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Der junge Löwe

Über eine Fotografie im Nachlaß meines Onkels und seine Stasi-Akte von 1961, eine Flucht im Kofferraum nach West-Berlin und den Gestank der Angst, der nie vergeht

Als Eberhard Hüttig am Abend des 18. Februar 2015 in Basel starb, lag auf seinem Nachttisch im Universitätsspital eine abgewetzte Mappe. Als ich sie in die Hand nahm, fiel etwas heraus.

Ein Foto, schwarzweiß, vergilbt. Ein junger Mann, vielleicht ein Student, im Straßenanzug, mit Brille und weißem Hemdkragen. Dem Betrachter zugewandt, sitzt er auf einer Bank. Seine Hände halten einen jungen Löwen.

Im Hintergrund sieht man verschwommen eine Gruppe von Menschen, die hinter einem kniehohen Zaun auf etwas zu warten scheinen. Auf den Studenten? Oder darauf, sich mit dem Löwen fotografieren zu lassen?

Auf der Rückseite entdeckte ich den Stempel eines Leipziger Fotografen. Daneben stand in krakeliger Schrift: „Pfingsten 1960“.

Es ist die Brille, an der ich meinen Onkel erkenne. Eine Hornbrille mit dicken Gläsern. Sein Leben lang trug er diese schweren Brillen, durch deren Gläser die Augen kleiner erschienen. Wegen seiner Augen, sagte er einmal zu mir, habe er nicht Arzt werden können.

An dem Tag, als das Foto im Leipziger Zoo entstand, war er 21. Ein möblierter Herr, wohnhaft in der Scheffelstraße in Connewitz. Er war noch nicht lange in der Stadt. Seit acht Monaten arbeitete er als Krankenpfleger an der Medizinischen Klinik der Karl-Marx-Universität. Er wollte Medizin studieren, aber dazu kam es nicht – nicht in Leipzig.

Der 22. August 1961. Er will gerade zur Arbeit gehen. Als er aus der Tür tritt, stehen zwei Polizisten vor ihm und fordern ihn auf mitzukommen.

Er ist so verblüfft, daß er kein Wort herausbekommt. Doch als sie ihn auf die Rückbank eines wartenden Autos schieben und die Tür hinter ihm zuknallt, bricht ihm der Schweiß aus allen Poren.

In einer Zelle muß er warten. Zwei Stunden? Drei? Er weiß es nicht. Die Uhr hat man ihm abgenommen, seine Tasche, die Schnürsenkel. Zwischen den Gitterstäben glänzt blau der Himmel.

Es muß gegen Mittag sein, denn sein Magen knurrt, als man ihn zum Verhör abholt. Der Mann hinter dem Schreibtisch schaut nicht auf, als er in den Raum geführt wird.

„Hüttig, Eberhard, geboren am 13. August 1938 in Gera.“

Buchstabe für Buchstabe, Zahl für Zahl hackt der Mann in die Schreibmaschine. Plötzlich ist es still. Nur das Summen der Neonröhren ist zu hören.

„Sie wissen, warum Sie hier sind?“ Es klingt nicht wie eine Frage, sondern wie eine Feststellung.

Er preßt die Lippen zusammen. Seine Hände sind eiskalt, während er fieberhaft überlegt. Soll er sagen, daß er es weiß? Oder wollen sie nur ein Geständnis aus ihm herauslocken?

Der andere wartet seine Antwort nicht ab. Er fixiert ihn aus grauen Augen. Dann spricht er es aus, langsam und mit übertriebener Deutlichkeit. Es fühlt sich an wie ein Schlag in die Magengrube.

Ich weiß nicht, wie es wirklich war. Er hat es mir nie erzählt. Mir nicht und auch sonst keinem. Alles, was ich weiß, weiß ich aus seiner Stasi-Akte.

Aus dem Protokoll der Vernehmung durch Hauptwachtmeister Deuse. Aus der Anklage durch Staatsanwältin Schüritz und dem Protokoll der Gerichtsverhandlung am Kreisgericht Leipzig, geführt von der Justizbeamtin Feustel. Aus dem Urteil, gesprochen von Richter Dr. Engelmann.

Seine Aussage bei der Vernehmung am 22. August 1961 hat er unterschreiben müssen, auf jeder Seite einmal. Auf der ersten Seite kürzt er seinen Vornamen mit E. ab. Offenbar hat man ihn dann aufgefordert, ihn auszuschreiben. Auf den folgenden Seiten unterschreibt er mit seinem vollen Namen.

Seine Handschrift sieht anders aus als die auf der Rückseite des Fotos mit dem Löwen. Als würde ein Wind durch die Buchstaben wehen.

Er sehe, gibt er als letztes zu Protokoll, seinen Fehler ein. Er wisse, daß er „unserem Staat“ damit geschadet habe. In Zukunft werde er alles versuchen, daß er diesen Fehler wiedergutmachen könne.

„Allerdings möchte ich auf keinen Fall eingesperrt werden.“

Ein fataler Fehler, heißt es, wenn von einem Unglück die Rede ist: eine falsch gestellte Weiche, eine achtlos weggeworfene Zigarette.

Welchen Fehler hat Eberhard Hüttig begangen?

„Dem Beschuldigten wird Beihilfe zur Republikflucht zur Last gelegt. Er traf sich nach Verabredung mit seiner Schwester A. in Berlin und brachte sie über die Grenze in die Nähe des Flughafens Tempelhof, von wo aus sie mit dem Flugzeug das Gebiet der DDR illegal verließ.“

Der Beschuldigte, schreibt der Hauptwachtmeister in seinem Schlußbericht, hätte sich darüber im klaren sein müssen, daß seine Handlungsweise „gerade in der jetzigen Situation sehr gesellschaftsgefährlich“ ist. Er hätte auf seine Schwester einwirken und sie daran hindern müssen, die DDR zu verlassen.

„Er tat dies jedoch nicht, sondern unterstützte sie noch beim Verrat am ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat.“

Es ist kein Fehler. Es ist ein Vergehen gemäß Paragraph 8 des Paßgesetzes.

Am 19. Juli 1961 ist der Himmel über Berlin wolkenverhangen. Die Stadt ist geteilt, aber noch trennen weder Mauer noch Stacheldraht die beiden Hälften.

Eberhard ist mit dem Zug aus Leipzig gekommen, A. aus Gera, über Erfurt und Halle. Sie treffen sich in der Stalinallee. Irgendwo trinken sie einen Kaffee. Dann gehen sie in Richtung Westsektor. So hat es Eberhard bei seiner Vernehmung erzählt.

„Wir liefen die Straße Unter den Linden entlang und haben durch das Brandenburger Tor das demokratische Berlin verlassen.“

Sind sie wirklich so weit gelaufen? Der Vernehmer fragt nicht nach. Offenbar weiß er nicht, daß es sechs Kilometer sind von der Stalinallee bis zum Brandenburger Tor.

In West-Berlin nehmen sie einen Bus nach Tempelhof. In der Nähe des Flughafens trennen sie sich.

„In West-Berlin haben wir außer einer Flasche Coca-Cola nichts weiter verzehrt.“

Sie betrachten ihn wie ein lästiges Insekt. Nicht wie einen Löwen.

Sechzig Jahre später wähle ich die Nummer von A. in München. Sie war 18, als sie mit ihrem Bruder die Sektorengrenze passierte. „Am Brandenburger Tor?“ Sie klingt erstaunt. „Nein, das stimmt nicht.“

Von Leipzig nach Berlin seien sie zusammen gefahren und dort in eine S-Bahn nach Potsdam gestiegen. Er habe gewußt, daß die S-Bahn in West-Berlin hielt. An der ersten Station seien sie ausgestiegen.

Ich frage, ob sie kontrolliert worden sind.

Es seien Polizisten durch den Wagen gelaufen. Eberhard habe zu ihr gesagt: „Tu doch dein Köfferchen unter den Sitz.“ Als die Polizisten kamen, hatte sie nur ihre Handtasche. „Darin hatte ich all mein Erspartes und meinen Kaufmannsgehilfenbrief.“

Sie überlegt. „Ich hatte ein Sommerkleid an und einen dünnen Mantel. Das war alles.“

Mit einem Bus seien sie nach Tempelhof gefahren. Am Flughafen hätten sie sich verabschiedet. „Ich habe ihn gefragt, ob er demnächst nachkommt. Da hat er gesagt: Später mal, jetzt noch nicht.“

Drei Stunden darauf ging ihr Flug nach Frankfurt.

Hat er ihr später erzählt, daß er wegen Beihilfe zur Republikflucht verurteilt wurde?

„Ich habe es gewußt. Aber erzählt hat er nie was. Kein Wort.“

Am 26. September 1961 erhebt die Staatsanwältin Anklage. Dem „Beschuldigten Hüttig“ wirft sie vor, nicht ernsthaft gegen die Absichten seiner Schwester aufgetreten zu sein.

„Er hätte erkennen müssen, daß sie in Westdeutschland, an welcher Stelle sie auch arbeitet, die Vorbereitungen der westdeutschen Imperialisten zu einem 3. Weltkrieg unterstützt.“ In der Hauptverhandlung müsse dem Beschuldigten „das Verwerfliche seines Tuns“ klar werden.

Der Prozeß ist auf den 25. Oktober angesetzt: vor der Strafkammer des Kreisgerichts Leipzig, Stadtbezirk Süd.

Er trägt ein weißes Hemd, seine Wangen sind glatt rasiert. Ein Nachbar, dem er hin und wieder im Treppenhaus begegnet, hat ihm eine Krawatte geliehen. Für eine Theaterpremiere, hat Eberhard gesagt, obwohl der andere gar nicht gefragt hat.

Auch den Knoten hat der Nachbar gebunden. Er sitzt ein wenig zu fest. Wie eine Schlinge, denkt Eberhard und nestelt die ganze Zeit an seiner Kehle.

Ich sehe die Blicke vor mir. Die kalte Verachtung in den Augen der Richter. Sie betrachten ihn wie ein lästiges Insekt. Nicht wie einen Löwen.

Wegen der „großen Gesellschaftsgefährlichkeit seiner Handlungsweise“ wird er zu einer Gefängnisstrafe von 6 Monaten verurteilt. Da er bisher „völlig unbescholten durchs Leben gegangen“ sei und seine Tat bereue, wird die Strafe zur Bewährung ausgesetzt.

„Es wird nunmehr an dem Angeklagten liegen, ob er sich dieser Rechtswohltat würdig erweist, so daß er nach Ablauf der Bewährungszeit als unbestrafter Bürger in unserem Arbeiter- und Bauern-Staat leben und für den weiteren Aufbau des Sozialismus tätig sein kann.“

Als Eberhard das Gerichtsgebäude verläßt, fällt eine Last von ihm ab. In vollen Zügen atmet er die Herbstluft ein. Feine Regentropfen sprühen ihm ins Gesicht und auf die Brillengläser; er merkt es kaum.

Während er zur Straßenbahn geht, denkt er an den 19. Juli, als er A. nach West-Berlin gebracht hat. Am Nachmittag ist er noch über den Ku’damm spaziert und hat sich die Nase an den Schaufenstern plattgedrückt. Am liebsten wäre er ins Kino gegangen, aber dafür reichte sein Geld nicht. Erst spät in der Nacht war er wieder in Leipzig.

Und er denkt an den 13. August, als er im Radio hörte, daß man in der Nacht in Berlin die Sektorengrenze abgeriegelt hat. Es war sein 23. Geburtstag, aber nach Feiern war ihm nicht zumute.

Als A. ihn gefragt hat, ob er bald nachkommt, hat er gesagt: „Später mal.“ Jetzt ist es zu spät.

Aber nein. Er schüttelt den Gedanken ab. Es wird sich schon ein Weg finden.

Fünf Jahre danach ist es soweit.

Eines Morgens hockt er auf dem Ku’damm auf einer Bank: übernächtigt, unrasiert. Den Gestank der Angst wird er so bald nicht loswerden. Er sitzt in seinen Kleidern und in seiner Seele. Die Kleider kann er wegwerfen, aber die Seele?

Wie hat er damals zu seinem Vernehmer gesagt? „Allerdings möchte ich auf keinen Fall eingesperrt werden.“ Jetzt war er es doch. Eingesperrt in die Dunkelheit eines Kofferraums. Zusammengekrümmt, schweißgebadet. Sein Herz raste, fast wäre er erstickt.

Das stinkt ja wie im Raubtierhaus, sagte der Schleuser, als er ihn endlich aus seinem Versteck befreite. Benommen, wie er war, hatte Eberhard nichts gesagt, aber er hatte an die Löwen im Leipziger Zoo denken müssen.

Ein Mann und eine Frau gehen vorbei, die Frau mustert ihn abschätzig. Riecht sie es auch? Sie sagt etwas zu ihrem Begleiter, der dreht sich nach ihm um. Während sie weitergehen, hört er ihr Lachen. Das dunkle, rauhe des Mannes, das grelle der Frau.

Sein Magen knurrt; seit zwei Tagen hat er nichts gegessen. Auf der anderen Straßenseite ist ein Café, davor sitzen Menschen in der Sonne. Er könnte hinübergehen, sich an einen Tisch setzen und etwas bestellen. Doch er hockt nur da und hält sich an seiner Aktentasche fest. Für die glänzenden Schaufenster hat er keinen Blick.

Es ist, als irre er noch immer durch diesen Wald, in den ihn der Schleuser bestellt hat. Zwei Nächte hat er auf das Fluchtauto gewartet. Es war so finster, daß er die Hand vor Augen nicht sah. Bei jedem Knacken im Unterholz fuhr er zusammen. 

Als ich ihn kennenlernte, war er ein alter Mann. Seine Brillengläser dick wie Flaschenböden. Der Blick dahinter: scheu, von Unruhe erfüllt. Zugleich hatte er etwas Hochfahrendes. Als müßte er seine Unsicherheit durch Schroffheit überspielen.

Wir trafen uns in Basel, wo er seit den siebziger Jahren lebte. Nach ein paar Semestern Medizin in Heidelberg hatte er wieder als Krankenpfleger gearbeitet.

Einmal gab er mir ein Kuvert. Es enthielt Fotos von der Berliner Mauer und den Grenzanlagen. Nach seinem Tod fand ich in seiner Wohnung bunte Mauerstücke und einen nicht ausgefüllten Antrag auf Einsicht in seine Stasi-Akte.

Manchmal rief er mich an. Er sagte nie seinen Namen, sondern begann sofort zu sprechen. Hastig, raunend. Als hätte er Angst, daß er abgehört wird.

Er sagte, von seinem Fenster aus sehe er die Flugzeuge aufsteigen. Auch das Flugzeug, mit dem ich neulich nach Berlin zurückgeflogen sei, habe er gesehen. Er sagte, ich solle vorsichtig sein, wenn ich nachts durch die Straßen gehe. „Es sind schon Leute von Brücken gestoßen worden.“

Ob er manchmal das Foto mit dem Löwen zur Hand nahm? Auf seiner Flucht muß er es dabeigehabt haben, im Juni 1966. Anders kann ich mir nicht erklären, daß es erhalten geblieben ist.

War es für ihn eine Art Talisman? Wie auch immer – es hat ihm etwas bedeutet. Warum sonst sollte er es ins Krankenhaus mitgenommen haben?

Was hat er gedacht, als er es betrachtete: ein halbes Jahrhundert später, ein paar Stunden vor seinem Tod?

Damals im Leipziger Zoo lag alles noch vor ihm. Der Himmel war blau, von keiner Wolke getrübt, so wie die Zukunft, die jetzt begann, in diesem Augenblick. Kein Gedanke an Mauer und Stacheldraht, an Todesangst und schwarze Wälder, aus denen es kein Entrinnen gibt.

Voller Erwartungen blickt er in die Kamera. Als sehe er sich selbst, so wie er sich sehen will.

Ein junger Löwe.

Am 28. Juli ist A. in München gestorben. Ihr ist diese Geschichte gewidmet.

Diese Geschichte habe ich am 13. August 2023 an 735 Leserinnen und Leser verschickt. Wenn auch Sie meine Geschichten erhalten wollen, tragen Sie sich gern hier ein.

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