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#2 - 17.10.2022

Der Newsletter für die, die es kapiert haben

#2

Es sind Momente wie dieser:

Als Teil der diesjährigen documenta steht an einem Teich ein nackter, bleicher Baumstamm. Daran hängt eine laminierte A4-Seite mit einer kurzen Geschichte.

„Im Jahr 1896 hat ein kleines Mädchen, meine Urgroßmutter Maria, diese Fichte im Sauerland gepflanzt. Daher trägt der Baum den Namen Maria. Er ist leider letztes Jahr als Folge des Klimawandels verdurstet. Der Baum Maria wurde 125 Jahre alt.“

Ein Mann im karierten Hemd steht davor, liest den Text, ruft seiner kleinen Tochter zu: „Guck mal, der Baum heißt auch Maria, wie du!“ Das Mädchen, zwei Zöpfe, kommt angelaufen, guckt ihren Papa an, guckt den Baum stumm hoch, dann dreht ihr Papa sich um und sagt: „Komm, wir gehen zum Auto.“

Ich blieb zurück, konnte nicht glauben, dass es diesen Mann so wenig berührte, und dann, dass er so wenig eine Verbindung zog zu seinem eigenen Leben und Handeln, einfach ging zu seinem Auto mit seiner Tochter, der ein Schicksal droht, ähnlich dem der Fichte – versuchen zu überleben in einer vertrocknenden Welt.

Nicht immer sind die Momente so deutlich, meistens ist da im Alltag nur ein unbestimmtes Unbehagen. Wenn es im Oktober so warm ist, dass man kaum einen Pullover braucht, und andere mir sagen, wie sehr sie das gute Wetter freut. Wenn ich an einem Supermarktkühlregal stehe, vor mir zwanzig Meter in Plastik verpacktes Fleisch. Wenn Redaktionen, mit denen ich zusammenarbeite, gestiegenes Wirtschaftswachstum im triumphalen Ton vermelden, dabei scheinbar vergessen, dass mehr Wachstum fast eins zu eins mit mehr Zerstörung und Emissionen einhergeht.

In solchen Momenten habe ich oft das Gefühl, nicht mehr zu dieser Welt dazuzugehören, dass sie noch zu mir spricht, ich aber nicht mehr verstehe. Ich stehe außen. Es fühlt sich verloren an, einsam, manchmal bedrohlich: Seht ihr denn nicht, was ihr da macht?

„Normalitätssimulation“, nennt Bernd Ulrich die bundesdeutsche Mainstreamrealität, Tadzio Müller sagt „Normalwahnsinn“ dazu.

Der eine führt den Begriff wie ein Skalpell, um unsere Situation zu sezieren, der andere wie eine Lanze, um sie anzugreifen.

Ich kenne das Bedürfnis nach Rationalisieren und kenne die Wut. Meistens bin ich aber vor allem traurig, fühle mich ohnmächtig. Ich frage mich, was Alternativen wären, und sehe nichts Überzeugendes.

Nach dem Newsletter vergangener Woche schrieb eine Leserin, dass es ihr ähnlich gehe. Und sie schrieb den Satz: „Man wird dadurch ein Stückchen einsamer, aber man sucht vielleicht mehr nach Gleichgesinnten und findet neue Bekanntschaften. Das Problem ist nur, dass sich die ganze Kommunikation dann eher nur in Blasen abspielt.“

Es stimmt, mir geht das auch so. Ich treffe immer mehr Menschen, denen es ähnlich geht. In solchen Blasen zu sein, empfinde ich dabei nicht unbedingt als Problem. Es sind ja erstmal einfach Momente, in denen man sich sicher fühlen, Kraft schöpfen kann.

© Illustration RONJA RØVARDOTTER (Öffnet in neuem Fenster)

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