Die feindliche Kugel
Über eine rostige Kanonenkugel und eine verwitterte Steinpyramide, eine letzte Liebe, den Geschmack von Eisen und einen Fund auf einem Dresdner Dachboden
In Lüneburg, gegenüber der Michaeliskirche, in der vor dreihundert Jahren Johann Sebastian Bach als Chorknabe sang, steht ein Haus, in dessen Backsteinmauer eine Kanonenkugel steckt. Ein paar Schritte weiter, kurz bevor rechterhand eine Pflastersteinstraße mit dem seltsamen Namen „Auf dem Meere“ abgeht, stößt man noch auf eine zweite Kugel.
Der Platz, den die Häuser säumen, ist so still und friedlich, daß er etwas Verwunschenes hat mit seinen alten Steinen und den im Sommer rauschenden Linden. Manchmal hört man hinter den Kirchenmauern die Klänge der Orgel. Wären nicht die Verkehrsschilder und die parkenden Autos: man könnte glauben, in ein anderes Jahrhundert geraten zu sein.
Der Krach eines Kanonenschusses – ein größerer Kontrast zu dieser Szenerie ist kaum denkbar. Vielleicht geht mir der Anblick der Kugel deshalb nach. Wann immer ich dort vorbeikomme, suche ich sie mit den Augen, als müßte ich mich versichern, daß ich sie nicht geträumt habe.
Seit wann sie in der Mauer steckt? Eine vor kurzem erneuerte Inschrift nennt den 1. April 1813. Damals kam es in Lüneburg zu einem Gefecht zwischen napoleonischem Militär und verbündeten preußischen und russischen Truppen. Die französischen Bataillone mußten eine blutige Niederlage einstecken. Allerdings bestanden sie mehrheitlich gar nicht aus Franzosen, sondern aus sächsischen Infanteristen.
Daß die Kugel damals verschossen wurde, ist unwahrscheinlich. So dekorativ wäre sie kaum in der Hauswand steckengeblieben. Vermutlich hat man sie hundert Jahre später dort eingelassen – vielleicht an jenem Frühlingstag 1913, als man ein paar Straßen weiter vor dutzenden schwarzen Zylinderhüten und Kaiser-Wilhelm-Bärten das Denkmal für Johanna Stegen einweihte. Der Legende nach hatte das Lüneburger Dienstmädchen in jenen von Pulverdampf erfüllten Apriltagen die drohende Niederlage der preußischen Soldaten dadurch abgewendet, daß es in seiner Schürze die dringend benötigte Munition heranschaffte.
Noch im selben Jahr widmete ihr Karl August Varnhagen von Ense ein Gedicht mit der kriegsbesoffenen letzten Strophe: „Frisch auf! Ihr Kameraden, / Es gilt den besten Schuß! / Von solcher Hand zu laden, / Das Herz ja treffen muß!“
Wenige Monate darauf, bei einem anderen Gefecht in Norddeutschland, wurde ein junger Mann von nicht einmal 22 Jahren getötet. Anders als seine sächsischen Landsleute in Lüneburg stand er jedoch nicht auf Seiten der Franzosen.
Theodor Körner, geboren 1791 in Dresden, hatte sich dem Lützower Freikorps angeschlossen, das gegen Napoleon kämpfte. „Die Lützower“, schreibt Hedwig Richter, „waren militärisch wenig erfolgreich, aber ihre Geschichte wurde schnell romantisiert, weil sie die Sehnsucht nach Einigkeit, Recht und Freiheit symbolisierten.“ Körner brachte es mit seinen patriotischen Versen zu ungeheurer Popularität, wozu sicher auch sein früher Tod im Kampf beitrug.
In meiner Dresdner Kindheit war er so etwas wie ein Säulenheiliger. Einige hundert Meter vom Rathaus entfernt, auf einer von Autolärm umtosten Verkehrsinsel ragte sein Denkmal in die Höhe. Wann immer wir im Trabi daran vorbeistotterten, erklärte mir mein Vater, daß hier früher die Kreuzschule gestanden hatte.
Theodor Körner war ihr berühmtester Schüler, so wie ich zwei Jahrhunderte später ihr unbegabtester. Ich weiß noch, wie ein Lehrer zum anderen sagte: „Wenn wir Glück haben, schafft er den Achte-Klassen-Abschluß.“ Ich stand daneben und tat, als hätte ich nichts gehört.
Ich träumte statt zu lernen, las Buch um Buch. Die Welt war mir ein Rätsel; in gewisser Weise ist sie das für mich noch heute. Nur weiß ich inzwischen, was es mit der von Auspuffgasen umwehten Einöde auf sich hatte, die mein Vater damals Georgplatz nannte.
Irgendwann sah ich ein Vorkriegsfoto, auf dem sich das Körner-Denkmal vor einer gotischen Fassade erhob. Erst als ich die Bildunterschrift las, begriff ich. Das also war die alte Kreuzschule gewesen. Wie ich erfuhr, war sie bei den schweren Luftangriffen im Februar 1945 ausgebrannt; fünf Jahre später hatte man die Ruine abgebrochen. Seither stand der bronzene Jüngling mit seinem astlangen Schwert im bleiernen Nichts.
So wie die Schule am Georgplatz war in meiner Kindheit vieles wie vom Erdboden verschluckt – genau genommen die halbe Stadt. Auch Körners Geburtshaus in der Neustadt gab es nicht mehr. Es hatte am Kohlmarkt gestanden, in der Nähe des Japanischen Palais. Einst war es ein Mekka für Schriftsteller und Künstler gewesen. Körners Vater Christian Gottfried war mit Goethe und Herder bekannt; nach dessen Tod gab er die erste Werkausgabe seines Freundes Friedrich Schiller heraus.
Griebens Reiseführer von 1908 widmet dem Museum, das sich darin befand, dreißig eng gedruckte Zeilen. Akribisch sind die Exponate vermerkt: Erinnerungen an die Goethe- und Schillerzeit sowie an die Befreiungskriege. Das Andenken an den berühmten Sohn ist nach Art einer Heiligenverehrung inszeniert. In seinem Geburtszimmer, heißt es feierlich, „blicken uns seine Laute, sein Schwert und die blutige Uniform der Lützowschen Schar entgegen“, was den Kult um Theodor Körner gut illustriert.
Von dem Haus ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Einige der 1945 geretteten Reliquien sind heute im Kügelgenhaus ausgestellt. Die „trefflichen Reliefporträts von Schiller und Körner“, die der Reiseführer erwähnt, kann man im Stadtmuseum besichtigen. Einst waren sie zu beiden Seiten des Eingangsportals angebracht: von dem Bildhauer Carl Echtermeier modelliert und „aus einem Stück einer 1870 eroberten bronzenen Kanone gegossen“.
All das ist lange her. Wer Körner war, wissen heute die wenigsten – selbst in Dresden, wo man alle naselang auf den Namen stößt. Überquert man das Blaue Wunder, kommt man zum Körnerplatz, wo der Körnerweg beginnt, der zum Loschwitzer Sommerhaus der Familie führt, dem – genau: Körnerhaus. Hier schrieb Schiller am „Don Karlos“.
Als ich zur Schule ging, dachte ich, Theodor Körner wäre als Dichter genauso bedeutend. Zwar fuhr über den Körnerplatz keine Straßenbahn wie über den Schillerplatz, direkt gegenüber auf der anderen Elbseite. Doch auch er war ein urbaner Dreh- und Angelpunkt: belebt mit Menschen und Verkehr, von stattlichen Gebäuden gesäumt.
Erst spät las ich Körner Gedichte – und war enttäuscht von der erdschweren Rhetorik mit dem leichten Eisengeschmack. Viel Pathos, viel Blut, viel Waffengeklirr. „Nur in dem Opfertod reift uns das Glück.“ Des Vaterslandes Fahnen. Der Seele Heiligtum. Oder, wie auf seinem Grabstein steht: „Wachse, du Freyheit der deutschen Eichen, / Wachse empor über unsere Leichen!“
Nein, Schiller konnte er nicht das Wasser reichen. Seine Gedichte mögen damals den Zeitgeist gespiegelt haben, doch sie sind schlecht gealtert und heute zu Recht vergessen.
Um so größer war meine Überraschung, als mir vor einiger Zeit ein Freund in Wien von dem Reiseführer erzählte, an dem er gerade schrieb. Es ging um das Mühlviertel: eine Gegend in Oberösterreich, die im Westen an Bayern und im Norden an Böhmen grenzt. In der Nähe von Hammern, einer entlegenen Ortschaft mit nur 24 Einwohnern, war er auf eine Steinpyramide gestoßen, die an Theodor Körner erinnerte.
Das Ganze war so merkwürdig, daß ich Lust bekam, selber dorthin zu fahren und mir die Pyramide anzuschauen. Bis ich es schaffte, war das Buch, in dem Georg Renöckl die Geschichte erzählt, längst erschienen. Das hatte ich dabei, als ich vor ein paar Monaten dem jungen Körner in die Augen sah.
Daß er es war, erkannte ich auf den ersten Blick. Weder die Spinnen, die einen zartgrauen Schleier über seine Stirn gewebt hatten, noch der Zahn der Zeit hatten ihm etwas anhaben können. Aber warum ein Denkmal in dieser Gegend, wo sich im Dunkel der Fichtenwälder Fuchs und Hase Gute Nacht sagen?
Ich schlug das Buch auf und las: „Der Vater schickte den Heißsporn, der sich als Student in Leipzig und Berlin von einem Duell ins nächste gestürzt hatte, zur Abkühlung ins gemütlichere Wien. Dort feierte Körner auf Anhieb Erfolge als Dramatiker. Am Burgtheater lernte er die ebenfalls jung entdeckte Schauspielerin Antonie Adamberger kennen, die beiden verlobten sich 1812.“
Das Glück währte nicht lang. Im Jahr darauf schloß sich Körner dem Lützowschen Freikorps an und zog in den Krieg gegen Napoleon. Am 26. August 1813 traf ihn im Forst von Rosenow „eine feindliche Kugel“, wie es auf seinem Grabstein heißt.
Die Trauer seiner Verlobten muß groß gewesen sein. Anders ist nicht zu erklären, was vier Jahre später geschah. 1817, erzählt Georg Renöckl, heiratete sie den im benachbarten Leopoldschlag geborenen Joseph von Arneth. Im selben Jahr wurde die Körnerpyramide errichtet. Der Erbauer war der Bruder des Bräutigams, der seiner trauernden Schwägerin „über den Verlust ihres ersten Verlobten Trost spenden wollte“.
Wie nah Glück und Leid beieinanderliegen: der verwitterte Stein führt es einem vor Augen. Das Wort „großherzig“ ging mir durch den Kopf, während ich die Pyramide betrachtete, das Eisenkreuz und die ungelenke Kopie des Körner-Porträts von dessen Tante, der Malerin Dora Stock, die auch Schiller und Mozart porträtiert hat. Aus großen, traurigen Augen blickt der Tote den Betrachter an – anders als auf den meisten Darstellungen, die ihn mit Schwert und Leier und einem Ausdruck grimmiger Entschlossenheit zeigen.
Eine Bank lädt zum Verweilen ein. Ob Antonie Adamberger hier Trost fand: fernab von Wien, wo sie Körner einst begegnet war, und fern von seinem Grab im mecklenburgischen Wöbbelin? Ich stelle mir vor, wie sie stundenlang hier saß und den Blick schweifen ließ über die Anhöhe, die Felder, das Schwarzgrün der Fichten. Wie sie die Augen schloß und die letzten Worte ihres Verlobten hörte, als er von ihr Abschied nahm. Das Rollen der Räder, das sich langsam entfernte. Die endlose Stille.
Es war der letzte Tag des alten Jahres – und ungewöhnlich mild. Wir beschlossen, noch ein Stück zu gehen. Nach ein paar Minuten kamen wir zu der kleinen Brücke, die Österreich und Tschechien verbindet.
Auch meine Frau, die im Mühlviertel aufgewachsen ist, war zum ersten Mal hier. In ihrer Kindheit hatte sie von Leuten gehört, die beim Pilzesammeln von tschechischen Grenzposten aufgegriffen und eingesperrt worden waren. „Geh nicht vom Weg ab!“ hieß es beim Wandertag mit der Schule wie im Märchen vom Rotkäppchen.
Kein Mensch war zu sehen. Auf der anderen Seite begann ein asphaltierter Weg; eine Birke hing wie ein Schlagbaum darüber. Nach einigen hundert Metern kamen wir an einer Ruine vorbei: die frühere Kaserne der Grenzsoldaten. „Věznice“ hatte jemand an die Mauer geschrieben, Strafanstalt.
So trist dieser Anblick war – ich spürte, wie mich eine unbändige Freude erfaßte. Wie anders, dachte ich, wäre mein Leben verlaufen, wäre der Eiserne Vorhang nicht gefallen. Weder stünde ich jetzt hier noch hielte ich die Hand meiner Frau. Geboren auf unterschiedlichen Seiten der Mauer, hätten wir einander nie gefunden. Unser Kind gäbe es nicht.
Auf einmal standen wir vor der Kirche von Zettwing. Schon von weitem hatten wir ihren Turm gesehen, an deren Zifferblättern die Zeiger fehlten. Als man Mitte der 1950er Jahre das Dorf geschleift hatte, weil es in der Sperrzone lag, wollte man auch sie sprengen. Doch weil beim ersten Versuch der Sprengmeister zu Tode kam, ließ man sie stehen.
Die Tür war verschlossen. Doch es gab anderes zu sehen: Auf Tafeln wurde die Geschichte des Ortes erzählt, mit ihren Brüchen und Abgründen. Ein Plan zeigte die frühere Anordnung der Gebäude. Auf einer Fotografie von 1913 sah man die Kirche, die jetzt verloren an der Straße stand, umgeben von Häusern, einem Kramladen mit weit geöffneter Tür, einer Familie mit zwei Kindern.
Diese Bilder hatte ich im Kopf, als wir später zurückgingen. Ich hatte gelesen, daß der Kirchturm bis 1989 als Wachturm gedient hatte, und blickte mich suchend um – als stünde dort oben noch immer ein Grenzsoldat: vor der Brust das Fernglas, das Gewehr in Händen. Doch nichts war zu sehen, natürlich nicht.
War es der Gedanke an das Gewehr? Oder die Zahl 14, die mir noch nachging? So viele Menschen waren an dieser Grenze erschossen worden. Plötzlich fiel mir die Zeile ein: „Da kam eine feindliche Kugel ...“ Und mit ihr die Melodie, auf die sie gesungen wurde. Was war das? Wo kam das her? Ratlos blickte ich meine Frau an. Aber im selben Moment dämmerte es mir: Fragen konnte ich sie nicht; in ihrer Schule hatte man andere Lieder gesungen.
Die Melodie, die in meinem Kopf immer weiterging, trug mir noch andere Worte zu. „Rotgardistenblut“ hieß eines, von der Erinnerung sogleich ergänzt durch das Adjektiv „lustig“. Und dann tauchte sie auf – die Stelle, die mir alles wieder ins Gedächtnis rief: „Schlaf wohl, du kleiner Trompeter“. Das also war es.
Das Lied vom kleinen Trompeter: unzählige Male hatten wir es in der Schule gesungen. Es handelte von einem Kameraden, den eine feindliche Kugel bei einem „so fröhlichen Spiel“ niedergestreckt hatte; mit einem „seligen Lächeln“ war er gestorben. Mit sieben Jahren hatte es mich berührt: seine wehmütige Melodie und die kindliche Sprache. Ich hätte nicht sagen können, was „ein lustiges Rotgardistenblut“ war, aber ich fühlte Mitleid mit dem so jäh aus dem Leben Gerissenen.
Erst lange danach erfuhr ich, daß es von dem Liedtext mehrere Fassungen gab: die ursprüngliche, im Ersten Weltkrieg entstanden (wieder einmal ging es gegen die Franzosen), dann die kommunistische, später in der DDR bei jedem Fahnenappell gesungen. Und schließlich eine braune, dem „lustigen Hakenkreuzlerblut“ Horst Wessel gewidmete, in der die feindliche Kugel von „roter Mordbubenhand“ stammte.
Als wir an der Ruine der Grenzkaserne vorbeikamen, hielt ich den Atem an. Ich mußte an die Bilder aus der Ukraine denken: an die von russischen Geschossen zerstörten Häuser. An die getöteten Kinder, Frauen und Männer. Die Euphorie von vorhin war verschwunden, statt dessen spürte ich eine bleierne Müdigkeit. Ich hatte das Gefühl, ich könnte das alles nicht mehr ertragen.
Diese Blutspur, die wir Geschichte nennen; diese von Gewalt und Haß verseuchte Rhetorik. Die „feindliche Kugel“, wie es bei denen heißt, die sie zu Märtyrern macht in den Augen der Ihren: geehrt, besungen, auf Sockel gestellt. Während Millionen andere hingeschlachtet werden im Namen einer Ideologie, verscharrt, ins Vergessen gestoßen.
Die Zone, durch die wir gingen, sie war noch immer kontaminiert. Erst als wir die kleine Brücke erreichten, atmete ich auf. Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, die Gespenster hinter mir gelassen zu haben.
Vor zwei Wochen, ich sah mir gerade die Bilder an, die ich an dem Tag im Dezember gemacht hatte, klingelte das Telefon. Es war Katrin Nitzschke, die fast vier Jahrzehnte das Buchmuseum in der Sächsischen Landesbibliothek geleitet hatte und sich mit Dresdner Geschichte und Geschichten auskennt wie niemand sonst.
„Ich muß Ihnen etwas erzählen!“
Sie kam gerade aus Loschwitz, wo sie die Bibliothek von Martin Raschke durchgesehen hatte, einem heute fast vergessenen Dresdner Schriftsteller. Seit seinem Tod 1943 war das Bücherregal in dem kleinen Haus am Veilchenweg unverändert – ein dreiviertel Jahrhundert lang. Sein schriftlicher Nachlaß befand sich seit den 1980er Jahren in der Landesbibliothek. Dorthin sollte jetzt auch ein Teil seiner Bücher gehen: Widmungsexemplare von Ilse Aichinger, Gottfried Benn, Günter Eich.
Beim Ausräumen war nun etwas zum Vorschein gekommen, das sie so bemerkenswert wie bedrückend fand: ein tellergroßes, schweres Ding aus brauner Keramik. Böttgersteinzeug, hergestellt in der Porzellan-Manufaktur in Meißen, wie die gekreuzten Kurschwerter verrieten. „Theodor-Körner-Ehrenplakette für Frontkämpfer-Dichter“ lautete die Inschrift auf der Vorderseite.
Ich glaube, mir entfuhr ein Ausruf der Überraschung. Noch nie hatte ich von der Existenz einer solchen Plakette gehört. Was mich aber noch mehr verblüffte: Ich hatte Katrin Nitzschke gar nicht erzählt, daß ich über Körner schrieb.
Was es mit dem Fund auf dem Dachboden auf sich hatte, konnte auch sie nur vermuten. Offenbar hatte man Raschke die Plakette posthum verliehen, nachdem er im November 1943 als Kriegsberichterstatter in Rußland an einem Bauchschuß gestorben war. Es gibt ein Foto, das ihn schwer verletzt auf einem Pferdefuhrwerk vor einer verschneiten Landschaft zeigt. Er hat eine Hand auf die Stirn gelegt und wirkt abwesend, wie unter Schock. Zwei Männer in Uniform beugen sich über ihn, um die Wunde zu versorgen. Ein dritter steht mit ernster Miene daneben.
Als ich ein paar Tage später in Dresden war, sah ich mir die braune Keramik an. Die Vorderseite zeigte das mir bekannte Konterfei von Körner, signiert von dem Bildhauer Erich Oehme, der SA-Mitglied und in Meißen Künstlerischer Leiter der Abteilung Gestaltung war. Auf der Rückseite stand der Satz: „Für das höchste menschliche Gut, für seines Volkes Freiheit ist kein Opfer zu groß“. Er stammt aus einem Brief vom 10. März 1813, in dem Körner seinem Vater ankündigt, in den Krieg gegen Napoleon zu ziehen.
Daß Körner für die Nationalsozialisten eine Art Galionsfigur war, ist bekannt. Als Goebbels im Berliner Sportpalast am Ende seiner Rede ausrief: „Nun, Volk, steh auf und Sturm brich los!“, bediente er sich bei Körner. Eines von dessen letzten Gedichten beginnt mit der Zeile: „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los“.
Der Körner auf der Plakette sah anders aus als der auf der verwitterten Pyramide: die Züge hart, der Blick entschlossen, kalt. Als ich sie in die Hand nahm, um sie genau zu betrachten, war mir, als würde die Kälte in mich eindringen.
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