Empört Euch!
Ja, wir leben noch, wir letzte Venezianer.
Das haben wir letzten Sonntag auf dem Campo Sant’Angelo unter Beweis gestellt, als wir gegen den Ausverkauf Venedigs demonstriert und daran erinnert haben, dass das Sondergesetz für Venedig und seine Lagune ein halbes Jahrhundert alt ist – ein Sondergesetz, das Geld fließen lässt, das für den Erhalt Venedigs und der Lagune gedacht ist, aber nicht zugutekommt, weil es nicht nur in das MOSE-Projekt umgeleitet wird, sondern nach dem Willen des Bürgermeisters auch dazu dienen soll, einen neuen Sportpalast auf dem Festland zu bauen, um Wählerstimmen auf dem Festland zu gewinnen.
Dagegen – und gegen die weitere Zerstörung Venedigs haben wir demonstriert.
Unterstützt wurden wir unter anderem dabei von der Theatergruppe der „Stelzer“ aus Landsberg (Öffnet in neuem Fenster)- die hier in Venedig Theaterworkshops mit Venezianern organisieren.
Während der Demonstration habe ich die ganze Zeit an den Aufruf „Empört Euch!“ (Öffnet in neuem Fenster)des ehemaligen französischen Widerstandskämpfers Stéphane Hessel gedacht, der mit seinem Essay zum politischen Widerstand aufrief.
Hier in Venedig hat jeder einen Grund, um Widerstand zu leisten: Sei es, dass er keine Wohnung findet, weil alle in Airbnb verwandelt sind, sei es, dass die Luft verpestet ist durch die Abgase der Kreuzfahrtschiffe, Motorboote und Lastkähne, sei es, dass er in Venedig keinen Job findet, der nicht mit dem Tourismus zu tun hat.
"In Tausend auf dem Campo" schrieb die Nuova di Venezia und zitierte damit einen Satz, der auf einem Transparent stand: "Venedig gehört dem, der in Venedig lebt" - ein Slogan, so einfach wie überzeugend. Dies um so mehr, als die Zahl der Touristenbetten (48 596) inzwischen die Zahl der Einwohner (49 365) fast erreicht hat.
Dazu auch ein sehr überzeugendes Transparent eines "Ehrenvenezianers (Öffnet in neuem Fenster)" von Reskis Republik:
Ja, ich wünsche mir, dass wir hier in Venedig - und nicht nur hier - mehr Widerstand leisten, uns mehr empören, ja, auch wütend werden, nicht alles hinnehmen und nicht, wie so oft in Italien ("ändert ja sowieso nichts") resignieren, die Faust in der Tasche ballen und sich damit zu rächen, nicht zur Wahl zu gehen. Sondern die Stimme erheben, gegen den Ausverkauf unserer Leben! Denn, wie Stéphane Hessel schrieb: „Neues schaffen heißt, Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt, Neues schaffen.“
Fast schon Kunst. Von wegen Biennale.
Die Reaktion des Bürgermeisters ließ nicht lange auf sich warten. Es habe sich bei der Demonstration, so sagte er bei einer Pressekonferenz im Rathaus, um die üblichen Oppositionsgruppen gehandelt, Gruppen, die immer nur "Nein" zu allem sagten, kurz: Verhinderer des Fortschritts.
Diese Litanei hören wir hier schon seit 30 Jahren: Berlusconi war der erste, der alle, die ihn kritisieren, als "quelli del No" diskriminierte - als ewige Neinsager. Und ich sage ja zu den Neinsagern, wenn das Jasagen bedeutet, das Leben einer Stadt zu vernichten, eine Kultur zu zerstören, den Profit über alles zu stellen.
Richtig komisch wurde es am Ende dieser Pressekonferenz. Erst war das Projekt des deutschen Unternehmers Frank Gotthardt (Öffnet in neuem Fenster) vorgestellt worden, der das "Ospedale a Mare" vom italienischen Staat kaufen will - Gotthardt ist Gründer und Vorsitzender von CompuGroup Medical, einem Unternehmen im Bereich des digitalen Gesundheitswesens, er will auf dem Gelände des ehemaligen Krankenhauses einen Technologiepark des digitalen Gesundheitswesens einrichten. Was, angesichts der Tatsache, dass hier alles verscheuert wird, was bei drei nicht auf den Bäumen ist, noch das kleinste Übel ist: alternativ bestand der Plan, hier ein weiteres Luxushotelresort entstehen zu lassen.
Nachdem sich der Bürgermeister dafür ausgiebig selbst gelobt hatte und dabei auch auf sein Engagement für die Scuola di Misericordia verwies (die er dank seiner guten Beziehungen bis zum Jahr 2051 mit seiner Gesellschaft SVM umsonst pachten konnte, im Gegenzug für die elf Millionen Euro, die er seinen eigenen Angaben nach für die Renovierung ausgegeben habe und wohl schon längst wieder reingeholt hat, indem er die Scuola für Events vermietet) - stellte ein Journalist der Investigativ-Sendung "Report" dem Bürgermeister eine Frage: Ob die Antimafia-Akte der Gesellschaft SVM, aktualisiert worden sei, nachdem einer von Brugnaros Geschäftspartnern verhaftet und dessen Anteile sich jetzt in den Händen der Agentur für von der Mafia beschlagnahmte Vermögenswerte befinden. Und was antwortet Brugnaro, der Bürgermeister mit dem mit dem wohl größten Interessenkonflikt aller Bürgermeister in Italien? Er sagt: "Ihr seid der Abschaum Italiens" (Öffnet in neuem Fenster).
Das ist Pressefreiheit heute in Italien.
Und wo wir gerade bei Mafia sind: Der Podcast "Mafia Land" über die unglaubliche Geschichte des Pizzawirts Mario L. ,
https://www.ardaudiothek.de/sendung/mafia-land-die-unglaubliche-geschichte-des-schwaebischen-pizzawirts-mario-l/12566577/ (Öffnet in neuem Fenster)zu dem ich beigetragen habe, erfreut sich großer Beliebtheit. Er befindet sich auf Platz 2 und 7 der Podcast-Hitliste (Öffnet in neuem Fenster)n.
Zum Schluss noch ein besonderer Gruß an die inzwischen 115 Ehrenvenezianer: Jetzt kann nur noch die italienische Post vereiteln, dass Sie die längst überfälligen Ehrenvenezianer-Urkunden endlich in den Händen halten können! Zum Ehrenvenezianer von Reskis Republik wird ernannt, wer meinen radikal einseitigen, höchstgradig subjektiven und tapfer gegen den Strom schwimmenden Newsletter aus Venedig unterstützt (Öffnet in neuem Fenster)!
Herzlichst grüßt Sie aus Venedig, Ihre Petra Reski
Wenn Ihnen mein Newsletter gefällt, freue ich mich sehr über Weiterempfehlungen (Öffnet in neuem Fenster) - und natürlich über neue Ehrenvenezianer!
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