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Die Schuld am eigenen Pech

Guten Abend aus Köln,

 ja, es ist tatsächlich schon Abend. Die Sonne steht tief, wenn ich frisch geduscht aus dem Fenster schaue, und damit habe ich gerade ein größeres Problem, denn ich komme jetzt erst aus der Mittagspause. Eigentlich hatte ich mich heute vom guten Wetter zu einer aktiven Mittagspause hingerissen gefühlt und nachmittags nochmal durchstarten wollen in Sachen Geldverdienen. Doch diese Mittagspause war erst um 17:30 Uhr vorbei. Und ich entsprechend angefressen.

Wieso jetzt schon wieder ich?

Das habe ich ganz kurz gedacht, als ich zwischen irgendwo und Elsdorf (muss man nicht kennen, aber den Tagebau Hambach hat man vielleicht schonmal gehört) gerade noch die Endorphine abbauen musste, die ich beim erstaunlich sportlichen Ritt gegen den Wind aus Südosten aufgebaut hatte und in kurze Wut verfiel. Einen edlen Steady-Abonnenten beschimpfte ich per WhatsApp, dann fing ich mich wieder. Die Tour, die gerade Fahrt aufgenommen hatte, war mal wieder vorzeitig vorbei.

Hörer unseres Podcasts wissen: Zuletzt lief nicht alles glatt beim Radsport-Autor. In Bremen beim Rennen am Rande der Deutschland-Tour hielt der Vorderreifen nicht mehr dicht. Statt Top-100 Stopp nach 4 Kilometern. Nach Wartung fuhr ich ihn vor zwei Wochen bei der Ausfahrt mit David wieder platt, offensichtlich war die Karkasse nicht tauglich, dem Rollsplit Paroli zu bieten. Danach tauschte ich, fuhr neues Material auf. Wunderbar! Und heute dann, beim Durchqueren eines Grünstreifens (das Navi zeigte mir Linksabbiegen an) stürzte ich nicht nur, sondern hörte noch während des Polterns auf den Asphalt das gefürchtete Zischen aus der Nähe des Rahmens. Der Vorderreifen: aufgerissen. Ich schaute mir den Grünstreifen nochmal genauer an und sah eine Metallschiene, oben scharf, die ein paar Zentimeter über den Boden ragte. Glatter Schnitt im neuen Reifen, genug Widerstand für einen Sturz.

Pech gehabt! Wieso also wieder ich?

Dann hatte ich die perfekte Überleitung für einen Newsletter, den ich sowieso schon hatte schreiben wollen. Denn das war alles andere als Pech. Es war, das muss ich so klar sagen, ein ganz eigener, mir zuzurechnender Fehler. Dass ich durch den Grünstreifen fahre, um einen Weg abzukürzen: meine eigene Entscheidung. Das empirische Wissen, dass man durch Rasen fahren kann: keine Ausrede, kein Grund. Die Fakten: Ich wusste nicht, wodurch ich fahre, ich habe diese Entscheidung schlechte gefällt. Die Quittung: Warten auf einen Bus, Busfahrt, Umsteigen, Busfahrt, Umsteigen, S-Bahnfahrt, Umsteigen, Straßenbahnfahrt, noch ein paar Hundert Meter zu Fuß. Ich brauche neues Material und verdiene heute kein Geld mehr. Selber schuld!

Klingt hart? Ja. Ist aber schon sehr viel dran. Ich möchte nämlich verweisen auf ein Interview, das ich vor einigen Wochen mit einer bemerkenswerten Gesprächspartnerin für das Magazin TOUR geführt habe. Ich sprach mit Chloe Dygert, die soeben Weltmeisterin im Einzelzeitfahren geworden war.

https://www.tour-magazin.de/profi-radsport/aktuelles/interview-mit-chloe-dygert-gott-hat-einen-plan-fuer-mich/ (Öffnet in neuem Fenster)

Die US-Amerikanerin lieferte dieses Jahr die Comeback-Story des Radsports, nach einem dramatischen Sturz bei der WM in Imola 2020 hatte sie sich ohne Übertreibung so schwer verletzt, dass nicht nur ihre Karriere, sondern mindestens der Erhalt eines Beines und vielleicht sogar ihres Lebens auf der Kippe stand. Es folgt eine Leidensgeschichte mit mehreren OPs und eine Infektion, die Dygert noch weiter aus der Bahn warf.

Pech gehabt? Dygert ist da unerbittlich: „An meinem Sturz bin nur ich schuld. Ich hatte eine satte Führung im Zeitfahren und habe unnötig viel riskiert. Danach habe ich nicht den richtigen Chirurgen ausgewählt, weshalb ich gleich dreimal operiert werden musste. Ich habe immer weiter Fehler gemacht und deshalb hat es länger gedauert zurückzukommen.“ Ich fand diese Persönlichkeit, diese harte Analyse einer Person über ihr eigenes Leben so offen und außergewöhnlich, dass ich hier gern nochmal darauf hinweise. Denn Radfahren ist ja mehr als Schnellfahren, gute Laune, Risiko und Rekorde – mehr als tolles Material und lustiger Content. Es ist auch immer eine Schule der Reflexion, des Selbstbildes und des Umgangs mit dem eigenen Schicksal – ohne zu bewerten, ob Schicksal überhaupt ein Wort mit tieferer Bedeutung ist. Dygert macht nur sich verantwortlich dafür, dass ihr Leben eine ganze Zeit lang unerfreulich verlief und ihre Ziele weit entfernt waren. „Es gab Tage, an denen es mir egal war, ob ich lebe oder tot bin, um ehrlich zu sein. Ich meine, es passierte einfach so viel, und es war mir wirklich egal. Es gab richtig schlimme Tage“, sagte sie mir.

Ich gebe hiermit den Lesetipp, auch als Erinnerung an mich selbst. Ein Einschätzungsfehler kann passieren, ein Reifen kann kaputtgehen, die Verantwortung dafür trage ich selbst (und habe den neuen Reifen noch im Bus bestellt). Letztlich trage ich auch die Verantwortung dafür, dass mein Laptop samt Rucksack in Brüssel geklaut wurde. Hätte ich da wachsamer agiert, wäre das nicht passiert. Kein Pech – es war ein eigener Fehler. Nicht jeder Fehler lässt sich verhindern, aber drüber jammern will ich auch nicht mehr.

In diesem Sinne – wir freuen uns, wenn Ihr uns helft, diesen Newsletter auch zu verbreiten.

Kette rechts!

Tim

PS: In Köln hat es zuletzt eine sehr betrübliche Nachricht gegeben. Der in der Szene sehr bekannte und hochgeschätzte Zarko (bekannt unter dem Titel Laurad-Tuning) ist am 16. September gestorben. Es ist eine schockierende Nachricht für viele Menschen, die mit Zarko bekannt und befreundet waren. Unser Freund Orhan hat spontan, nach Rücksprache mit Zarkos Witwe, eine Spendenaktion aufgesetzt, gerade auch als Zeichen der Verbundenheit mit diesem Original des Sports. Auf die Aktion möchte ich sehr gern hinweisen: https://www.paypal.com/pools/c/8XKtwik7qZ (Öffnet in neuem Fenster)

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