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Zurück nach Hause

Meine Mutter ist gelernte Kindergärtnerin, hat Büros geputzt, uns Kinder großgezogen. Mein Vater hat auf dem Bau gearbeitet, Bodenplatten betoniert und Elektrik verlegt. 

Ich war der erste in unserer Familie, der auf eine Uni gegangen ist. Schule fiel mir leicht, ich war nicht Klassenbester, dafür war ich zu frech und zu faul, aber immer irgendwo in dem Bereich, und irgendwann in der Oberstufe wusste ich, dass ich beruflich schreiben wollte. Eigentlich Schriftsteller, aber das schien unmöglich, deswegen wenigstens Journalist. 

Der 11. September 2001 und die Monate danach haben mich politisiert. In meiner Heimatstadt Bonn gegen den Einmarsch der USA im Irak zu demonstrieren, war meine erste Demo. Der Krieg kam trotzdem, der Nahe Osten ließ mich nicht mehr los. 

Als ich genug von meinem Bafög und meinem Studijob zusammengespart hatte, flog ich nach Istanbul, reiste erst nach Syrien und dann weiter in den Libanon. 

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich immer noch tausend Szenen aus Beiruter Straßen vor mir. Es war Liebe auf den ersten Blick, und in der Auslage eines Kiosks sah ich den Daily Star Lebanon, eine kleine englischsprachige Zeitung. 

Ich kaufte mir eine Ausgabe und einen dieser gelben Einwegrasierer von BIC, ging in mein Hostel, kratzte mir einen struppigen Reisebart aus dem Gesicht, zog meine am wenigsten staubige Trainingsjacke an, nahm meinen Mut zusammen und ging zur Redaktion, und fragte: “Kann ich hier vielleicht ein Praktikum machen?”

Die Antwort kam schnell: “Klar, komm einfach im Sommer wieder.” 

Der Sommer wurde zu einem der besten meines Leben. Wir waren eine ganze Gruppe von Praktikant:innen, unsere Aufgabe war es den Lokalteil vollzuschreiben, all das Bunte und Vermischte. Wir kamen kostenlos auf alle Konzerte, gingen in Kunstausstellungen, tranken und rauchten und schrieben und viele wollten ein bisschen wie Ernest Hemingway sein, aber keiner hätte das laut gesagt. 

Nach drei Monaten ging mein DAAD-Stipendium zur Neige, aber ich wollte nicht nach Hause. In der Nähe vom Beiruter Hafen konnte man in ein Sammeltaxi steigen, das einen über die syrische Grenze nach Damaskus brachte. Einige waren da gewesen, es klang wundervoll und vor allem war es viel billiger. 

Ich fand ein Zimmer bei einer Familie in der Altstadt. Ich weiß nicht mehr, wie. Es gab keine Smartphones, zumindest kannte ich niemanden, der eins hatte. 

Die Straße vor dem Haus war eng und mit Kopfsteinpflaster gelegt, in kleinen Läden konnte man frisches Gemüse kaufen und nicht weit war der alte Basar und die Umayyaden Moschee mit ihrem riesigen, stillen Innenhof. 

Bei einem Abendessen lernte ich Alan kennen, der im kurdischen Nordosten des Landes aufgewachsen war und in Damaskus Medizin studierte. Flüsternd erzählte er mir von der Gewalt des Assad-Regimes gegen seine Leute. Von der Überwachung, der Folter, der Unterdrückung. Manchmal lud er mich zu sich ins Wohnheim ein und kochte Makloube, “Upside Down”, wie er immer sagte, ein Gericht aus Hähnchenschenkeln und Auberginen. 

Nie habe ich Menschen getroffen, die so gastfreundlich waren, wie die Syrer:innen. 

Auf einer Reise in den Nordirak hing ich irgendwann fest, weil mir das Geld ausgegangen war, und aufgrund des Krieges die Geldautomaten nicht ans internationale Bankennetz angeschlossen waren. 

In einer dieser Nächte lief ich durch Erbil und wusste nicht, was ich jetzt tun sollte, als ich irgendwo ein Licht brennen sah. Ich dachte, es sei ein Café, und dass ich jetzt mit meinen letzten Dinar auch einfach noch einen Tee trinken gehen könnte. 

Drinnen war ein Ring aufgebaut, in dem ein Hahnenkampf stattfand. Weil ich nicht auffallen wollte, setzte ich mich hin und bestellte beklommen einen Tee, schaute zu, wie die Hähne sich gegenseitig verletzten. 

Der Mann neben mir sprach mich auf Arabisch an, wollte dann wissen, wo ich herkomme, und als ich sagte “almanya”, fing er breit an zu grinsen und stellte sich vor: “Hey, meine Freunde nennen Tyson, ich lebe in Bonn.” 

Wir fingen an zu quatschen. Er verdiente sein Geld damit, Autos in Deutschland zu kaufen und in Syrien wieder zu verkaufen. Manchmal machte er den Umweg über Erbil. Die nächsten Tage konnte ich bei seinen Eltern im Haus übernachten, er zahlte den Ausstand, den ich im Hotel hatte, und dann nahm er mich zurück mit nach Damaskus. Keine Ahnung, was ich ohne ihn gemacht hätte. 

Alan war vom selben Schlag. Als ich einmal durch seine Heimatstadt Qamishli kam, wollte er mir unbedingt alles zeigen. Aber als Kurde länger als fünf Minuten mit einem Ausländer reden, das ging nicht: Die Geheimpolizei hätte ihn sonst verhaftet, verhört und vielleicht in eins ihrer Foltergefängnisse gesperrt. 

Irgendwann musste ich dann zurück nach Deutschland, mein Studium fertig machen, und als ich das nächste Mal nach Syrien kam, säumten ausgebrannte Panzer die Straße. 

Die Menschen hatten versucht, Assad zu stürzen, so wie es auch in Tunesien, Libyen und Ägypten passiert war. Assad ließ seine Truppen auf die Menschen schießen. Die begannen sich zu bewaffnen. Assad mit Russlands Hilfe zerstörte ganze Städte, bombardierte Bäckereien, Schulen und Krankenhäuser. Zehntausende starben, auch mein Freund und Reporterkollege James Foley. 

In Afrin, in das ich mittlerweile als Reporter reiste, kam ich wieder bei einer Familie unter. Aber in den Schränken vieler Häuser standen jetzt Kalaschnikows, in den Straßen war Angst und in den Menschen Misstrauen. 

Ich berichtete einige Jahre aus der Region, brannte aus, ging zurück nach Deutschland, ging nochmal auf eine Journalistenschule, fing an über andere Themen zu schreiben, über den Aufstieg der Neuen Rechten in Ostdeutschland und schließlich das Klima. Alan und weitere syrische Freunde kamen nach Deutschland, bauten ein neues Leben auf. 

In Syrien wurde weiterhin gemordet, mal vom Islamischen Staat, dann von Jabhat al-Nusra, dann von der US-Regierung, dann von Erdogan. Oft von allen gleichzeitig. So viel Schmerz, so unendlich viel Schmerz. Vielleicht auch weil ich es irgendwann nicht mehr ertrug, guckte ich nicht mehr hin. Bis vergangene Woche. 

Abu Muhammad al-Dschaulani, ein Typ, der mal sowas wie der Osama bin Laden Syriens war, ein Hardcore Dschihadist und Schlächter, kehrt der ganzen Sache irgendwann den Rücken. Statt Selbstmordattente zu veranlassen, baut er in seinem Herrschaftsbereich die Infrastruktur wieder auf, schützt Minderheiten und lässt Demonstrationen zu – auch wenn sie sich gegen ihn richten.

So schmiedet er ein neues Bündnis, nimmt Aleppo, die zweitwichtigste Stadt des Landes ein, weil Assads Truppen überraschend fliehen. Er verspricht auch dort allen Minderheiten Schutz und zieht weiter, und vielerorts geschieht das Gleiche: Die Soldaten des Regimes gehen einfach nach Hause. Nach nur ein paar weiteren Tagen flieht Assad aus dem Land, und die Revolution, die vor 13 Jahren begann, findet so etwas wie ein Ende. 

Die Foltergefängnisse werden geöffnet, die Gebäude des Geheimdienstes niedergebrannt und die Statuen der Assad-Familie gestürzt, und bei mir war da nur Unglaube, in dem Sinne von: Ich konnte nicht glauben, was da passiert, dass das real und gut ist. 

Erst als ich die Bilder feiernder Menschen aus Berlin-Neukölln gesehen und dann mit meinen alten syrischen Freunden telefoniert habe, wurde es real.

Alan und andere erzählten mir, wie sie seit zwei Tagen nicht geschlafen haben. Davon wie glücklich sie und ihre Verwandten in Syrien sind. Von ihrem Wunsch nach Hause gehen zu können, und dem schmerzhaften Wissen, dass da nichts mehr ist: Das Haus meines Freundes Wassim gibt es nicht mehr, genauso wenig wie das Haus seiner Eltern. Aber das ist gerade zweitrangig, denn so lange, wie Assads Geheimpolizei das Land beherrschte, konnten meine Freunde nicht zurück. Jetzt ist die Geheimpolizei nicht mehr. Assad ist nicht mehr. Diese Diktatur, die vielleicht schlimmste der Welt, ist nicht mehr. Stattdessen ist da die Chance auf einen Neuanfang.

Meine Freunde träumen davon, nächstes Jahr zumindest mal für einen Besuch zurück nach Syrien zu gehen, und Wassim hat mich gefragt, ob ich mitkommen möchte. Etwas Schöneres, als ihn dort zu begleiten, könnte ich mir nicht vorstellen.

Autor und Community-Organizer – das beschreibt am besten das, was ich mache, also Menschen zusammenzubringen und zu empowern, indem ich schreibe und Bewegungen baue. Wenn du dabei helfen möchtest, unterstütz mich gerne mit einem monatlichen Beitrag:

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