Blütenseelen

Meine Geliebte Lok Yee,
wie gerne würde ich aus der Ferne zuschauen, wie du deine Haare hochsteckst. Besonders, wenn du versuchst, deine Nackenhaare zu bändigen. Ich vermisse dich sehr. Entschuldige meinen späten Brief. Jetzt erst habe ich Zeit gefunden, dir zu schreiben. Die Flüge waren anstrengend. Alles war neu für mich. Im Flugzeug habe ich Trottel, alles falsch gemacht. Herr Lam hat seine Zusagen eingehalten. Es gab keine Probleme mit meinen Papieren. Er hat ein gutes Verhältnis zu den Beamten und kennt viele persönlich. Die Rezepte sind einfach, ich habe sie schnell gelernt. Die Deutschen haben keine großen Ansprüche. Herr Lam sagt, sie wüssten nicht, dass Essen für uns Chinesen der Himmel ist. Er behauptet, dass sie keine Ahnung haben. Sie könnten keinen Fisch, kein Gemüse, Schwein oder Ente zubereiten. Ich soll nur darauf achten, dass die Portionen groß sind, dann gebe es keine Probleme. Die indonesischen Hilfsköche sind freundlich und sprechen Kantonesisch. Die Kellner kommen auch aus Hongkong. Wir verstehen uns alle sehr gut. Die Stadt habe ich noch nicht angeschaut. Von den Menschen hier bekomme ich nichts mit. Vor meiner Abreise hattest du meine Hemden mit deinem Parfüm eingesprüht. Ein Hemd habe ich noch nicht getragen. Bevor ich anfange zu arbeiten, schnupper ich immer dran. So bist du in meiner Nähe. In ein paar Wochen sehen wir uns wieder. Das Geld für das Ticket bringt der Cousin von Herr Lam vorbei. War er schon da? Er kümmert sich um alle Formalitäten und bringt dich auch zum Flughafen. Du kannst ihm vertrauen. Mach dir keine Sorgen. Seine Familie lebt hier auch. Schick mir ein Telegramm, bevor du abfliegst. Ich will alles vorbereiten. Wenn du kommst, mache ich dir Meeresforelle nach Chaozhou-Art. Die magst du doch so gern. Kannst du bitte Salzpflaumen aus Tantes Yan Ting Laden mitbringen, hier bekomme ich sie nicht. Ihre Schatzkammer fehlt mir. Ich muss hier alles bestellen. Es dauert ewig, bis etwas geliefert wird. Bitte vergiss nicht, das Grab meiner Eltern zu besuchen, bevor du abreist. Stelle eine Schale Reis und Reisschnaps für mich hin. Hier wird es uns besser gehen. Ich kann es kaum erwarten, dich zu sehen.
Dein liebender Mann
Yun Chi
Kirschblütenblätter landen auf dem Wasser. Sie drängeln sich um das Schilf. Sie wollen ans Ufer, zurück auf die Bäume in den Frühling. „Wer hätte gedacht, dass diese Skelette jedes Jahr wieder erblühen. Meine kleinen Blütenseelen, wie ich euch vermisst habe“, murmelt Lok Yee. Sie hält sich an ihrem Teebecher fest und schaut auf ihren Teich. Becherwärme fließt durch ihre Finger. Gut gegen Gicht. Gut gegen das kalte Land. Ihr halbes Leben hat sie hier verbracht, aber an das Wetter kann sie sich nicht gewöhnen. Selbst der Mai ist hier ein Schattenmonat, dagegen ist die Rückseite des Mondes ein Paradies, denkt sie. Davon hatte Yun Chi in seinem Brief nichts geschrieben. Sie waren frisch verheiratet und schon getrennt. Es war ein dünner hellblauer Brief mit einem blau-rot gestreiften Rand. Auf den Briefmarken war ein weißer Vogel, der aus vielen kleinen weißen Vögeln bestand. Yun Chis Schrift schimmerte durch den Umschlag. Elf Tage hatte der Luftpostbrief gebraucht. Er verschwieg ihr auch, dass er sein Zimmer mit den Köchen teilen musste und dass Herr Lam zwei Gehälter einbehielt, weil er Unkosten hatte. Von der vielen Arbeit erfuhr Lok Yee nichts. Er schuftet rund um die Uhr, weil er viele Zutaten, die er nicht bekam, selbst herstellen musste oder in Herrn Lams anderen Chinarestaurant als Koch einsprang. An solchen Tagen blieb sein Bett kalt. Schlafengehen lohnte sich nicht, weil er gleich wieder aufstehen musste. Er legte sich dann Pappen vor den Herd in der Küche und schlief dort ein wenig.
Lok Yee nennt ihren Morgentee Mutter-Vater-Tee. Kein Chinese trinkt so einen Tee. Es ist ein besonderer Tee. Starker Grüntee, Kondensmilch, Ingwer, etwas Chili mit viel Zucker. Eine Mischung, mit der sie ihre Eltern ärgern wollte. Sie führten aber kein strenges Regime. Ihre Tochter ließen sie gewähren, in der Hoffnung, dass sie eines Tages aufhört, diesen seltsamen Tee zu trinken. Seit sie in Deutschland angekommen war, hatte sie den Eindruck, dass jeder Schluck Tee die Brücke zu ihrer Kindheit verlängerte. Yun Chi schüttelte jedes Mal den Kopf über ihren Tee. „Wie kannst du so etwas trinken?“ Sie wunderte sich dann immer, weil er selten die Fassung verlor. „Glaubst du, deine süßsaure Soße ist besser, die du unseren Gästen vorsetzt“, antwortete sie. Es war nicht Lok Yees Tee, worüber er sich aufregte, die Deutschen ärgerten ihn, die von ihm Essen verlangten, das er nicht mal seinen Feinden anbieten würde. Viel lieber würde er ihnen Blattspinat mit Austernduft oder Salzhuhn servieren. Essen, das den Namen Essen auch verdient. Aber wenn er mal die Chance bekam, ihnen Spezialitäten aus der Heimat zu kochen, verzogen sie ihre Gesichter. Betäubten ihre Zungen mit viel Sojasoße. Spülten seine Kochkunst mit Bier weg. Verlangten Unmengen an Krabbenchips statt eines Desserts. Lust auf Genie war ihnen fremd. Es waren keine Allesesser.
Mit ihrem Gehstock tippt sie kurz ins Wasser. Wellen schaukeln die Blütenblätter sanft auf und ab. Lok Yee setzt sich langsam auf einen Plastikstuhl. Aus ihrer Morgenmanteltasche kramt sie ein altes Brötchen hervor. Sie wirft ein paar Stücke in den Teich. „Komm schon kleiner Drache. Ich weiß, du bist da unten.“ Es ist früh am Morgen, die Nachbarn schlafen noch. Ein paar Sperlinge streiten sich in den Hecken. Sie schaut sich zufrieden um. Das Haus kauften sie einer jungen Deutschen ab, die es geerbt hatte. Die beiden Chinesen kamen ihr gerade recht. Der Zustand des alten Hauses schien ihnen egal zu sein, sie stellten kaum Fragen und konnten sogar einen großen Teil des Kaufpreises in bar bezahlen.
Mit der Zeit kroch die Stadt näher heran, bis schließlich um sie herum viele neue Häuser standen. Die Nachbarn hatten sie nie kennengelernt. Früh verließen sie ihr Haus. Spät kamen sie heim von der Arbeit. Freie Samstage oder Sonntage waren eine Seltenheit. Sie verpassten gemeinsame Grillabende. Keiner in der Straße fragte bei ihnen nach, um sich Zucker zu leihen. Und sie hatten keine Kinder, die mit den Nachbarskindern durch die Straßen tobten. Gerne hätten sie eine Tochter oder einen Sohn gehabt. Es war sogar der Grund gewesen, warum sie nach Deutschland gekommen waren. Hier gab es mehr Möglichkeiten. Sie sollten es besser haben. Für ihre Kinderlosigkeit machte Lok Yees Mutter das neue Land verantwortlich. Jeder Anruf mit ihr endete mit einem Gequengel, dass ihre Tochter keine Enkel bekam. Yun Chi schwieg. Er gab seiner Frau keine Schuld. Er liebte sie. Die Ärzte waren am Ende machtlos. Herr Lam meinte, dass die westlichen Mediziner nicht helfen könnten, weil Chinesen andere Körper hätten. Er versorgte Yun Chi daraufhin mit medizinischen Kochbüchern und Kräutern, die Lok Yee helfen sollten, ein Kind zu empfangen. Die ganzen Suppen und Tees blieben wirkungslos. Dann schickte er sie zu einem Heiler, der zweimal im Jahr aus Taiwan nach Deutschland kam. Auch er konnte keine Wunder vollbringen. Herr Lam schlug eine Adoption vor, weil er Eltern in seinem Dorf kannte, die zu viele Kinder hätten. Sie wären froh, wenn ihnen jemand eines abnehmen würde. Es wäre für alle eine gute Sache. Um den Papierkram müssten sie sich nicht kümmern. Für ein wenig Geld könnte er alles organisieren. Vielleicht wären sie schon zum Mondfest zu dritt. Ein fremdes Kind, das nicht Yun Chis Augen trug, kam für Lok Yee nicht infrage. Sie lehnte ab.
“Eine dunkle Wolke aus Erde breitete sich unter dem Schaum aus. Yun Chi schloss die Augen.”
Wenn sich Stille zwischen den beiden einschlich, wo eigentlich Kinderlachen herrschen sollte, oder sie an Neujahr keine roten Umschläge mit Geld an ihre eigenen Kinder verteilen konnten, dann hielt Yun Chi seine Frau lange in seinen Armen. In einem solchen Moment kam ihm die Idee mit dem Garten.
„Was hältst du davon, wenn wir aus dem Rasen hinter dem Haus einen richtigen Garten machen?“
„Einen Garten? Vor zwei Jahren wolltest du noch einen Tennisplatz daraus machen.“
„Ja, einen richtigen Garten. Wir bauen Gemüse an. Vielleicht wächst hier sogar Pak Choi.“
„Du bist ein sehr guter Koch, Yun Chi, aber ein schlechter Bauer.“
„Wir könnten mit ein paar Blumen beginnen.“
„Willst du nachts nach der Arbeit die Erde umgraben und ernten? Wir haben doch wenig Zeit.“
„Warum nicht. Außerdem müssen wir im Winter nichts machen. Wenn es kalt ist, wächst in Deutschland nichts. Der Garten macht nur sechs Monate im Jahr Arbeit.“
Ratlos zuckte sie mit den Achseln.
Lok Yees Skepsis wich. Langsam wuchs in ihr der Gedanke an einen Garten. Einmal überraschte Yun Chi sie dabei, wie sie Chopsuey auf der Servierplatte mit einem Löffel in kleine Parzellen einteilte.
„Was machst du da? Das ist für Tisch 17. Bring es schnell den Gästen. Es wird kalt.“
„Ich plane den Garten.“
„Jetzt zur Mittagszeit, wo alle ihr Essen haben wollen?“
Als sie nachts heimkamen, ging Yun Chi hoch ins Badezimmer und ließ die Badewanne volllaufen. Er liebte sein Feierabendbad. Ein Kassettenrekorder dudelte Musik von Mona Fong. Er rauchte Zigarillos. Blätterte in Illustrierte aus Hongkong, die ihren Weg über viele Chinarestaurants zu ihm gefunden hatten. Sie waren alt, abgenutzt, es fehlten Seiten und Witzbolde hatten die Fotos vollgekritzelt. Aber es war eine der wenigen Möglichkeiten, etwas über die Heimat zu erfahren. Herr Lam organisierte den großen Magazintausch in der Stadt. Brandneue Ausgaben gab es nur gegen Aufpreis. Jahre später kamen Videokassetten dazu. Seine Söhne brachten neue Zeitungen vorbei, holten die alten ab, um sie jemandem anderen zu geben. Sie quatschten mit den Kellnern und Köchen. Hinterher mussten die Söhne ihrem Vater alles berichten. Herr Lam wusste, wer in Geldnöten steckte, eine Arbeitserlaubnis brauchte, eine Wohnung suchte, Ausschau nach einer Schwiegertochter hielt, mit der Brauerei Probleme hatte, einen neuen Kellner einstellen wollte oder wo der nächste Mah-Jongg-Abend stattfand. In einem der Magazine las Yun Chi über einen Koch aus Singapur, der für seine Wantan-Mee mit karamellisiertem gegrilltem Schweinefleisch einen Preis gewonnen hatte. Er wollte gerade anfangen, das Rezept zu studieren, kam aber nicht weiter. Lok Yee stand plötzlich vor der Wanne.
„Wir bauen einen Garten mit Teich.“
„Lok Yee, schau dich an. Was ist passiert?“
Ihre Kellnersachen waren voller Matsch. An ihren Händen klebte Dreck. „Ich war im Garten. Die Erde hier ist schwarz. Bei uns zu Hause ist sie rot. Lass uns einen Garten mit einem Teich bauen, aber ohne Weiden. Wir pflanzen Kirschen. Die gefallen mir am besten.“
„Aber warum einen Teich?“
„Für den kleinen Drachen. Er wird langsam zu groß für das Aquarium im Restaurant“, antwortete sie. „Gut, wir bauen einen Garten mit Teich. Morgen rufe ich Herrn Lam an. Er kennt zwei Deutsche, die alles können, bei den Wengs haben sie die Terrasse gemacht. Sie können uns helfen.“ Dann kniete sie sich vor der Wanne hin und tauchte ihre Hände ins Badewasser. Eine dunkle Wolke aus Erde breitete sich unter dem Schaum aus. Yun Chi schloss die Augen.
Die Deutschen von Herrn Lam waren fleißig, aber es ging Lok Yee nicht schnell genug. Sie hatte keine Geduld und begann selbst in ihrem Garten zu arbeiten. Für den Teich hob sie eine große Grube aus. „Lok Yee, hör auf, es ist nach Mitternacht. Wir müssen schlafen. Wenn du so weitergräbst, kommst du morgen früh an der Großen Mauer raus“, sagte Yun Chi zu seiner Frau. Wütend warf sie die Schaufel auf den Boden, kroch aus der Grube und ging ins Haus. Am nächsten Morgen klingelte ein Nachbar. Er beklagte sich über den Lärm in der Nacht, sie sollten doch bitte tagsüber in ihren Garten arbeiten. Lok Yee verstand nichts. Aber sie hatte sich in Deutschland zu einer guten Mimik-Leserin entwickelt. Wenn sich Gäste bei ihr über das Essen beschwerten, hatten sie alle den gleichen Gesichtsausdruck. Dem Mann mit dem Beschwerdegesicht ging es nicht gut. In so einem Fall empfahl Herr Lam, dass Beruhigen oder Entschuldigen keinen Sinn machen würde, weil die Deutschen noch reizbarer und mehr meckern würden. Sollte ein Deutscher an einem Yang-Überschuss leiden, würden kostenlose Getränke die beste Wirkung erzielen. Yin und Yang wären dann wieder in der Balance und alle wären zufrieden. Lok Yee spürte, dass der Mann einen großen Yang-Überschuss hatte. Sie rannte in die Küchenkammer, griff eine Whiskeyflasche, drückte sie dem verdutzten Mann in die Hand und schloss die Tür. Die Sache war damit aus der Welt.
Kurz bevor Lok Yee nach Deutschland abreiste, schenkte ihr Vater zum Abschied ein Einmachglas mit fünf winzigen Karpfen. Er war ein leidenschaftlicher Karpfenzüchter. „Die Karpfen haben unserer Familie das Leben gerettet“, sagte er zu ihr. „Als die Japaner unser Dorf besetzten, waren die Offiziere überwältigt von meinen schönen Karpfen und verschonten uns. Es sind Drachen. Sie werden dir Glück bringen.“ Trotz der lange Reise kamen alle Fische lebend in Deutschland an. Herr Lam war von den Winzlingen begeistert. Nur ein paar Stunden später stand in seinem Restaurant ein neues Aquarium. Die Fische gefielen ihm so gut, dass er anderen Gastwirten auch Aquarien aufschwatzte. Allerdings mit gewöhnlichen Goldfischen. Kein anderer Wirt sollte Karpfen besitzen. Yun Chi und Lok Yee lernten bei Herrn Lam eine Gaststätte zu führen. Die Fische wurden größer. Nach sieben Jahren verließen sie ihn, weil sie ihr eigenes Lokal eröffnet hatten. Die erste Zeit wohnten sie in ihrem Restaurant. Neben der Küche war ein kleines Büro, hier richteten sie sich ein Schlafzimmer ein. Es hatte Platz für einen Mini-Schrank, einen Fernseher und ein Etagenbett. Sie nahmen nur den weißen Karpfen mit den Porzellanschuppen mit. Die Gäste behaupteten, er würde sie immer anlächeln und wollten in seiner Nähe speisen. Wenn sie ihre Frühlingsrolle aßen, beruhigte es sie, dass der Fisch ihnen zusah. Ein paar wenige unterhielten sich mit ihm.
“Veilchen, Narzissen und Schneeglöckchen schweigen sie an. Zwischen ihnen herrscht eine Wartezimmerstille.”
Unbeholfen treiben die Brötchenstücke auf dem Teich und mischen sich unter die Kirschblüten. Langsam trudeln sie in die Tiefe. Lok Yee kann immer noch nicht glauben, dass alles so üppig wächst. Dabei war sie damals sehr enttäuscht gewesen. Trotz der vielen Mühe sah der Garten trostlos aus. Die Pflanzen schämten sich hier zu wachsen. Die Erde war verstümmelt. Der Teich war eine große braune Pfütze. Yun Chi tröstete sie. „Vergiss nicht, wir haben hier nur einen halben Sommer, dann fällt der Garten in einen Tiefschlaf. Hier braucht alles länger, damit es schön wird.“ Zweimal schlief der Garten wieder ein, ohne dass sich an seinem Aussehen etwas änderte. Aber als er das dritte Mal erwachte, war er nicht mehr wiederzuerkennen. Lok Yee hatte in ihrem Leben noch nie so eine Blütenpracht gesehen. „Die ersten Gartenjahre waren Raupenjahre. Mein Garten hat sich in einen Schmetterling verwandelt.“ Jetzt erst verstand sie die Freude der Deutschen über den Frühling. Überwältigt von der Verschwendung an Farben erwachten bei ihr Träume, die an die Stelle traten, wo sonst nur ihre Erinnerungen Platz hatten. Für den kleinen Drachen war der Wechsel von seinem gläsernen Gefängnis in ein Habitat, das eher zu seinem Fischleben passte, kein Problem. Die harten Winter machten ihm keine Schwierigkeiten. Jahr für Jahr schwamm er im Teich friedlich seine Runden.
Veilchen, Narzissen und Schneeglöckchen schweigen Lok Yee an. Zwischen ihnen herrscht eine Wartezimmerstille. Yun Chi kommt, legt ihr eine Decke um die Schultern und reicht ihr einen weiteren Tee.
„Hier noch ein Mutter-Vater-Tee mit extra viel Zucker.“
Sie nimmt lächelnd den Becher. Als Zeichen der Dankbarkeit tippt sie mit zwei Fingern dreimal auf die Stuhllehne.
Seine Brille ist noch beschlagen vom Wasserkocherdampf.
Unter seinem Lodenmantel blitzt sein grüner Satinpyjama hervor. Er dreht einen Eimer um, hockt sich drauf, geht mit seiner Hand durch sein dichtes silbriges Haar und zündet sich eine Zigarette an.
„Wo warst du die ganze Zeit?“, fragt Lok Yee.
„Herr Lams Enkel hatte mich angerufen.“
„Ging es um Herrn Lams Beerdigung?“
„Ja auch.“
Im gegenüberliegenden Haus erscheint eine Frau. Sie verbeugt sich und winkt den beiden zu. Lok Yee winkt zurück.
„Das macht sie immer, wenn ich hier morgens sitze. Sie denkt, wir sind Japaner.“
„Japaner? Sehen wir beide aus, als ob wir aus Tokio kommen würden?“
Yun Chi nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette.
„Kannst du dich an die junge deutsche Frau erinnern, die uns das Haus verkauft hat? Herr Lams Enkel erzählte mir, dass sie die Geliebte von Herrn Lam war. Er wollte wissen, ob wir sie näher kennen würden, weil wir das Haus von ihr gekauft hätten. Sie sollen sogar einen gemeinsamen Sohn haben.“ Lok Yee hatte nur noch Umrisse von der Frau im Gedächtnis. Es war über dreißig Jahre her. Sie weiß nur noch, dass sie Sommersprossenarme hatte, auf denen lange blonde Haare wuchsen, die im Licht schimmerten. Sie kam immer allein zum Mittagessen. Eines Tages fragte sie Lok Yee, ob sie und ihr Mann eventuell ein Haus suchten. Sie verstand nicht, was die Frau wollte. Ein Kellner musste für sie übersetzen. Dann ging alles sehr schnell, das Haus erfüllte ihre Erwartungen und sie kauften es ihr ab. Nach der Schlüsselübergabe tauchte Herr Lams Geliebte nie mehr auf.
Das Telefon im Haus fing an, ununterbrochen zu klingeln.
„Die Nachricht macht jetzt wohl die Runde“, stellt Yun Chi nüchtern fest. Der kleine Drache taucht auf und schaut die beiden an. Lok Yee wirft die Reste vom Brötchen in den Teich. Er schwimmt auf sie zu und frisst sie. „Der kleine Drache schmatzt beim Essen wie Herr Lam“, bemerkt Lok Yee. Beide schauen sich an und lachen laut. Ihr Lachen verwebt sich mit den Morgenstrahlen der Sonne. Fenster fliegen auf. Nachbarn schauen müde heraus. Die alten Chinesen bleiben ein Rätsel. Lok Yees Garten schweigt. Blütenschnee färbt die Luft rosa.
Manchmal wünschte ich, dass ich mehr veröffentlichen könnte, aber beim Schreiben gehe ich viele Umwege: neu, verwerfen, neu, verwerfen, neu, verwerfen…. . Aber was soll ich machen? Die Worte wollen raus. Blütenseelen ist lang geworden. Danke für deine Geduld beim Lesen. Ich hoffe, es geht dir gut. Die nächste Geschichte oder Essay kommt rechtzeitig vor meinen Urlaub.
Liebe Grüße
Knuth & Kung Shing
PS: Über Weiterempfehlungen von Ponysülze freue ich mich.