Der Herbst bringt die Trauben
Über die Weinlese an der Mosel, einen Müllberg in Dresden und den Bildhauer Jürgen Waxweiler, der aus Steinen Köpfe macht und aus François Truffauts Hölle Kunst
Während meine kleine Tochter auf ihrem bunten Fahrrad durch die Fußgängerzone saust, singt sie lauthals: „Es war eine Mutter, die hatte vier Kinder: den Frühling, den Sommer, den Herbst und den Winter ...“ Eine weißgelockte Frau bleibt stehen, strahlt sie an. Aber da ist sie schon weitergefahren und schmettert: „Der Frühling bringt Blumen, der Sommer den Klee, der Herbst bringt –“
Plötzlich bremst sie und dreht sich zu mir um. „Papa, was bringt der Herbst?“ Ruckartig bleibe ich stehen. Der Herbst? Ja, was bringt er? Wie geht das Lied weiter? Lange muß ich nicht überlegen. Ich brauche ja nur in die Jackentasche zu greifen, da fühle ich sie: Kastanien! Frische, kühle, glänzende Kastanien! Vor einer Viertelstunde haben wir sie im Park gefunden und in alle Taschen gestopft. Es war wie ein Reflex.
Schon als Kind hatte ich sie gesammelt, um damit die Tiere im Wildgehege Moritzburg zu füttern. Oder um Rehe daraus zu basteln. Aus Kastanien wurden Kopf und Rumpf, aus Streichhölzern Hals und Beine. Aber – wie soll ich sagen? Meine Kastanienrehe gerieten stets so krumm und schief, daß sie mehr Mitleid als Bewunderung erregten. Nie erreichten alle vier Beine den Boden, weshalb sie umfielen, wenn jemand auch nur am Tisch vorbeiging. Und doch versuchte ich es immer wieder. Noch heute ...
„Nein, Papa!“ höre ich die Stimme meiner Tochter. „Keine Kastanien!“ Sie runzelt die Stirn. Aber was denn sonst? In diesem Moment fällt es mir ein: Pilze! Der Herbst bringt die Pilze – das muß es sein!
Hat nicht erst gestern mein Schwiegervater erzählt, was für schöne Schwammerln er gefunden hat? In der Nacht hatte es geregnet, da wußte er schon, daß er fündig werden würde. Wer, wenn nicht er? Pilze sind schließlich seine Leidenschaft. Kein Schwammerl, wie man in Österreich sagt, ist vor ihm sicher. Er sucht sie nicht, er findet sie. Und wenn er findet, daß sie noch zu klein sind, dann nimmt er eine Handvoll Moos und deckt sie zärtlich zu. Zwei Tage später kommt er wieder und erntet den Lohn für seine Geduld. Schon etliche Male ...
„Nein, Papa!“ ruft meine Tochter wieder. „Keine Pilze!“ Energisch schüttelt sie den Kopf. „Denk mal was Besseres!“ Betroffen sehe ich sie an. Ich weiß ja, daß sie recht hat. Ich sage mir das jeden Tag.
Aber was ist besser als Kastanien und Pilze? Was bringt der Herbst denn noch? Schweigend mustert sie mich. Auf einmal geht ein Leuchten über ihr Gesicht. „Trauben!“ ruft sie aus. Natürlich! Der Herbst bringt die Trauben. Wie konnte ich das vergessen?
Weißt du noch, will ich sagen, wie wir letztes Jahr an der Mosel waren, wo die Weinlese in vollem Gange war? Aber da ist sie schon losgefahren, der Marienkäfer-Rucksack hüpft auf ihrem Rücken. Und ich höre sie singen: „Der Frühling bringt Blumen, der Sommer den Klee, der Herbst bringt die Trauben, der Winter den Schnee.“
Aber nein, an den Winter will ich noch nicht denken. Nicht an diesem Herbsttag mit seinem blauen Himmel, seinen leuchtenden Farben. Für einen Moment schließe ich die Augen und sehe die von der Oktobersonne vergoldeten Hänge mit den schnurgeraden Reihen der Weinstöcke vor mir. Und wieder habe ich den Geruch der frisch geernteten Trauben in der Nase: wie vor einem Jahr, als wir durch die Weinberge wanderten.
Wir waren bei dem Bildhauer Jürgen Waxweiler zu Gast. Er lebt in Traben-Trarbach, wo nur einen Steinwurf von der Mosel entfernt eine seiner Skulpturen aufragt: ein Doppelkopf, der auf die beiden vom Fluß getrennten Stadtteile blickt. Ein paar Straßen weiter liegt sein turmhohes Haus mit dem Atelier, leicht zu erkennen an dem Skulpturengarten, der sich vor dem malerischen Gemäuer einer spätgotischen Kapelle erstreckt. Immer wieder bleiben Passanten stehen, um die steinernen Köpfe mit den großen Augen, Nasen und Lippen zu betrachten: archaische Wesen, die einer anderen Zeit zu entstammen scheinen.
Das erste Mal begegnet sind wir uns vor zwölf Jahren, als ich in Ludwigshafen eine Lesung von Durs Grünbein moderierte. Dieser hatte kurz zuvor die Frankfurter Poetikvorlesung gehalten und dabei auch von seiner Kindheitslandschaft am nördlichen Stadtrand von Dresden erzählt. Ganze Nachmittage habe er sich in einer „Wildnis aus Tannengrün, Müllbergen, Sanddünen“ herumgetrieben, die „als militärisches Übungsgelände genutzt wurde, für große Manöver mit Panzern und Pioniergerät, weshalb der umgebende Forst bei den Leuten das Russenwäldchen hieß“.
Diese Schilderung hatte Jürgen Waxweiler elektrisiert, denn Anfang der neunziger Jahre war er selbst in jener Wildnis herumgestiegen, die ihm wie ein „apokalyptisches Idyll“ erschien. Beobachtet von Krähenschwärmen, hatte er mit einem Freund das Müllgebirge erkundet: die verrosteten Aschetonnen, die Autowracks, die schwarzen Seen aus Öl. Als Andenken an diesen Ausflug brachte er zwei Bronzebüsten von Marx und Lenin heim, die nach der Zeitenwende von 1989 für den Schmelzofen bestimmt waren.
In Ludwigshafen zeigte er uns die Fotografien, die er damals gemacht hatte. Später schickte er mir noch schwarzweiße Aufnahmen aus dem Dresden der Nachwendezeit, wohin er 1990 von München gezogen war, um an der Kunsthochschule zu studieren.
Staunend nahm ich die Bilder zur Hand, vertiefte mich in jedes Detail. Was ich sah, waren die Straßen meiner Kindheit in der Äußeren Neustadt. Die verrußten Altbauten mit den bröckelnden Fassaden. Die schwarzen Toreinfahrten mit den leeren Klingelbrettern. Die, wie es schien, für alle Ewigkeit heruntergelassenen Rolläden.
Nur wenige Menschen waren zu sehen: ein Mann auf einer Leiter, ein Mädchen mit einem geflochtenen Zopf, eine Frau mit gesenktem Blick. Vielleicht war es ein Sonntagmorgen gewesen, als der Fotograf das Viertel erkundet hatte.
Es fiel mir nicht schwer, mir auf einem seiner Bilder den Dreizehnjährigen vorzustellen, der ich damals war. In dieser Zeit waren wir beide durch Dresden gelaufen, ohne einander zu begegnen. Jetzt, zwei Jahrzehnte später und nicht an der Elbe, sondern am Rhein, hatten sich unsere Wege zum ersten Mal gekreuzt.
So kamen wir ins Gespräch. Ein Gespräch, das sich von Brief zu Brief, von Begegnung zu Begegnung fortsetzte und bis heute anhält. Die Dresdner Erinnerungen waren nur der Ausgangspunkt, schon bald ging es um vieles mehr. Um Leben und Kunst, Brot und Steine, Quitten und Gedichte. Und um Bücher, immer wieder um Bücher.
Und natürlich sprechen wir über unsere Arbeit: die Bildhauerei, das Schreiben. Ich liebe diese Blicke in die Werkstatt eines anderen. Die aufregendere Perspektive, so kommt es mir vor, habe in diesem Fall ich. Zu sehen, wie aus einem Gesteinsbrocken eine Skulptur entsteht. Ein Apfel oder eine Hand, ein Kopf. Augen, die mich anblicken wie aus tiefstem Vergessen.
Nicht immer ist der Stein ganz und gar unförmig. In einem Werkstattgespräch hat mir Jürgen Waxweiler einmal erzählt, daß er gern mit Spolien arbeitet: mit Überresten historischer Bauten, die ihm als Rohmaterial für seine Skulpturen dienen. „Sie haben eine Herkunft und sichtbare Spuren eines Vorlebens. Sie können Geschichten erzählen.“ Das ist auch der Grund, warum er die Spuren der Vergangenheit nicht tilgt, sondern bewußt in seine Arbeiten einbezieht.
Ein schönes Beispiel dafür habe ich jeden Tag vor Augen. „Roter Gott“ heißt die Skulptur in meinem Arbeitszimmer. Ein Kopf aus rotem Sandstein. Auf den ersten Blick sieht es so, als würde er eine festliche Kopfbedeckung tragen.
Der Stein stammt aus Wittlich, einer Kleinstadt in Rheinland-Pfalz. Beim Abbruch einer Kaserne hat ihn Jürgen Waxweiler aus dem Schutt gezogen. Was aussieht wie ein Hut oder ein Helm, ist das Fragment eines Fenstergewändes.
Die Kaserne wurde 1938 errichtet. Nach dem Krieg diente sie als französische Garnison. 1951 war hier François Truffaut stationiert, der spätere Regisseur der Nouvelle Vague. Damals war er 18 Jahre alt. Aus Scham darüber, daß er sämtliche Bücher seines Freundes Robert Lachenay ohne dessen Wissen verkauft hatte, und nicht zuletzt aus Liebeskummer hatte er sich Hals über Kopf zur Armee gemeldet. Wenig später fand er sich in einem Artillerieregiment in Deutschland wieder.
In einem Brief an Éric Rohmer schreibt er: „Ich bin hier, in Wittlich, in der Hölle; unglaubliche Disziplin, Überanstrengung; ich wage es nicht, mich krank zu melden.“ Was er als Rekrut erlebt, nennt er ein Martyrium: „Robben im Schnee, auf allen vieren im Dreck, Zwangsmarsch mit 32 Kilo auf dem Rücken. Ich erspare Ihnen die anderen Etappen des Kreuzweges.“ Hinzu kommt die Angst, nach Indochina in Marsch gesetzt zu werden, wo Frankreich einen immer blutigeren Krieg führt.
Statt in Indochina landete er im Militärgefängnis: Nach unerlaubtem Entfernen von der Truppe wurde er als Desserteur inhaftiert und im Jahr darauf wegen „charakterlicher Instabilität“ aus der Armee entlassen.
An diese Geschichte muß ich denken, wenn ich den Kopf aus rotem Eifelsandstein betrachte. Ich stelle mir vor, wie der Achtzehnjährige nachts in der Kaserne wachliegt, stundenlang; wie er irgendwann aufsteht und das Fenster öffnet, um die Winterluft in vollen Zügen einzuatmen. Wie er in die Finsternis blickt wie auf eine schwarze Leinwand und dabei eine Hand auf das Fenstergewände legt: genau dorthin, wo jetzt meine Hand den Stein berührt.
Ich erinnere mich nicht mehr, ob wir vor einem Jahr an der Mosel über Truffaut sprachen und über die abgebrochene Kaserne. Ein paarmal ging es um Dresden, und wieder vergaß ich, Jürgen Waxweiler zu fragen, was aus den Bronzebüsten von Marx und Lenin geworden ist. Ließ er sie zurück, als er drei Jahre später an die Mosel zog? Oder nahm er sie mit: als kurioses Andenken an eine Zeit des Umbruchs und der Denkmalstürze? Dienten sie ihm womöglich als Rohstoff für seine Kunst?
An einem dieser Tage kamen wir von einer Wanderung durch die Weinberge zurück, die Sonne war gerade am Untergehen, als ich aus dem Bücherregal einen schmalen Band zog, dessen leuchtendes Orange mir vertraut vorkam. „Vom Stellenwert der Worte“ stand auf dem Einband, darüber der Name des Autors: Durs Grünbein. Es war die Frankfurter Poetikvorlesung, über die wir damals in Ludwigshafen gesprochen hatten.
Noch einmal las ich die Passage über Hellerau und die „Wildnis aus Tannengrün, Müllbergen, Sanddünen“. Es muß in den siebziger Jahren gewesen sein, als er dort unterwegs war – vielleicht in dem Jahr, in dem ich geboren wurde, nur ein paar Kilometer und eine Elbüberquerung entfernt. Damals, schreibt er, sei eines seiner ersten Gedichte entstanden, ausgelöst von einem Augenblick in jenem Gelände, der ihm sein „ganzes Sein wie in einem Blitzschlag erhellte“.
Eine Müllhalde als Ort, an dem die Poesie beginnt. Schon einmal hat Durs Grünbein davon erzählt, in dem Essay „Vulkan und Gedicht“. Allerdings war es nicht irgendein Müllberg, den er in jugendlichem Entdeckerdrang erkundete. Jahre später ging es ihm auf: „Unter den Schichten jahrzehntelang aufgeschütteten Mülls lag das Alte Dresden, im Weltkrieg zerstört, ein barockes Pompeji. Hier am nördlichen Stadtrand hatte man seine Trümmer zu einem riesigen Tafelberg aufgetürmt, die gestürzten Kirchenportale über die leeren Balkone, die Emporen zerbombter Theater über Rümpfe brandgeschwärzter Statuen. Und als hätte der glorreiche Schutt alles spätere nach sich gezogen, war seither sämtlicher Müll aus den Wohnhäusern hierher geschafft worden, abgelagert auf dem Ruinenkehricht einer untergegangenen Stadt.“
Als Kind fuhr ich mit der Straßenbahn an weiten Rasenflächen vorbei, wo auf alten Stadtplänen ganze Häuserzeilen verzeichnet waren. Eines Tages zeigte mir mein Vater, wo das Haus gestanden hatte, in dem er zur Welt kam. Jetzt war dort nur noch ein staubiger Sportplatz.
Kein Wunder, daß mich dieses Bild des Trümmer-Friedhofs fesselte, als ich eines Tages darauf stieß. Ganz konkret führte es mir vor Augen, was ich lange schon geahnt hatte: Das weiße Blatt ist eine Illusion, man schreibt nicht in einen luftleeren Raum hinein. Schreiben hat mit Archäologie zu tun, mit Grabungen in der Vergangenheit, Tauchgängen im Untergrund.
Oder, wie es am Ende von Durs Grünbeins Essay heißt: „Das wenige, worauf später die Spitzhacke stößt, der Pinsel des Ausgräbers, die Schaufel des Müllsammlers, dies ist der Stoff, aus dem die Gedichte sind.“
Zurück zu den Trauben! Seit Tagen habe ich ihren Geruch in der Nase, obwohl weit und breit kein Weinstock zu sehen ist. Liegt es an dem „Roten Gott“? Seit ich schon einmal vor Jahren und im letzten Herbst wieder an der Mosel war, jeweils zur Zeit der Weinlese, ist für mich die Landschaft, in der Jürgen Waxweiler lebt, untrennbar verbunden mit seinen Skulpturen. Ich kann das eine nicht ohne das andere denken. Das gilt um so mehr, seit ich weiß, daß der Stein eines seiner Köpfe aus einem Weinkeller stammt und lange Zeit als Faßlager diente.
Geht es dem „Roten Gott“ auch so? Vermißt er hier im Norden den Geruch frisch geernteter Trauben? Womöglich rümpft er ja, wenn ich ihm den Rücken zudrehe, die Nase, weil in der Schale auf meinem Schreibtisch keine Weintrauben liegen, sondern Äpfel aus dem Garten meiner Frau.
Vier Apfelbäume stehen darin – das heißt: eigentlich sind es nur noch dreieinhalb. Denn als wir im Sommer vom Attersee heimkehrten, war einer zusammengebrochen unter der Last der Äpfel. Die Krücken, die ihn hatten stützen sollen, lagen zerschmettert im Gras. Immerhin, der halbe Stamm war noch da; er soll auch nicht weichen, er wird ja noch gebraucht: für die Hängematte im Frühling.
Nun steht im Keller eine Kiste mit Äpfeln, zum Nachreifen. Wenn ich die Tür aufschließe, hüllt mich ihr schwerer Duft ein. Das wünschte ich mir auch für mein Arbeitszimmer. Nein, nicht faulige wie bei Schiller, sondern rote, reife Äpfel. Vielleicht verhilft mir ja ihr Duft dazu, was Besseres zu denken, wie meine kleine Tochter sagt.
Nicht wie gestern, als sie hörte, was ich sang: „Der Frühling bringt Blumen, der Sommer den Klee, der Herbst bringt die Äpfel ...“ Empört rief sie aus: „Nein, Papa! Nicht die Äpfel! Die ...“ Einen Augenblick sah sie mich verlegen an. Dann fiel es ihr wieder ein: „Der Herbst bringt die Trauben, der Winter den Schnee.“
Diese Geschichte habe ich am 6. November 2022 an 331 Leserinnen und Leser verschickt. Wenn auch Sie meine Geschichten erhalten wollen, tragen Sie sich gern hier ein:
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Wer sich für die Skulpturen von Jürgen Waxweiler interessiert, dem sei ein Besuch auf seiner Website (Öffnet in neuem Fenster) empfohlen.