Die Puppe
Über eine Nacht im März 1943, den roten Himmel über der brennenden Stadt, einen zerbrochenen Puppenkopf und die Schrecken der Kindheit, die nie vergehen
Ich kann jetzt gar nicht nach Hause gehen. Diese Geschichte, die Sie vorgelesen haben, die hat mich richtig aufgewühlt.
Sie sind ja noch jung. Aber ich habe das alles erlebt. Ich habe viel vom Krieg gesehen. Als die Russen kamen, sind wir auch geflohen. Bis sie uns eingeholt haben.
Wie alt ich war? Na, lassen Sie mich mal rechnen. Geboren 1936, im November. Das heißt, da war ich acht. Da kriegt man schon was mit.
Manchmal denke ich, ich hätte jünger sein sollen. Bloß ein paar Jahre. Dann hätte ich diese ganzen Bilder nicht im Kopf. Aber wer weiß. Kinder kriegen ja immer mehr mit, als man denkt. Neulich haben sie gesagt, daß sogar die ungeborenen Kinder was mitkriegen. Die Ängste, die die Mutter aussteht. Also, wahrscheinlich hätte es mir auch nichts genützt. Ich würde mich trotzdem erinnern.
Aber manchmal will ich einfach nicht mehr. Als Sie die Geschichte gelesen haben, ist eine Frau rausgegangen. Haben Sie das bemerkt? Ich glaube, die wollte auch nicht mehr. Ich versteh das. Es gibt Tage, da ertrage ich das nicht.
Wissen Sie, Krieg ist so etwas Furchtbares. Ich kann gar nicht hinsehen, wenn sie das im Fernsehen zeigen. Was jetzt in der Ukraine passiert. Diese armen Menschen! Haben Sie den Mann gesehen, mit seinem Fahrrad? Der lag tot auf der Straße. Den haben sie erschossen, am hellichten Tag. Einfach so. Ich komm da gar nicht drüber weg. Vielleicht wollte er ein Brot kaufen, und die Frau hat auf ihn gewartet.
Und die Kinder! Wenn man in diese Gesichter blickt: wie ernst die schauen. Wenn ich das sehe, kann ich gar nicht mehr schlafen. Als das losging, lag ich die ganze Nacht wach. Ich habe gezittert, ich konnte gar nicht aufhören. Warum tun Menschen das einander an? Warum machen die das? Ich versteh das nicht.
Ich habe das ja alles gesehen, als Kind. Ich weiß, was Krieg ist. Ich habe gesehen, wie Dresden brannte. Dieser Feuerschein ... der war so gewaltig, daß in der Richtung, in der Dresden lag, der ganze Himmel rot war. Zwei Nächte hintereinander. Wir sind aufgestanden und haben das angeschaut, den Feuerschein. Ich habe das nie vergessen.
Wo wir waren? In einem Dorf in der Nähe von Reichenberg, an der böhmischen Grenze. Da waren wir, ich glaube, anderthalb Jahre: meine Mutter, mein Bruder und ich. Das muß ganz am Ende gewesen sein. Ein paar Tage später waren wir schon auf der Flucht. In einem Wagen, der – stellen Sie sich das mal vor: der war von unten bis oben mit Munitionskisten beladen. Und der Kinderwagen für meinen Bruder, der kam auch mit.
Das hatte sich mein Vater so ausgedacht. Der war ... ich weiß gar nicht, wo der war. Nicht an der Front, dafür war er zu alt. Außerdem war er im Ersten Weltkrieg schwer verwundet worden. Lungensteckschuß. Der hatte zwei Löcher im Rücken. Aber eingezogen haben sie ihn trotzdem.
Das war ein eisig kalter Winter. Aber wir saßen wie auf heißen Kohlen. Die Russen waren schon in Schlesien, und meine Mutter hat gezittert: Komm ich hier noch weg? Er hat doch versprochen, uns zu holen! Und er hat es gerade noch geschafft.
Die Munition mußte nach Berlin. Hitler wollte ja unbedingt Berlin halten, die Reichshauptstadt. Sie wissen ja, die sollte bis zum letzten verteidigt werden. Dafür wurde die Munition gebraucht. Ein Wahnsinn.
Und auf der Berliner Ringautobahn versuchten die Tiefflieger, diese Transporte zu treffen. Jedesmal, wenn einer kam, hielt das Auto, wir sind schnell raus und in den Wald, mit dem Baby und dem Kinderwagen. Ein Treffer, und wir wären alle tot gewesen.
Nein, nein, ich bin aus Berlin. Aber wir wurden evakuiert, wegen der Bombenangriffe. Die wurden ja von Jahr zu Jahr schlimmer. Wenn ich jetzt im Fernsehen diese rauchenden Ruinen sehe, dann ist das alles wieder da. Dann ist das ganze Leben wie weggewischt. Das ganze Leben, das man seither gelebt hat. All die Jahre, alles. Da fühl ich mich wieder wie als Kind.
Ich muß immer daran denken, wie ich einmal meine Puppe vergessen habe. Das war im März 1943. Das weiß ich so genau, weil da mein Bruder geboren wurde. Meine Mutter war in der Universitätsklinik. Und während der Zeit hat sie mich zu einer befreundeten Familie gegeben. Die wohnte nur eine Straße weiter. Das war in Wilmersdorf, an der Grenze zu Schöneberg. U-Bahn-Station Nürnberger Platz.
Die Familie hatte eine Tochter, die war etwas älter als ich und schon in der Schule. Wir waren ganz eng. Sie hat mich sogar mal in ihre Klasse mitgenommen. Da hatte sie die Lehrerin gefragt, und die hatte nichts dagegen.
Und da gab es nachts Bombenalarm. Die Uhrzeit kann ich nicht sagen, aber es war Nacht. Ich hatte schon geschlafen. Ich lag allein in einem Zimmer, mit meiner Puppe. Die Sirene ging, und wir Kinder wurden geweckt und gingen mit den Eltern die Hintertreppe hinunter.
Das war die Treppe, die früher die Dienstboten benutzt haben. Die war ganz schlicht. Die Vordertreppe war bis zum zweiten Stock mit Teppichen belegt. Und unten war eine Portierfrau. Ich sag Ihnen: ein Drachen! Die hatte was gegen Kinder. Kinder machten Lärm.
Jedenfalls, wir gingen hinunter und über den Hof; der war gepflastert mit gelben Klinkern. Und von dort in den Keller. Und da setzte ich mich an den Schornstein. Das hatte ich verinnerlicht: Setz dich an den Schornstein! hat Mutter immer gesagt.
Der Schornstein ist ja das, was am ehesten stehenbleibt, bei Bombenangriffen. Der ist anders gemauert. Deshalb sah man oft noch in den Trümmergrundstücken ein Stück Schornstein.
Da herum gab es so eine gemauerte Bank, und da setzte ich mich hin mit meiner Freundin. Ihre Eltern setzten sich irgendwo in die Nähe. Und kaum saßen wir, da hörte man schon die Flugzeuge brummen.
Und plötzlich fällt mir ein: Meine Puppe!
Sie müssen wissen: Diese Puppe hatte schon allerhand erlebt. Ich neigte als Kind zu eitrigen Mandelentzündungen, darum hat man mir die Mandeln herausgenommen. Da lag ich in einem großen Krankensaal, und das einzige Bett in dem Saal war meins. Zwischen Wand und Bett war ein Spalt. Und da fiel die Puppe rein, und der Porzellankopf zerbrach.
Ich weinte natürlich furchtbar: Meine Puppe, meine Puppe! Und da hat sich ein junger Arzt hingesetzt, in der Nacht, während ich schlief, und hat den Puppenkopf mühsam wieder zusammengeklebt.
Und diese Puppe hatte ich in der Wohnung vergessen, in meinem Bett. Sie können sich vorstellen, wie ich erschrocken bin. Was, wenn es oben brennt? Und da habe ich etwas gemacht, was ich leider in meinem Leben immer wieder gemacht habe: Ohne zu fragen oder jemandem was zu sagen, bin ich einfach aufgestanden und habe getan, was ich mir in den Kopf gesetzt hatte.
Ich bin aus diesem Luftschutzraum raus und über den Hof. Man hörte natürlich die Fluggeschwader. Aber meine Puppe war in Gefahr! Die war da oben allein, die mußte ich retten.
Ich bin die Hintertreppe wieder hochgegangen. Da war kein Mensch, die waren ja alle im Keller. Ich habe mich gegruselt, aber jetzt war ich schon auf dem Weg. Es gab ein paar Fenster, da konnte ich hinausschauen. Und plötzlich hörte ich einen unglaublichen Krach. Das Haus hat gewankt. Und da sah ich durch das Fenster die ganz gleichmäßig gesetzten Bomben explodieren. Nur eine Straße weiter. Jedesmal ein furchtbarer Krach! Ich fuhr zusammen. Aber ich bin immer weitergegangen.
Ich habe meine Puppe geholt und bin wieder nach unten, so schnell ich konnte. Über den Hof, der war taghell erleuchtet, und in den Keller. Da hatten sie noch gar nicht gemerkt, daß ich weg war.
Ich war mir der Gefahr gar nicht bewußt. Das war so nah, die nächste Bombe hätte auch auf unser Haus fallen können. Das ist dann später ja auch passiert. Diese ganzen Straßenzüge waren nachher Ruinen.
Aber das dachte ich nicht. Ich war so fasziniert von diesem Feuerschein. Natürlich hatte ich Angst. Diese schrecklichen Explosionen! Aber als ich wieder hinunterging, da war ich nicht mehr allein. Ich hatte ja mein Puppenkind, das hielt ich ganz fest. Das war mein Baby. Meine Mutter hatte ja auch ein Baby.
Wie sie hieß? Das habe ich auch überlegt. Ich weiß es nicht mehr. Ich glaube, sie hatte gar keinen Namen. Die anderen Puppen schon. Ich hatte ja noch mehr Puppen, und da wechselte ich dauernd die Namen. Wenn ich irgendwo einen Namen hörte, der mir gefiel, dann nannte ich eine Puppe so. Nur sie nicht. Das war einfach mein Puppenbaby.
Ach, jetzt habe ich Sie so vollgequasselt. Als ob Sie nichts anderes zu tun haben. Entschuldigen Sie! Aber Ihre Geschichte, die hat mich ganz schön mitgenommen.
Wie? Nein, nein, die gibt es nicht mehr. Die ist verlorengegangen, da war ich zwölf. Bis dahin war sie immer mitgekommen. Ich habe ja damals nie sehr lange irgendwo gelebt, immer ging es woandershin. Während des Krieges und auch danach.
Aber eigentlich hatte ich sie schon vorher verloren. Ein halbes Jahr nach dieser Nacht, als ich noch mal da hoch bin. Das war ja im März. Und dann, kurz vor Weihnachten, war meine Puppe plötzlich weg. Da wurde gesagt: Die ist beim Christkind. Ich habe mich furchtbar erschrocken. Ich habe das gar nicht verstanden. Ich habe gedacht, sie ist tot.
Meine Mutter hat gesagt: Nun warte doch mal ab! Bald ist Heiligabend. Wer weiß ... Und dann lag sie unterm Weihnachtsbaum. Aber das war nicht mehr meine Puppe, nicht mehr mein Baby.
Man hatte der Puppe einen neuen Kopf verpaßt. Den alten hatte ja der Arzt geflickt, und natürlich sah man das. Jetzt hatte sie einen neuen Kopf mit einem neuen Gesicht, das hat gelächelt. Ich bin in Tränen ausgebrochen. Das habe ich meiner Mutter nie verziehen.
So, aber jetzt laß ich Sie wirklich in Ruhe. Sie müssen ja nach Hause. Sie werden bestimmt erwartet. Haben Sie Kinder? Ach, und wie heißt sie? So ein schöner Name. Also, wenn ich noch eine Puppe hätte ...
Na dann. Grüßen Sie Ihre Frau! Ja, Ihnen auch. Und kommen Sie mal wieder. Wer weiß, vielleicht bin ich dann noch da.
Diese Geschichte habe ich am 18. Februar 2024 an 1224 Leserinnen und Leser verschickt. Wenn auch Sie meine Geschichten erhalten wollen, tragen Sie sich gern hier ein:
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