 - 5 gedacht, und ich habe es einmal mit einer Vierjährigen durchgespielt. (Man muss ganz deutlich die Grimassen nachmachen, die die Fische zwecks Gefühlsausdruck ziehen!) „Heute bin ich“ dabei jedes Mal anders drauf. Ich wünsche dieses Buch auch allen Erwachsenen als Arbeitsbuch, zum Nachspielen und Benennen von Gefühlen unter Wasser, damit man lernt, sie auch an der Luft bei sich selbst zu entdecken.

Es ist nicht so einfach, zu wissen und sagen zu können, was man fühlt. Und damit fertigzuwerden, dass es oft jeden Tag etwas anderes ist.

4. Promiklatsch

Sorry, fällt heute aus. Unter Wasser gibt es keine Promis uns keinen Klatsch. <shruggie>|

5. Schlusswort

Danke fürs Lesen. Danke fürs Abonnieren. Danke fürs Weitersagen, Dank im Voraus für Feedback aller Art. Und danke fürs Bezahlabo Abschließen, wenn das Geld reicht! Auf besonderen Wunsch habe ich noch eine Bezahlmöglichkeit für den kleineren Geldbeutel hinzugefügt. Den Gutverdiener*nnen sicher souverän ignorieren werden.

Zum Stand des Weltuntergangs – ich weiß auch nicht. Vielleicht ist das Untergangsgefühl, das dieser Newsletter zum Ausdruck bringen und teilen möchte, auch eine Art Beharren auf das Dabeisein bis zum Schluss? Auf das Wachbleiben und den Verzicht auf Verdrängung?

Besondere Grüße gehen raus an alle, die über die Feiertage mit Impfgegnern zu tun haben!

Links & Vids

Die Pusteblumen-Siphonophore:

https://www.youtube.com/watch?v=WEiu4eEw4pc (Öffnet in neuem Fenster)

Mehr Siphonophoren-Content (auf Englisch):

https://www.wired.com/2014/08/absurd-creature-of-the-week-siphonophore/ (Öffnet in neuem Fenster)

HEUTE BIN ICH von Mies van Hout:

https://www.genialokal.de/Produkt/Mies-van-Hout/Heute-bin-ich_lid_17963044.html (Öffnet in neuem Fenster)

Unterwassergericht, das ich während der Verfertigung des Newsletters gekocht und mit einer Lieblingsbonnentin gegessen habe:

https://www.frag-mutti.de/cataplana-portugiesischer-fischeintopf-a58453/ (Öffnet in neuem Fenster)

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