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Joseph Roth - Schönbrunn (1919)

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

diese Reportage ist nicht besonders gut, aber sie trifft wunderbar ein Gefühl. Joseph Roth steht im Schloss Schönbrunn. Wir modernen Touristen kennen es als Pflichtprogramm eines jeden Wien-Besuchs und dann macht man eine Führung, wird durch ein paar Räume geführt, erfährt jede Menge total uninteressante oder unwichtige Dinge über das Leben der mittlerweile unwichtigen Habsburger und man macht diverse Fotos, die man dann eh nicht mehr anguckt.

Joseph Roth steht in den gleichen Räumen. Aber 1919. Kurz nach Zusammenbruch der Doppelmonarchie, kurz nach Abgang der Habsburger. Nicht in einem Museum, sondern in den Räumen, die noch vor Kurzem bewohnt waren.

Die Besichtigung der Gemächer freigegeben

Ein Schloßhauptmann und ein Zeremoniendirektorstellvertreter und ein Diener mit einer altösterreichischen Amtskappe und ebensolchem, d.h. böhmischem Dialekt sind geblieben. Das sind die Reste des Märchens von Schönbrunn.

Die Bäume fröstelt's im naßkalten Herbstregen. Sie stehen da wie Menschen, die man im Regen zurückläßt und warten heißt und die sich nicht wegrühren können und patschnaß werden müssen.

Die Zimmer, Kabinette, die Vorzimmer, die Stiegen heißen noch so, wie man's von Zimmern und Stiegen aus Märchenbüchern erwartet. Die »Trabantenstube«, das »chinesische Rundkabinett«, das »Vieuxlac-Zimmer«, das »Millionenzimmer«. Und das Imperfektum in den Erklärungen des Dieners und des Schloßhauptmanns: hier pflegte ... hier stand ... hier starb ... dort wurde ... Wie seltsam glimmert das Wunder durch die Kruste von Staub und Geschichte!

Eine Stiege. Steinfliesen, blauer Plafond. Breit, herrisch. Man schämt sich vor dieser Stiege, wie man so dasteht in einem bürgerlichen Winterrock, mit aufgekrempelter und kotbespritzter Hose. Es ist die – oh, wie wunderbar! –, die »blaue Stiege«. Wohin anders kann sie führen als in die »Trabantenstube«?

Da ist eine braune zierliche Fußbodentäfelung. Ein falbes Braun, wie das der Lindenblätter im Spätherbst. Soll man darauf treten? Auf die Diele eines echten »Nußbaumzimmers«?

In einem großen, kahlen Zimmer steht ein Schreibtisch am Fenster, ein alter, sehr kleinbürgerlicher Toilettespiegel drückt sich schüchtern in einen Winkel. Und in der anderen Ecke steht das Bett, das eiserne Bett. Puritanisches Eisen. Hier starb ein alter Kaiser. Deshalb heißt es das »Sterbezimmer«.

Kaiser Karl hat die angrenzenden Appartements neu herrichten lassen. Die Kaiserin Zita sollte dort wohnen. Die Geschichte, die zu machen sie sich einbildeten, ist ihnen zuvorgekommen. Kaiserin Zita hat nie dort gewohnt.

Hat nie gewohnt in diesem großen Rosar-Zimmer.

Ein großes Gemälde, die alte Habsburg im Aargau, hängt an der Wand. Bilder des Malers Rosar. Sie sind geschmeichelte Landschaftsporträts. Als hätte der Maler der gnädigen Frau Natur beim Porträtieren zugerufen: Bitte recht freundlich! Und die Natur hätte gelächelt ... Was ist das? Ein Kabinett wie ein Tempelchen aus dem Osten. So rund, so zierlich, so wunderbar wie ein Kapitelchen aus der Geschichte von Li-Hu-Tsang und Tai-Pe-To. Pastellbildchen an den Wänden, wie hingehaucht von einem fernen, wunderbaren Ostwind, der Teeblüten im Haar trägt und kleine silberne Glöckchen um die Schultern. Das »chinesische Rundkabinett«.

Dort rieche ich den Moder der Jahrhunderte. Ein paar Kapitel Weltgeschichte liegen aufgeschichtet auf dem Bett, auf dem Napoleon schlief und der Herzog von Reichstadt starb. Der Diener, ein Interpret der Ereignisse mit böhmischer Färbung, weiß genau das Datum.

Wißt ihr, wie chinesisches Rosenholz ist? Schüchterne Röte kleiner Mädchenbrüste. Es ist eine Farbe, die Duft hat. Dazwischen indische Zeichnungen, wie mit einer Nadel, die man in Farbe getaucht, ausgeführt. Und die Zeichnungen kommen aus Konstantinopel, der Stadt am Goldenen Horn, dorther, wo das Horn am goldensten ist. Über eine Million hat die Kaiserin Maria Theresia dafür ausgegeben, für dieses seltsamfremde »Millionenzimmer«.

Ein Besen lehnt in einer Ecke und ein »Bartwisch«. Sie repräsentieren die Gegenwart. Sie spielen Realität. »Weißt du«, sagt der »Bartwisch« zum Besen, »oben, im zweiten Stock, werden hundertsieben Proletarierkinder amerikanisch gespeist!«

»So, so, amerikanisch!« meint der Besen und schielt in das chinesische Rundkabinett ...

Der Neue Tag, 4. 11. 1919