Wie ich zum Leser wurde
Ich unterbrach meine Frühstückslektüre und drehte das Radio lauter. Ein Interview mit der Kinderbuchautorin Kirsten Boie hatte meine Neugier geweckt. Auf Deutschlandfunk Kultur rief sie dazu auf, ihre Petition im Internet zu unterzeichnen, dass jedes Kind lesen lernen sollte. Tatsächlich gibt es Kinder, die nicht richtig lesen können. Laut Pisa Studie sind es 18,9 Prozent bei den Zehnjährigen. Es sind funktionale Analphabeten. Diese Kinder sind in der Lage Buchstaben und Wörter zu erkennen, aber sie verstehen nicht den Sinn von kompletten Sätzen oder Texten. Die Musik setzte wieder ein. Ich musste an die ersten Jahre meiner Schulzeit denken. Ich war auch so ein Kind: Ich konnte nicht richtig lesen und schreiben.
Wörter machten mir Angst, weil ich nichts verstand, selbst vor Buchstabensuppe fing ich mich an zu fürchten. Wenn ich in der Klasse mit Vorlesen dran war, dann kam ich mir vor, wie der Eingeborene Freitag aus dem Roman Robinson Crusoe, dem Robinson mit viel Mühe das Lesen beibringt. Genau wie Freitag stotterte ich mich unter großem Gelächter der Klasse durch die Zeilen. Meist gab ich nach den ersten Wörtern auf.
Schon die Einschulung in die erste Klasse ging schief. Ich wurde von der Lehrerin nach hinten zu den anderen schwarzhaarigen Kindern gesetzt. Ich verstand sie nicht und sie verstanden mich nicht, also spielten wir miteinander. Meiner Lehrerin schien das recht zu sein, wichtig war ihr, dass wir artig und ruhig waren. Ich blieb lange ruhig und artig und wurde aus der ersten Klasse in die Vorschule versetzt, weil ich noch so verspielt sei und dem Unterricht nicht folgen könnte.
Das ABC wollte nicht zu mir kommen.
Dass es so weit kam, lag an meiner Situation zu Hause, die schwierig war. Meine Mutter war alleinerziehend, hatte keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie und musste mich und meine beiden kleinen Schwestern versorgen. Sie war immer schwer am Schuften und hatte wenig Zeit für meine Schwierigkeiten in der Schule. Es war wichtiger uns über Wasser zu halten. Und wenn sie zusätzlich noch vormittags Jobs annahm, ging ich nicht zur Schule, weil ich auf meine Geschwister aufpassen musste. Wir bekamen wenig Unterstützung. Von der sozialliberalen Idylle Anfang der Siebzigerjahre in Deutschland habe ich leider wenig erfahren.
Zum ersten Mal wurde mir einiges klar, worum es in den Texten ging, und verstand immer mehr deren Sinn.
Außerdem sind wir häufig umgezogen. In meiner Grundschulzeit war ich jedes Jahr an einer anderen Schule. Trotz meiner anstrengenden Kindheit ließ ich mich nicht entmutigen. Mir fehlte es an nichts. Ich besaß sogar Bücher, die ich allerdings nur durchgeblättert hatte. Leseversuche brach ich immer wieder ab, weil es ewig dauerte, bis ich einen Satz verstand. Viele Wörter und Satzzeichen machten mir nur Kopfschmerzen. Ich gab immer wieder auf. Natürlich kannte die Schule meine Situation und hatte noch eine zusätzliche Erklärung für meine Leseschwäche: Die Lehrer diagnostizierten bei mir Legasthenie. Von da an war ich als Schüler ein hoffnungsloser Fall.
Wieder ein Umzug und wieder eine neue Schule. Nur diesmal gab es einen Lehrer, der anfing sich für meine Probleme zu interessieren.
Meinem neuen Lehrer war aufgefallen, dass ich ein gutes Allgemeinwissen besaß, obwohl ich nicht richtig lesen und schreiben konnte. Er fragte mich, woher ich denn mein Wissen bezog. Er staunte nicht schlecht, als er erfuhr, dass ich alle meine Informationen aus dem Fernsehen bezog. Tatsächlich schaute ich gerne und viel fern. Ich mochte Historienschinken, Tierfilme und Wissenschaftssendungen aller Art. Mein Liebling war aber das Schulfernsehen im dritten Programm. Hier erklärten mir Männer und Frauen mit schlechten Frisuren, wie Kolumbus Amerika entdeckte oder wie Blattgrün entsteht. Natürlich verstand ich nicht alles, aber es zeigte mir, dass es viel größere Dinge gab, die weit mehr Bedeutung hatten als Diktate.
Wenn ich mich für solche Themen interessieren würde, dann wäre es doch sinnvoll, wenn ich bald richtig Lesen könnte, stellte er fest. Er schlug mir vor, dass ich nach dem Unterricht, bei ihm üben könnte. Ich sollte vorlesen und den Text noch einmal abschreiben. Das war meine Chance, das spürte ich. Außerdem war ich allein mit ihm und musste kein Gelächter fürchten. Ich ging auf seinen Vorschlag ein. Meine Mutter unterstütze den Plan. Fortan musste ich ihr noch zusätzlich aus der Zeitung vorlesen.
Da saß ich dann im Klassenraum und las vor und schrieb die Seite ab. Das Stottern wurde weniger mit der Zeit und die Worte fingen an zu fließen. Zum ersten Mal wurde mir einiges klar, worum es in den Texten ging, und verstand immer mehr deren Sinn. Mit dem Lesen wurde es viel besser. Ich holte mir sogar einen Leseausweis für die Hamburger Bücherhalle. Aus mir wurde ein Leser. Ich hatte großes Glück.
Die Legasthenie ist geblieben. In sehr schlechten Momenten brauche ich manchmal ein wenig Zeit. Aber Lesen und Schreiben machen mir heute keine Angst mehr. Ganz im Gegenteil. Ich wäre gerne hauptberuflich Leser. Bibliotheken und Bücherläden sind heute meine absoluten Lieblingsplätze. Denn zwischen den Bücherregalen darf ich endlich Robinson Crusoe sein und hier fürchte ich weder Piraten noch Kannibalen.
Anmerkung: Dieser Text erschien im September 2018 auf dem SoSUE Blog.Für Ponysülze habe ich ihn ein wenig bearbeitet.
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