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Messi

Ein Hochhaus aus den 70er-Jahren. Die Heimat von Yao und Franziska.

Gewitter geben diesen Hochhäusern ihre Würde zurück, dachte Franziska. Die Blätter beruhigten sich. Die Stadtstille löste sich auf. Nur das Wassertropfenglitzern auf der Fensterscheibe erinnerte an das Unwetter. Auf ihrem Balkon atmete sie den Sommerregenduft ein und schaute den Wolken bei ihrer Flucht zu.

Im Winter 1979 zog sie mit ihrem Ehemann in diesen Wohnblock in den zehnten Stock. Das Baustellenaroma kroch noch durch die Tapeten. Urbanität durch Dichte stand im Prospekt der Wohnungsbaugesellschaft. Ein Neubaukomplex für den die Stadt viele Schrebergärten geopfert hatte. Sie wollte immer eine Wohnung mit Atmosphäre. Einen Altbau mit Gipsblumen unter der Decke oder ein Reihenhaus mit einer Forsythien-Hecke. Das war ihre Vorstellung von einem Heim. Aber ihr Mann wollte in einem Hochhaus wohnen. Er hatte den Mietvertrag ohne ihr Wissen unterschrieben. Es war ihr egal. Sie war froh, dass sie nicht mehr bei seinen Eltern wohnen mussten.

Unten läuteten nervös die Kirchenglocken. Es war das Signal, sie musste sich anziehen. In den letzten Wochen hatte sie sich daran gewöhnt, die Vormittage im Schlafanzug zu vertrödeln. Sie schlüpfte in ihre Jeans und beobachtete sich im Spiegel. Ihre Sinnlichkeit nahm wieder Gestalt an, was sie selbst kaum bemerkte, weil sich ihre Blicke an ihren Haaren festhielten. Sie hatte aufgehört, ihre Haare zu färben. Am Mittelscheitel zeigte sich ein Silberstreifen, der ihre neue Lebensader war. Ihre Tochter schickte ihr immer wieder Klamotten aus Boston. Dort in den Boutiquen fand sie einen Chic für ihre Mutter, der Franziska eine wiederentdeckte Inspiriertheit verlieh. Ein Aussehen, das an eine Frau erinnerte, die zu viel auf Instagram herumhing und an die Versprechen der vielen Bilder glaubte. Sie begann, einen Ruf zu entwickeln.

Auf der leeren Seite ihres Doppelbettes stapelte sie die neuen Sachen. Ihren Kleiderschrank mochte sie nicht mehr öffnen. Sie fürchtete sich davor. Von Mottenkugeln bewacht, verbarg sich darin ein Leben, das sie loswerden wollte. Ihr Magen drängelte. Sie brauchte noch ein Brot für ihr Mittagessen und ging einkaufen. Wie schön sie ihr neues Dasein auch empfand, für sich allein zu kochen, daran musste sie sich erst gewöhnen.

Beim Bäcker stellte Franziska fest, dass sie kein Geld dabeihatte, obwohl sie am Geldautomaten noch ihr Portemonnaie in der Hand hielt. Jeden Zentimeter ihrer Kleidung durchsuchte sie. Kein Zweifel, es war weg. Ihr wurde schlecht und sie begann zu zittern. Sie ging den gleichen Weg zurück und suchte den Boden ab. Als sie mit einem Stock einen Papierhaufen durchsuchte, zupfte jemand an ihrem Ärmel. Ihr Herz schlug schneller und sie drehte sich um. Vor ihr stand ein kleiner Junge in einem Blau-rot-gestreiften-Shirt und blauen Shorts.

 

„Dich suche ich schon überall. Du hast dein Portemonnaie verloren“, keuchte er. „Ich habe es gesehen, aufgehoben, aber du warst plötzlich weg. Die ganze Straße bin ich rauf und runter gelaufen. Überall habe ich dich gesucht.“ Er gab ihr das Portemonnaie zurück.

Sie öffnete es und schaute nach, ob etwas fehlte.

„Alles da. Es fehlt nichts“, beruhigte er sie.

„Du glaubst nicht, wie erleichtert ich bin. Vielen herzlichen Dank.“

Der Junge strahlte, winkte zum Abschied und ging weiter, sichtlich froh, dass er Franziska helfen konnte. „Warte Messi!“, rief sie. Der Kleine drehte sich um und musste lachen.

„Ich heiße doch nicht Messi.“

„Es steht hinten auf deinem Trikot.“

„Das ist der beste Fußballer der Welt. Ich bin Yao.“

„Ich heiße Franziska. Du hast dir eine Belohnung verdient, Yao.“

Sie hatte aber nur einen Hunderteuroschein und fand, dass es zu viel Geld für eine Belohnung sei.

„Du musst mir nichts geben. Mein Onkel sagt immer, für gute Taten soll ich kein Geld nehmen, sonst lande ich in der Hölle.“

„Dein Onkel ist ein weiser Mann. Darf ich dich wenigstens zu einem Eis einladen? Ich würde mich freuen.“

Yao schüttelte den Kopf und grinste.

„Nö, kein Eis. Ich wollte mir gerade einen Döner holen. Komm doch mit.“

 

Auf dem Weg zur Dönerbude hielten die beiden immer wieder an, weil Yao ständig Leute traf, die ihn kannten.

Noah, ein Junge, wie aus einem Werbespot für Versicherungen entsprungen, spielte mit Yao in der gleichen Fußballmannschaft und sollte alles erreichen, was seinem Vater als Kind selbst nicht gelang.

Axel und Lena waren überall im Viertel zu Hause, warnten Yao vor Franziska. Er sollte aufpassen und sich der fremden Frau nicht anvertrauen, weil es Frauen geben soll, die Kinder entführten und deren Organe verkauften.

Bojan winkte Yao zu sich heran, der DHL-Fahrer zeigte ihm Fotos seiner Kinder und erzählte stolz von seinem Garten in Bulgarien, wo er hoffte, zur Apfelernte zu sein.

Renate fragte Yao, ob er nicht in ihrem Blumenladen reinkommen wollte, um sich die neue Kasse anzusehen. Sie roch nach Pfefferminz, um ihre Alkoholfahne zu verbergen.

Alva aus Yaos Klasse stieg vom Rad ab und wollte wissen, wann er wieder Zeit zum Spielen hätte. Sie plante immer alles voraus, weil sie jedes zweite Wochenende bei ihrem Vater verbrachte.

Adil, der aus Syrien flüchten musste, weil er sich über Präsident Assad auf YouTube lustig gemacht hatte und jetzt einen Getränkemarkt besaß, fragte, ob Yao am Samstag Prospekte verteilen könnte.

Eszter Trophäentochter eines bekannten Journalistenehepaares, die mithalf, den Schatten ihrer Eltern zu verlängern und von einer Karriere als Galeristin träumte, bat Yao, sich wieder um ihren Hund Syphon zu kümmern.

Gerd, ein ehemaliger Hafenarbeiter, der jetzt seine Rente in Lotto investierte und kaum etwas gewann, ihm flüsterte Yao seine Lieblingszahlen ins Ohr.

 

“Seit sich Franziska mit Yao unterhielt, begann sich ihre Welt zu dehnen.”

Als sie endlich den Imbiss erreichten, war Franziska froh. Es kam ihr vor, als hätten sie Stunden gebraucht. Sie bestellten sich zwei Döner, Getränke und setzten sich raus.

„Müsstest du jetzt nicht in der Schule sein?“, fragte Franziska streng.

„Sind doch Ferien.“

„In welche Klasse kommst du?“

„In die dritte.“

„Und, wo sind deine Eltern?“

„Die arbeiten.“

„Wo?“

„Papi ist Busfahrer, Mami arbeitet beim Zahnarzt. Du bist aber neugierig.“

Franziska schaute auf ihren Teller runter. Als Kind hatte sie die Verhöre der Erwachsenen auch gehasst. Besonders wenn sich ihre Eltern wieder gestritten hatten und das ganze Haus zuhörte. Damals war sie froh, wenn sie im Treppenhaus keinen Menschen antraf, der sie ausfragte. „Verzeih mir bitte. Eine letzte Frage, ich mag deinen Namen. Was bedeutet Yao?“, sagte sie mit einem Lächeln. Ein schönes Lächeln, fand Yao. Er nahm einen Schluck von seinem Durstlöscher und erklärte: „Meine Eltern kommen aus Ghana, dort hängt es vom Wochentag ab, welchen Namen du als Junge bekommst. Ich bin an einem Donnerstag geboren, daher heiße ich Yao und das bedeutet Schöpfung oder so. Und was bedeutet Franziska?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung.“

„Du wohnst gegenüber. Ich sehe dich immer auf dem Balkon, wenn ich Hausaufgaben mache.“ Zu Yaos vielen Hobbies gehörte es, Menschen zu beobachten. Er kannte Franziskas Routine, hütete sich aber, es ihr zu sagen. Er hatte gelernt, seine Kenntnisse über die Menschen nicht mit jedem zu teilen, sondern erst, wenn er es für richtig hielt. „Ich liebe die Aussicht. An guten Tagen kann ich den Flughafen sehen. Nur der Himmel ist über mir. Besonders schön ist es, wenn der Mond scheint“, antwortete Franziska. „Du bist jetzt immer allein auf dem Balkon. Dein Mann ist nicht mehr da“, sagte Yao. Franziska legte den Döner auf ihren Teller. Sie kam sich vor, als hätte Yao sie bei einem Ladendiebstahl ertappt. „Ja, wir haben uns getrennt.“, gab sie zu. Nur ihre Tochter wusste es. Den Nachbarn, Freunden und ihrer Familie erzählte sie, dass er einige Zeit nicht da sein würde, weil er beruflich ins Ausland musste. Zu ihrer Überraschung nahm jeder ihr die Geschichte ab. Sie wollte ein bisschen Ruhe haben, bevor alle über sie herfielen.

„Alles gut. Kein Problem. Dein Mann war immer da. Ich habe euch immer nur zusammen gesehen“, stellte Yao fest.

„Ja, das stimmt.“, antwortete sie nachdenklich.

„Warum seid ihr nicht mehr zusammen?“

„Jetzt bist du aber neugierig.“

„Ist doch nicht schlimm. Bei mir in der Klasse gibt es viele Kinder, wo die Eltern geschieden sind. Bei einem Mädchen ist es sogar schon zum zweiten Mal. Sie meinte, sie bekäme bald ihren dritten Papa. Auf jeden Fall bist du nicht mehr so angezogen wie eine Oma.“

„Oh. Danke. Das ist sehr nett von dir.“

„Bitte. Du hast alles richtig gemacht.“

Sie sprachen über ihre Scheidung, dass Franziska die Rechthaberei von ihrem Mann satthatte, weil er sie nie ausreden ließ, alles ohne sie ausmachte und sich immer weniger für sie interessierte. Und dass er seinem Vater ähnlicher wurde, obwohl er viel tat, um diesen Eindruck zu vermeiden. Dann erzählte sie von ihrer Tochter in den USA, die dort als Managerin arbeitet. Dass sie damals viel zusammen gereist sind, bevor sie anfing zu studieren und dass sie bald rüberfliegen würde. Yao schaute ihren Fingern zu, wie sie mit den Haarspitzen ihrer Frisur spielte. „Ich muss leider los. Ich habe noch Training“, unterbrach Yao. „Oh ja, klar. Ich mag dich nicht aufhalten, wir sitzen ja auch schon eine ganze Weile hier.“

Auf dem Nachhauseweg trafen sie keinen einzigen Menschen. Seit sich Franziska mit Yao unterhielt, begann sich ihre Welt zu dehnen. Sie war angetan von der Leichtigkeit seines Geistes und dass er als Kind viel Taktgefühl besaß. Eine Tugend, nach der sie immer suchte.

Franziska griff nach Yaos Hand und er begann zu singen:

Über allen Balkonen ist Ruh.

Geteilt ist die Stadt.

Geteilt sind Herzen

Geteilt sind Hirne

Beton, du liebst mich.

Viel Zartheit. Viel Weichheit.

Du lässt mich treiben.

Immer vorwärts. Immer leben.

Goldenes Licht flutet den Himmel.

Welle auf Welle.

Über allen Balkonen ist Ruh.

Yao verstummte und blieb stehen. „Mehr Worte habe ich nicht. Ich brauche noch eine Weile“, entschuldigte er sich. Franziska nickte zustimmend und strich mit ihrer Hand über seinen Kopf. „Wäre es nicht schön, wenn wir die ganze Zeit nur im Kreis gehen würden?“, fragte sie ihn. „Ja, das wäre schön“, antwortete Yao und ließ ihre Hand los. Dann bat er sie, ob er für einen Moment ihr Handy haben könnte. Sie durchwühlte ihren Mantel und fand es in einer Tasche, wo sie es nicht vermutet hatte. Er nahm das Handy und versank im blauen Licht des Displays. Plötzlich schaute Yao zu ihr hoch. „Ich weiß jetzt, was Franziska bedeutet“, jubelte er. „Was denn?“, fragte sie. „Es bedeutet die Freie!“

 

Vielen Dank, dass du dir für mich Zeit genommen hast. Es ist das erste Mal, dass ich ein Lied geschrieben habe. Als ich “Messi” beendet hatte, war ich kurz am Überlegen, ob ich noch weiterschreibe, weil Yao noch viele Lieder kennt. Vielleicht taucht Yao später hier noch einmal auf. Ich wünsche dir noch eine schöne Zeit. Bis bald und bis zur nächsten Ausgabe von Ponysülze. PS: Über Weiterempfehlungen freue ich mich.

Kategorie Story

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