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Scholz, Schäuble, Lindner - deutsche Finanzminister und die Staatsschulden. 

Warum halb Europa Angst vor'm neuen Finanzminister hat. 

Die Berufung von Christian Lindner zum neuen Bundesfinanzminister hat, schon bevor sie offiziell war, für große Aufregung im Ausland gesorgt. Das sich ausländische Beobachter so für einen früher als technokratisch geltenden Ministerposten interessieren, scheint erst mal etwas ungewöhnlich. Angesichts der jüngeren Vergangenheit und der überragenden Wichtigkeit des deutschen Finanzministers für Europa kann man dieses Interesse durchaus nachvollziehen. Dazu ein kleines Essay:

Denn Lindner ist erklärter Gegner einer expansiven Fiskalpolitik und vertrat mit seiner Partei bisher das deutsche Mantra des "Sparens um jeden Preis" wie kaum ein anderer.

Der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz und der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze schrieben aus diesem Grund während der Koalitionsverhandlungen einen Gastbeitrag in der Zeit (Öffnet in neuem Fenster), in dem sie vor Lindners Berufung als Finanzminister warnten und stattdessen den Grünen Co-Vorsitzenden Robert Habeck favorisierten. Sie bezeichnen eine mögliche Sparpolitik Lindners als "crash test neither Germany nor Europe can afford". 

Um diese Befürchtungen und die wirtschaftspolitischen Zusammenhänge dahinter zu verstehen, muss man ein wenig in die Vergangenheit und auf die derzeitigen Fiskalregeln schauen.

Interessant dafür sind besonders die Regeln, die vor der Gründung des Euros im Vertrag von Maastricht 1992 festgelegt wurden. Darin werden alle Staaten aufgerufen, eine Staatsquote von unter 60% des BIP einzuhalten und außerdem darf das strukturelle Haushaltsdefizit nicht mehr als 3% des BIP ausmachen. Das strukturelle Defizit ist der Teil der Staatsausgaben, der nicht durch Einnahmen, sondern durch Kreditaufnahme gedeckt ist (Neuverschuldung).

Außerdem Bestandteil dieser Vereinbarung war die Gründung einer unabhängigen Zentralbank mit strengem Mandat nach dem Vorbild der Deutschen Bundesbank: Sie solle nur auf die Preisstabilität (angestrebte Inflation von knapp unter 2% bzw. inzwischen durchschnittlich 2%) achten. Wirtschaftliche Faktoren wie Wachstum, Arbeitslosigkeit und Staatsschulden sollen sie höchstens in Bezug auf die Inflation interessieren, das Mandat sollte aber nicht genutzt werden, um diese Faktoren aktiv zu beeinflussen. Und am wichtigsten: Es sollte der EZB strikt verboten sein, Staaten zu finanzieren, indem sie deren Anleihen kauft.

Woher man genau auf 60 % kommt, lässt sich einfach sagen: Das war in etwa die Durchschnittsschuldenquote der Länder, die dem Euro beitreten sollte. Warum aber genau 60 % Staatsschuldenquote tragfähig sein sollen, 65% hingegen nicht, ist ökonomisch kaum begründbar. Zwar gibt es das berühmte Essay der Ökonomen Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart, in dem sie anhand von Daten aus vielen Ländern darlegen, dass sich eine Schuldenquote von über 90 % des BIP negativ auf das Wachstum auswirkt. Wie man später bemerkte, befanden sich darin aber einige Excelfehler. So hatte man die Daten von Ländern, die bei einer Schuldenquote von mehr als 90 % des BIP trotzdem höhere Wachstumsraten verzeichneten, deutlich schwächer gewichtet miteinfließen lassen als die Daten von Ländern, die bei ähnlich hoher Schuldenquote schlechtere Wachstumsraten aufwiesen. (Eine bösmeindende Interpretation wäre, dass man sich die Daten passend gemacht hätte, um seine These zu unterstützen). Im Grunde genommen gibt es also weder für die 60 % noch für irgendeine andere Schuldenquote die es anzustreben gelte, eine besonders sinnvolle wissenschaftliche Begründung. 

Doch wann sind Schulden überhaupt ein Problem und wann nicht?

Das lässt sich natürlich nicht ganz eindeutig beantworten. Einige eher neoklassische Ökonomen nehmen dafür die Staatsschuldenquote als Indikator. Andere nehmen das Verhältnis von Wachstum/Zins. Sie argumentieren, wenn die Wirtschaft stärker wächst als die Zinsbelastung des Haushalts durch die Staatsverschuldung, sei die Staatsschuld kein so großes Problem.

Aber vielleicht sollte man sich erst einmal (etwas vereinfacht) anschauen, wie Staaten sich überhaupt verschulden: Sie geben Anleihen mit einer gewissen Laufzeit aus und zahlen dafür einen gewissen Zins.

Beispiel: Das Finanzministerium gibt 10 Anleihen mit einer Laufzeit von 10 Jahren aus mit einem Rückzahlungswert von 100 Euro. Dies passiert auf einer Auktion. Dabei kommt dann ein jährlicher Zins zustande, sagen wir 3 %. Das heißt, im nächsten Bundeshaushalt muss die Regierung jedes Jahr für jede der 10 Anleihen Kosten von 3 Euro veranschlagen (insgesamt also 30). Der gezahlte Zins ist allerdings nominal, rechnet man die Teuerungsrate mit herein, ist der reale Zins häufig etwas niedriger. Außerdem besteht ja eine je nach Land unterschiedlich hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Schulden nicht zurückgezahlt werden können oder zumindest nicht in voller Höhe. Der Zins spiegelt das üblicherweise wieder, man nennt dies Risikoaufschlag. So sind wegen der dementsprechenden Unsicherheit über die Entwicklungen der Zukunft langfristigere Anleihen in der Regel teurer als kurzfristige. Ein Käufer würde also bei einer einjährigen Anleihe, wenn er eine Inflationserwartung von sagen wir 2 % hat, einen Zins von 2 % + X (X = Gewinnmarge) verlangen. Für eine 10-jährige Anleihe, je nach langfristiger Inflations- und Ausfallsrisikoeinschätzung, wäre der Zins möglicherweise höher. (Genauere Erklärung zur Verschuldung des Bundes vom Thinktank Dezernat Zukunft finden sie hier (Öffnet in neuem Fenster)).

An der Art der Finanzierung sieht man gleich mehrere interessante Dinge:

  •  Für den Staat ist in erster Linie der Zins und nicht die Höhe der Schulden entscheidend. Selbst wenn also die Bruttoschulden bei sagen wir 100 % des BIP lägen, deren Zinskosten aber im Durchschnitt 1 % sind, hat man im Haushalt jährliche Zinskosten von 1 % des BIP, was durchaus als tragfähig angesehen wird.

  • Der Staat muss seine Schulden nie wirklich zurückzahlen.  Wenn die Anleihen des Staates nämlich fällig werden, kann der Staat eine neue Anleihe mit gleicher Summe ausgeben und damit die alte abzahlen. Das Argument von der Belastung der kommenden Generationen ist daher nur bedingt richtig.

  • Dafür ist natürlich der Zins wieder wichtig: Wenn der Staat eine alte Anleihe bezahlt und eine neue ausgibt, der Zins sich in der Zwischenzeit aber erhöht hat, steigt die Kostenbelastung für den Staat.

Solange der Staat also Käufer findet, ist Verschuldung nur wegen des Zinses auf Staatsanleihen ein Problem. Und hier kommt die Zentralbank ins Spiel. In der Theorie kann ein Staat, der sich in seiner eigenen Währung verschuldet, nicht pleite gehen. Denn die Zentralbank kann immer als Käufer der letzten Instanz auftreten und die Schuldtitel des Staates kaufen. Die Realität sieht meistens allerdings anders aus. Denn haben auch Währungen einen Wert. Dieser hat meist mit dem Vertrauen zu tun, dass man in dieser Währung auch etwas bezahlen kann, am besten zu einem relativ stabilen Preisniveau. Wenn also ein Land wie Liberia nicht einmal seine Staatsbedienstete in der eigenen Währung bezahlt, weil diese nichts wert ist, hat es keinen Sinn, wenn die Zentralbank Staatsfinanzierung betreibt, da das Geld, das der Staat ausgeben möchte, nicht dazu irgendwen zu bezahlen oder etwas zu kaufen. Und wie eben beschrieben, sind die meisten Zentralbanken der Welt inzwischen unabhängig. Der EZB ist es sogar verboten, monetäre Staatsfinanzierung zu betreiben.  

Allerdings kann die Zentralbank auch über den Leitzins, also den Zins zu dem sie kurzfristige Liquidität zur Verfügung stellt, kann sie die Zinsen auf Staatsanleihen zumindest mit beeinflussen, da von diesem meist die kurzfristigen Inflationserwartungen beeinflusst sind. Dieser Effekt erstreckt sich aber entsprechend der Kurzfristigkeit meist in besonderem Maße auf kurzfristige Staatsanleihen und etwas weniger auf langfristige. 

Außerdem haben die Zentralbanken in der Vergangenheit an den Märkten für Staatsanleihen interveniert. Denn auch wenn die direkte monetäre Staatsfinanzierung für einige Zentralbanken verboten ist, ist es erlaubt, anderen Akteuren an den Finanzmärkten die von ihnen gehaltenen staatlichen (und/oder privaten) Schuldtitel abzukaufen. Während Kritiker das als eine Art juristisches Schlupfloch für die Staatsfinanzierung durch die Druckerpresse sehen, verweisen die Zentralbanker darauf, dass sie nur zum Zwecke der Beruhigung der Finanzmärkte und der Preisstabilität Staatsanleihen kaufen. Zwar tragen diese Anleihenkäufe in der Tat zu einer Beruhigung der Finanzmärkte bei, sodass die Realwirtschaft nach wie vor mit Geld versorgt werden kann, was für die Preisstabilität essenziell ist. Ein Nebeneffekt ist aber in der Tat eine Art Monetarisierung der staatlichen Ausgabenpolitik. Zwar wird ein Großteil der Staatsverschuldung nach wie vor von privaten Akteuren gehalten, aber durch ihre Interventionen an den Anleihemärkten halten sich die Risikoaufschläge auf Staatsanleihen dadurch in Grenzen oder werden sogar negativ.

Unter diesem Setting kann man sich nun die Verschuldungssituation in der Eurozone ansehen, um zu begreifen, warum in einigen südeuropäischen Staaten die Angst vor einem Finanzminister Linder groß ist.

Als im Zuge der Finanzkrise in den Jahren 2008 und 2009 durch Bankenrettungen und Konjunkturpakete bei gleichzeitig einbrechenden Steuereinnahmen die Staatsverschuldung in der Eurozone stark anstieg, wurde diese Situation zunehmend gefährlich.

Insbesondere Griechenland, das vor der Finanzkrise schon einen sehr hohen Schuldenstand hatte, wurde gefährlich, aber auch Irland, Italien, Portugal und Spanien waren nicht gerade in einer stabilen Lage. In Deutschland war die Staatsschuldenquote zwar deutlich über die erlaubten 60% des BIP gestiegen, aber das Haushaltsproblem war nicht so dramatisch wie bei den Südeuropäern (+Irland). Außerdem kam der Effekt hinzu, dass Deutschland die größte Volkswirtschaft der EU stellte und so keine ernsthafte Unsicherheit darüber bestand, dass es seine Schulden bedienen konnte - der Risikoaufschlag auf Staatsanleihen war im Vergleich zu anderen Ländern also eher klein. Und so kamen die deutschen Politiker der Großen Koalition, die über eine 2/3 Mehrheit im Parlament verfügten, auf die im Rückblick dämlichste Idee, die man sich vorstellen kann. Die Einführung einer dauerhaften, extrem restriktiven Schuldenregel, die noch deutlich über die Maastricht-Kriterien hinausging. Außer in einer Notlage sollte das strukturelle Defizit nicht mehr als 0,35 % des BIP betragen. Zusätzlich schrieb man das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts explizit in die Verfassung. Inwieweit ein wirtschaftspolitisches Paradigma in die Verfassung gehört und wie dies aus demokratischer/verfassungsrechtlicher Sicht überhaupt vertretbar war, ist mir ein großes Rätsel. Aber die Juristen aus Karlsruhe, bei denen sowieso eher ein Kassenwartdenken herrscht (siehe Paul Kirchhof), hatten damit offenbar kein Problem.

Im Herbst 2009 verlor die SPD krachend die Bundestagswahl und Bundeskanzlerin Merkels CDU bildete eine neue Koalition mit Lindners FDP, deren Generalsekretär er kurz darauf wurde. Neuer Finanzminister wurde Wolfgang Schäuble, der ein großer Verfechter der Schwarzen Null (gar keine Neuverschuldung) war und den Staatshaushalt ebenfalls aus der Perspektive eines Juristen beurteilte. Schäuble erteilte verschiedenen Steuersenkungswünschen der FDP aufgrund der Haushaltslage eine Absage und startete dann eine fiskalische Vollbremsung. Diese wollte er allerdings nicht nur in Deutschland durchsetzten, sondern in ganz Europa. Zwar ist Wolfgang Schäuble ein glühender Europäer, aber in der Fiskalpolitik vertrat er eine harte Linie und lehnte eine Vergemeinschaftung der Schulden grundsätzlich ab. Hilfskredite an stark gefährdete Länder wie Griechenland und Irland sollten an Bedingungen wie zum Beispiel harte Einsparungen und eine Restrukturierung der Schulden (die Gläubiger sollten dazu bewegt werden, auf einen Teil ihrer Forderungen zu verzichten) geknüpft werden.

Die EZB unter ihrem Präsidenten Jean-Claude Trichet unternahm in der Zwischenzeit wenig, um die Situation zu verbessern. Einen Ankauf von Staatsanleihen lehnte er mit Verweis auf die Unabhängigkeit der EZB erst einmal ab. 

Das Problem der von Schäuble geforderten Sparmaßnahmen und Schuldenrestrukturierung war, dass sie zum einen den betreffenden Volkswirtschaften zutiefst schadeten, das Finanzsystem bedrohten und die Staatsverschuldung nicht einmal zum positiven beeinflussten.

Aber eins nach dem anderen. Das Problem an der Rückführung der Staatsverschuldung in einer laufenden Rezession ist folgendes: 

  •  Man muss um die Verschuldung zurückzuführen, Schulden tilgen und am besten schnell wieder das BIP zum wachsen bringen, denn bei schrumpfender Wirtschaft wächst die Schuldenquote, selbst wenn die absolute Schuldenlast gleich bleibt.

  •  Um Schuldenlast und Defizit zu reduzieren, muss man also die Einnahmen erhöhen und/oder gleichzeitig die Ausgaben senken.

  • Im Fall Griechenlands hatte dies aber katastrophale Auswirkungen, denn in einer Krise ist häufig die gesamtwirtschaftliche Nachfrage sowieso geschwächt und es wird weniger konsumiert.

  • Wenn man nun also staatliche Leistungen und Investitionen kürzt und die Beschäftigen zwingt, Lohnsenkungen zu akzeptieren, bricht diese Nachfrage noch mehr ein. Wer sollte nun die produzierten Güter/Dienstleistungen kaufen, wenn die Löhne und staatlichen Zuschüsse wegfallen bzw. kleiner werden?

  • Die griechischen Unternehmen, die also nicht mehr viel absetzen konnten, produzierten weniger und entließen Beschäftigte, die nun auch nichts mehr verdienten, es sei denn, der Staat sprang ein, was dessen Ausgaben wieder erhöhen würde und dem Ziel des Schulden-/Defizitabbaus zuwiderlief.

  • Insgesamt schrumpfte also die Wirtschaft noch weiter, die Staatsschuldenquote stieg und - das war und ist für die Menschen bis heute wahrscheinlich am schlimmsten - die Arbeitslosigkeit (besonders unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen) stieg massiv an und ganze Bevölkerungsschichten verarmten.

  • Gleichzeitig kam es zu einer großen Kapitalflucht und die wirklich Reichen drückten sich so vor Steuererhöhungen.

Auch die Restrukturierung der Schulden hat ihre Probleme. Denn diese werden vor allem von großen Banken gehalten, die im Zuge der Panik an den Finanzmärkten nach der Lehman Pleite schon nah am Abgrund standen und immer noch unterkapitalisiert mit vielen toxischen Papieren in ihrer Bilanz dastanden. Drängt man diese nun zum Forderungsverzicht bei den von Ihnen gehaltenen Staatsanleihen, produziert das enorme Verluste, die wieder zu Bankenpleiten und/oder staatlichen Rettungsaktionen führen würden

Gerade in Irland und Spanien war der Finanzsektor das eigentliche Problem. Die Staatsverschuldung war vor der Krise auf einem sehr niedrigen Level und erst die Garantien und Rettungen im Bankensektor trieben die Staatsverschuldung in irdische Höhen. So gab beispielsweise Irland 2008 kurz nach der Lehman-Pleite eine staatliche Garantie an den Finanzsektor in Höhe von 300 % seines BIP.

Während der Zuspitzung der Eurokrise verlor die FDP in Deutschland innenpolitisch an Boden. Nach dem Rekordergebnis 2009 bei der Bundestagswahl ging es steil bergab. In den Jahren 2010-2013 verlor die FDP fast bei sämtlichen Landtagswahlen mehrere Prozentpunkte und flog aus mehreren Landesparlamenten. Dies hing zum einen mit mäßig kompetenten Führungspersonal zusammen, das die FDP vorzuweisen hatte. Altbundeskanzler Helmut Schmidt hatte einmal über die "FDP- Häuptlinge" Jürgen Möllemann und Guido Westerwelle gesagt "hohe Intelligenz, hohes Geltungsbedürfnis - Substanz zweifelhaft". Insgesamt würde ich behaupten, dass das zweite Kabinett Merkel das personell am schlechtesten aufgestellte Kabinett in der Geschichte der Bundesrepublik war und daran hatte die FDP einen großen Anteil. Zudem war die Partei bereits seit der Oppositionszeit seit Ende der 90er eine programmatisch stramm neoliberale Partei. Abbau des Sozialstaats und Sparkurs bei gleichzeitigen Steuersenkungen (vor allem für Besserverdienende und Unternehmen) waren die Eckpunkte ihres politischen Programms. Nachdem die Vorgängerregierungen die ersten beiden Punkte übernommen hatten, zog die FDP 2009 in Verkennung der wirtschaftlichen Lage eigentlich einzig mit der Forderung nach Steuersenkungen in den Wahlkampf. Als Schäuble dann die meisten dieser Forderungen ablehnte, war die FDP programmatisch blank und konnte nicht mal die Klientelpolitik machen, für die sie ein bestimmter Bevölkerungsteil wählte. Also wählte sie die einzige Möglichkeit, sich zu profilieren und spielte die antieuropäische Karte. Die Ablehnung von Hilfspaketen wurde damit begründet, dass man keine "Defizitsünder" belohnen wollte und als die EZB die schließlich doch noch am Anleihenmarkt intervenierte und den Banken Staatsanleihen in kleinem Umfang abkaufte (die direkte Staatsfinanzierung war ja verboten), wurde sie als Subventionierer der verschuldeten Länder gegeißelt, obwohl sie nur den Ausputzer für die Regierungen der Eurozone spielte.  Interessant ist dabei, dass sobald die Zentralbank klarstellte, dass sie im Notfall hinter den in ihrer Währung produzierten Schulden stand (EZB Präsisdent Draghis berühmtes: "whatever it takes [...] believe me, it will be enough") (Öffnet in neuem Fenster) , das Schuldenproblem sich mehr oder weniger entspannte. Natürlich war die Schuldensituation in Griechenland und Italien nach wie vor schlecht, aber sie bekamen wieder Zugang zu den Kapitalmärkten und es stand keine akute Staatsinsolvenz bevor. Das Insolvenzproblem bestand also nur durch die künstliche Begrenzung der Aufgaben der EZB und der Unfähigkeit der großen Länder - insbesondere Deutschland - eine Lösung zu finden.

Christian Lindner ist in vielfacher Hinsicht von der Regierungszeit 2009-2013 sowie von der Westerwelle FDP geprägt. Zum einen wurde er zu Beginn dieser Zeit von Westerwelle zum Generalsekretär gemacht und gestaltete den Kurs der FDP mit. Im Jahr 2011, als sich bereits abzeichnete, dass die FDP in der Wählergunst nicht besonders gut dastand, trat Lindner unter rätselhaften Gründen zurück. Im Rückblick kann man das entweder als weise Voraussicht oder als Opportunismus auslegen, klar ist jedoch, das Lindner noch rechtzeitig vom Karren absprang, bevor dieser gegen die Wand fuhr. Lindner zog sich in die NRW-Landespolitik zurück und bekam bei der Landtagswahl 2012 als Spitzenkandidat ein sehr respektables Ergebnis, entgegen des schlechten Bundestrends. 

Nach der katastrophalen Wahlniederlage der FDP bei der Bundestagswahl 2013, bei der diese unter der 5 % Hürde blieb, wurde Lindner Parteivorsitzender und baute die FDP neu auf. Thematisch veränderte sich aber nicht besonders viel. Sparkurs und Steuersenkungen blieben Teil des Programms, Bürokratieabbau und Digitalisierung wurden stärker betont, waren aber wenig konkrete Begriffe, die eher PR waren und dabei halfen der FDP und Linder ein Start-Up/Silicon Valley Image zu verpassen. Bei der Bundestagswahl 2017 verdoppelte die FDP ihr Stimmergebnis und hatte nach der Absage der SPD die Chance teil der Regierung in einer Jamaika-Koalition zu werden. Kurz vor dem geplanten Abschluss der Sondierungsverhandlungen ging Lindner an die Presse, erklärte die Verhandlungen für gescheitert und sagte "es sei besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren". Über die Gründe wird bis heute gerätselt.

Man darf aber doch annehmen, dass es eine taktische Entscheidung war. Lindner hatte keine Lust, in einem Kabinett Merkel wieder so über den Tisch gezogen zu werden, wie es den Herren Westerwelle und Rösler zwischen 2009 und 2013 passierte, zumal nun auch noch die Grünen mit am Tisch saßen. Lindner hatte wohl schlicht Angst davor, auf dem belanglosen Posten des Wirtschaftsministers zwischen den Grünen und der Union eingeklemmt zu werden und eigentlich keine Rolle zu spielen. Und der Hauptprogrammpunkt der FDP massive Steuersenkungen bei geltender Schuldenbremse war aus Sicht von Grünen und Union ohne Steuererhöhungen schlicht nicht umsetzbar, was Lindner in den Gesprächen klar gemacht wurde (und auch vorher absehbar war). Andere Themen wie Digitalisierung in der Bildung und Bürokratieabbau insbesondere beim Thema Föderalismus scheiterten an den Ministerpräsidenten der Union. Auch die Ablehnung eines irgendwie gearteten Fortschritts der europäischen Integration durch die FDP war ein Problem. 

Letztendlich bildete die Union doch wieder eine Große Koalition mit der geschwächten SPD, die dafür jedoch das Finanzministerium erhielt, was sich als Geniestreich herausstellen sollte. Der neue Finanzminister Olaf Scholz gab sich zwar nach außen hin sparsam wie sein Vorgänger. Hinter den Kulissen änderte sich aber vieles. Jakob von Weizsäcker, ein Abgeordneter der SPD im Europaparlament, der sich um eine europäische Bankenunion und die Etablierung eines Trennbankensystems bemüht hatte, wurde neuer Chefvolkswirt im BMF. Von Weizsäcker ist außerdem ein Ökonom, der wenig von der Sparpolitik Schäubles hielt und sich für eine gemeinsame europäische Ausgabenpolitik einsetzte (entweder durch eine von der EU erhobene Steuer oder durch gemeinsame Schulden).

Eine andere interessante Personalie war die Berufung des Deutschland-Chefs von Goldman Sachs, Jörg Kukies zum Staatssekretär für Finanzen und Europa. Diese Besetzung wurde wegen des Interessenkonflikts zwar erst stark kritisiert, stellte sich jedoch im Rückblick als Glücksgriff heraus.

Dank sprudelnder Steuereinnahmen konnte Scholz die Investitionen erhöhen und schrieb auch knapp 50 Milliarden an jährlichen Investitionen in Infrastruktur in die mittelfristige Finanzplanung. In der Öffentlichkeit gab sich Scholz beim Thema Schulden eher sparsam, vor allem sparsam an Worten. Dafür musste sich Scholz einiges in seiner eigenen Partei anhören und fiel bei der Wahl zum Parteivorsitz mit seiner Tandempartnerin Klara Geywitz durch, unter anderem wegen der nach außen hin vertretenen "Schwarzen Null" Politik. Nach meiner Einschätzung ist das Eintreten für "solide Staatsfinanzen" bei Scholz eher Taktik. Er ist sich des Spardenkens der deutschen Wähler und der Presse bewusst und möchte nicht die Rolle des roten Schuldmachers spielen. Es ist außerdem spätestens seit 2018 bekannt, dass Scholz anstrebte, Bundeskanzler zu werden und dafür wäre ein solches Image fatal.

Aber hinter den Kulissen agierte Scholz deutlich klüger als sein Amtsvorgänger. Insbesondere in der Eurogruppe (Finanzminister*innen der Euro Staaten + EU-Kommissar/in + EZB-Chef/in), trat Scholz sehr viel zurückhaltender auf und hielt den Südeuropäern keine Vorträge, wie sie ihre Finanzen zu gestalten hatten. Außerdem machte er auch keine Stimmung gegen die EZB und deren Nullzinspolitik. Aber sein großer Moment kam dann in der Coronakrise:

In Deutschland stellte er zügiger als die meisten Länder Wirtschaftshilfen in historischem Ausmaß bereit und schnürte ein großes Konjunkturpaket. Und in Europa verhandelte er bzw. Jörg Kukies hinter den Kulissen den europäischen Wiederaufbaufonds zusammen mit dem französischen Finanzminister Bruno LeMaire und überraschte zusammen mit der Bundeskanzlerin die deutschen Konservativen mit dem Vorschlag, diesen tatsächlich über von der EU ausgegebene Anleihen zu finanzieren, für die man gemeinsam haften würde. Das wurde zwar nicht eins zu eins umgesetzt, aber es kam trotzdem zu dem von ihm als "Hamilton Moment" bezeichneten Schritt der gemeinsamen Schuldenaufnahme (Alexander Hamilton war der erste Finanzminister der USA, der die Schulden der Einzelstaaten vergemeinschaftete).

Und 1,5 Jahre später schaffte es der mit Außenseitchancen gestartete Kanzlerkandidat Scholz tatsächlich mit seiner Partei stärkste Kraft zu werden.

An dieser Stelle tritt erneut Christian Linder auf den Plan. Um zwischen den drei Kanzlerkandidat*innen der anderen Parteien nicht unterzugehen, bewarb sich Christian Lindner ganz explizit als nächster Finanzminister in einer erhofften Jamaika-Koalition. Dies ist aber sicherlich auch eine Schlussfolgerung aus der Regierungszeit 2009-2013, wo Wolfgang Schäuble als Finanzminister die einzigen der FDP wichtigen Vorhaben blockierte. Wenn man nicht am Geldhahn sitzt, bekommt man im Zweifel nämlich auch keines. Im Wahlkampf trat Linder also als Verteidiger "solider Staatsfinanzen" auf, der Schuldenmachen ablehnte und (wie immer) Steuern vor allem für Besserverdienende und Unternehmen senken wollte. Neue europäische Geldtöpfe lehnte die FDP erneut grundsätzlich ab und der Hinweis, die hoch verschuldeten Staaten müssten nun schnell ihre Defizite abbauen durfte natürlich auch nicht fehlen. Als nun dieses Jahr die Preissteigerung getrieben durch die Energiepreise, Lieferengpässe und verzerrt durch die temporäre Mehrwertsteuersenkung des Vorjahres anstieg, hatte die FDP ein vermeintliches Argument für ihre Positionen gefunden. Die schon seit Jahren gepredigte Sorge, die Nullzinspolitik würde zu hohen Inflationsraten führen, wurde jetzt aus Sicht der FDP bestätigt. Und natürlich sagte Linder nun, der Staat müsse jetzt sparen, um diese Inflation nicht zu verschärfen und die EZB solle bitte schnell die Zinsen erhöhen. Die Logik hinter Lindners Plänen wurde besonders von der konservativen Presse kaum hinterfragt und die ordoliberalen Ökonomen mit Ihrer Staatsschulden-und Inflationsneurose hatten ihr neues Idol gefunden. Als Joe Stiglitz und Adam Tooze vor einem Finanzminister Lindner warnten, löste dies eine Empörungswelle bei ebenjenen Ökonomen aus, und man verbat sich eine Einmischung aus dem Ausland (eine Sitte, welche die deutschen Ordoliberalen selbst eher selten befolgen).

Als sich dann der Wahlkampf drehte und die SPD schließlich auf Platz eins landete, weichte Lindner seine Positionen etwas auf. Die Schuldenbremse bedeute ja nicht gar keine Schulden und öffentliche Investitionen brauche es auch ein paar. Und so wurde nun Christian Lindner, entgegen aller Warnungen Finanzminister. Wie stark er seine im Wahlkampf angekündigten Pläne umsetzen wird, bleibt abzuwarten. Das Problem ist, dass der finanzpolitische Bereich im Koalitionsvertrag relativ vage beschrieben ist und Lindner jetzt nun mal am Geldhahn sitzt.

Wenn Lindner aber die Reformpolitik Griechenlands, also massive staatliche Kürzungen sowie Lohnsenkungen, die zu einer wirtschaftlichen Depression geführt haben, ein Vorbild nennt, lässt das nichts Gutes erahnen. Denn wenn die akute Phase der Pandemie vorbei ist, wird man über die europäischen Fiskalregeln reden müssen. Zwar hat auch Scholz gesagt, diese hätten "ihre Flexibilität bewiesen", was aber eigentlich nur heißen kann, dass sie so flexibel waren, dass man es sich leisten konnte, sie in der Krise nicht zu beachten. Die Rückkehr zu diesen Regeln ist ein Hirngespinst der konservativen Ökonomen, denn dass Italien, Spanien, Griechenland, Frankreich, Portugal etc. irgendwann in naher Zukunft zu diesen Regeln zurückkehren können, ist völlig unrealistisch. Zumal in der ganzen Eurozone massiv investiert werden muss, um das Wachstum wieder in Gang zu bringen und da der private Sektor das ungenügend tut, muss der Staat das in Teilen übernehmen, teilweise auch kreditfinanziert.

Das Lindner trotzdem versuchen könnte, einen Sparkurs durchzudrücken, halte ich nicht für ausgeschlossen, man darf zumindest annehmen, dass wieder einmal ein deutscher Finanzminister die anderen Mitglieder der Eurogruppe über Sparsamkeit belehrt. Ob die Charakterisierung der vergangenen FDP Frontmänner ("hohe Intelligenz, hohes Geltungsbedürfnis - Substanz zweifelhaft") durch Helmut Schmidt auch auf Lindner zutrifft, wird sich zeigen.

Bisher ist mir Christian Lindner jedenfalls weniger durch Detailkenntnis und ein tieferes Verständnis von makroökonomischen Zusammenhängen aufgefallen, sondern eher als strategischer Politiker, der sich selbst zu inszenieren weiß.

Aber es gibt auch Grund zum vorsichtigen Optimismus:

In den ersten Pressekonferenzen gab sich Lindner abgesehen von der Bemerkung zu Griechenland eher zahm. Als eine der ersten Amtshandlungen befüllte er einen Klimafonds mit 60 Milliarden Euro mit zum Zwecke der Coronabekämpfung aufgenommenen Schulden aus den Jahren 2020/21 (die Schuldenbremse wurde wegen der Notlage ausgesetzt). Für eine ähnliche Maßnahme hatte er noch die Vorgängerregierung kritisiert. Auch spricht er beim Thema Schulden und soliden Staatsfinanzen vermehrt über Wachstum als Lösungsweg.

Mit Olaf Scholz sitzt nun außerdem jemand im Kanzleramt, der sich in der Materie bisher besser auskennt als Lindner und der anders als Angela Merkel auch bereit sein dürfte, dem Agieren seines Finanzministers, wenn nötig Einhalt zu gebieten.

Das zeigen auch mehrere Personalbesetzungen: Jörg Kukies, der den EU-Wiederaufbaufonds mitinitiiert hat, wird der Wirtschaftsberater von Scholz und ist zudem für das Thema Europa und die Vorbereitung von Gipfeltreffen zuständig. Auch der Wirtschaftsminister Habeck scheint sich eine Art Nebenfinanzministerium aufzubauen, die Berufung des Europaabgeordneten und Ökonomen Sven Giegold als Staatssekretär, der erklärter Kritiker der Schuldenbremse ist, spricht dafür, dass sich Habeck auf zukünftigen Streit mit Lindner einstellt und sich dafür ökonomische Kompetenz ins Haus holt.

Man darf also annehmen, dass Scholz und Habeck Lindners Treiben im Finanzministerium beobachten werden. Wie aber Linder reagiert, wenn die Umfragewerte der FDP einmal sinken sollen, ist nicht abzusehen, denn ein deutscher Finanzminister, der sich auf Kosten der wirtschaftlichen Situation seiner Nachbarn profilieren will, ist in der Tat ein systemisches Risiko und ein Crashtest denn sich Europa nicht erlauben kann.

Quellen und Literatur: 

Inspirationen: 

  • https://www.spiegel.de/politik/deutschland/gespraech-mit-roesler-fdp-generalsekretaer-lindner-tritt-zurueck-a-803608.html

  • https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/rettungsdebatte-fdp-stellt-hilfspaket-fuer-griechenland-infrage/3410508.html?ticket=ST-11026502-JidPK5YQzAv4iuMdYulp-cas01.example.org

  • https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/eurokrise-die-irrsinnige-sparpolitik-von-wolfgang-schaeuble-a-1134983.html

  • https://www.nd-aktuell.de/artikel/1159391.christian-lindner-lindners-neoliberale-traeume-von-griechenland.html

  • https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/habeck-holt-gruenen-spitzenpersonal-ins-superministerium-17661595.html

  • https://www.augsburger-allgemeine.de/politik/Augsburger-Allgemeine-Live-EZB-Urteil-Christian-Lindner-fordert-neue-Regeln-fuer-Staateninsolvenz-id57337716.html

  • https://en.wikipedia.org/wiki/Growth_in_a_Time_of_Debt

  • https://www.zeit.de/news/2021-09/10/streit-um-eu-stabilitaetspakt-scholz-regeln-flexibel-genug

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