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Kollektiv LNG-Terminals zertrümmern - 12.12.2022

Kollektiv LNG-Terminals zertrümmern

Neben dem Hass, über den ich kürzlich geschrieben habe, ist da noch etwas anderes. Die Lust auf Rache. Das Ahrtal. Pakistan. Ostafrika. Ich merke, ich will, dass irgendwer dafür bezahlt. Und zwar die, die Schuld haben.

British Petrol wusste seit 1981, dass sein Geschäftsmodell „in der Zukunft zu katastrophalen Konsequenzen führen wird“. Auch Shell. Auch ExxonMobile. Sie alle hatten entsprechende Studien anfertigen lassen, sie wussten, was sie anrichten. Und tun es trotzdem.

Noch schlimmer: Seit dem Tag belügen sie uns, schicken ihre Lobbyheere, um von ihrer Schuld abzulenken. Und sie verdienen gut damit: Drei Milliarden Dollar Profit am Tag, rund ein Prozent des globalen Wohlstands der vergangenen vierzig Jahren. Jetzt kollabieren unsere Lebensgrundlagen. Tiere sterben aus. Menschen verlieren ihr Zuhause. Ganze Regionen hungern.

Ich will, dass dafür jemand büßt, und wenn ich mich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis umhöre, dann sind da viele, denen es so geht. Unsere Filme sind voll von Rächer*innen: Robin Hood, Batman, Mildred Hayes.

Ich stelle mir vor, wie ich im Kontrollraum eines dieser neuen LNG-Terminals stehe und mit einer dieser riesigen Rohrzange, die sie auf Ölplattformen verwenden, auf die Bildschirme und Kontrollpanels einschlage. Wie alles in Stücke und Scherben geht. Funken schlagen, Rauch aufsteigt. Die ganze Anlage runterfährt. Wahrscheinlich würde ich einen Stromschlag kriegen, wahrscheinlich bräuchte dicke Gummihandschuhe. Aber das spielt in meiner Fantasie keine Rolle. Sie in meinem Kopf ablaufen zu lassen, fühlt sich selbst an, wie ein belebender Stromschlag, der mir durch die Venen schießt.

Seit mir die Rachelust aufgefallen ist, recherchiere ich dazu. Was ich kaum finde: Fälle nicht individueller, sondern kollektiver Rache, bisher nur einen aus Indien, und vorsichtig jetzt wird es blutig. (TW: Vergewaltigung)

Der Gangleader Bharat Kakicharan terrorisierte eine verarmte Nachbarschaft in der Stadt Nagpur und vergewaltigte über 40 Frauen. Im August 2004 musste er vor Gericht, jedoch hieß es, die Richter würden ihn straflos laufen lassen. Das Gerücht machte die Runde, hunderte Frauen zogen zu dem Gericht, setzten sich in den Gerichtssaal.

Als Kakicharan eine Frau verspottete, die er zuvor vergewaltigt hatte, schlug ihm eine andere Frau mit einer Sandale auf den Kopf. Andere Frauen schmissen Chillipulver in seine Augen und begannen Steinen auf ihn zu werfen. Auch die Gerichtsdienern, die dazwischen gehen wollten, bekamen Chilli in die Augen. Die Frauen zogen Messer und stachen auf Kakicharan ein, insgesamt 70 Mal. Eines seiner Opfer schnitt seinen Penis ab. Nach 15 Minuten starb Kakicharan.

Abends kamen die Frauen zurück in ihr Viertel. Es wurde gefeiert, in den Straßen getanzt. Die Polizei verhaftete später mehrere Frauen. Aufgrund von Mangel an Beweisen wurden sie jedoch freigesprochen.

© RONJA RØVARDOTTER (Öffnet in neuem Fenster)

Alles an dieser Geschichte ist abstoßend, und sie passt zu dem Bild, das ich von Rache habe: Gewaltexzess. Lynchjustiz. Und trotzdem merke ich, dass da beim Lesen etwas in mir passiert. Ein kleines Gefühl von Triumph flackert auf. Ein Bedürfnis nach Gerechtigkeit wird befriedigt.

In archaischen Gesellschaften war das die Art und Weise, wie die soziale Ordnung aufrechterhalten wurde. Täter wurden von den Opfern und ihren Angehörigen bestraft. Auge um Auge. Zahn um Zahn. Später entwickelte sich daraus unser heutiges Justizsystem, um Gewaltspiralen zu verhindern.

Heute applaudieren wir Rächer*innen immer dann, wenn die Justiz versagt, und sie die Sache selbst in die Hand nehmen. Schon Sechsjährige kennen den Impuls Unrecht zu ahnden, ja, Rache zu nehmen, unser Gehirn schüttet Dopamin aus, wenn wir es selbst tun oder beobachten. Danach kommt aber auch der Kater: Wir fühlen Scham und Schuld für die Tat. Psycholog*innen sagen, Rache habe großes Potenzial, Veränderungen herbeizuführen, gleichzeitig ist sie gefährlich und tabuisiert. Auf jeden Fall lebt sie in jedem von uns.

Ich habe das Gefühl, das es sich lohnt, darüber zu sprechen. Emotionen wegdrücken hat noch nie geholfen. Verzerrt kommen sie dann an anderer Stelle raus, oder viel später und viel grausamer. Ich glaube, das will keiner.

Wie können wir unser kollektives Bedürfnis nach Rache ausleben, ohne, dass es so abläuft wie in dem Gerichtssaal? Wie können wir Gerechtigkeit erhalten in einer Welt, in der die Superreichen über dem Gesetz stehen?

Oder anders: Wie können wir das Wort Klimagerechtigkeit mit Leben füllen?

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