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Videos. Venedig. Und ein Urteil

Das Foto des ermordeten Staatsanwalts Paolo Borsellino an der Wand der Staatsanwaltschaft von Palermo

Der erste Mensch, den ich in Sizilien kennenlernte, war ein Polizist und hieß Montalbano. Es war das Jahr 1989, ich war zum ersten Mal als Journalistin in Sizilien, und Camilleri hatte seinen Commissario Montalbano noch nicht erfunden. Mein Montalbano wurde von zwei Leibwächtern bewacht, die mit ihm in einer gepanzerten Limousine fuhren. Ich weiß noch, wie ich dachte: Was für ein eigenartiges Land! Die Polizisten müssen hier bewacht werden!

Da ahnte ich noch nicht, dass der italienische Staat und die Mafia die gleichen Interessen haben und sie mit den gleichen Mitteln verteidigen, wie aus dem soeben ergangenen Urteils des Kassationsgerichts (Öffnet in neuem Fenster) zu den Verhandlungen zwischen dem italienischen Staat und der Mafia ergeht - ein teuflischer Pakt (Öffnet in neuem Fenster), über den ich oft geschrieben habe und der mir insbesondere Inspiration für meinen Roman "Palermo Connection" (Öffnet in neuem Fenster) geliefert hat.

Heute kann ich gut nachvollziehen, dass man Italien, von außen betrachtet, nicht versteht. Wie soll man es auch jemandem im Ausland erklären, dass ein Gericht in der ersten Instanz über die Verhandlungen zwischen dem italienischen Staat und der Mafia ein Urteil fällt, das sowohl Politiker, Staatsbeamte als auch Mafiosi mit hohen Strafen belegt - und dass in der zweiten Instanz nur noch die Mafiosi mit hohen Strafen belegt, die Politiker und Beamten aber freigesprochen werden? Und in der dritten Instanz auch noch die Mafiosi de facto freigesprochen werden, da ihre Strafen als verjährt betrachtet werden? Dann bleibt doch nur ein Schluss übrig: Dass es sich um einen Mafia-Staat handelt.

Das habe ich daraus gelernt, aus den Jahren in Italien, einem Staat, dessen Staatsangehörigkeit ich angenommen habe, weil ich zu einem Italien gehören wollte, das von Menschen repräsentiert wird wie Salvatore Borsellino, dem Bruder des ermordeten Staatsanwalts, dem Antimafia-Staatsanwalt Nino di Matteo oder von meinem echten Montabano. Nicht von Verbrechern.

Das Problem in Italien sind diejenigen, die an Demokratie glauben und an Gerechtigkeit. Und die dafür gestorben sind. Heimtückisch gemeuchelt - von den Protagonisten dieses Komplizenstaats.

Unberührt von diesem Gerichtsurteil aber bleiben die Fakten. Denn jenseits der juristischen Urteils gibt es auch eine moralisches. Nicht alles, was legal ist, ist auch legitim. Und schon gar nicht ethisch.

Der Gedenkstein an den ermordeten Staatsanwalt Giovanni Falcone in Palermo.

Inzwischen hat man sich ja daran gewöhnt, für dieses und jenes Videos aufzunehmen. Habe ich auch schon öfter gemacht. Etwa, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Sache mit dem Verbot der Kreuzfahrtschiffe ein Fake (Öffnet in neuem Fenster) ist. Oder um mein Venedig-Buch zu bewerben, wobei das Buch dabei fast in den Canal Grande gefallen (Öffnet in neuem Fenster) wäre, weshalb mich der Venezianer als Regieassistent als technisch unfähig beschimpft. Aber selbst bei Windstille kann auch einiges schief gehen, wie man in diesem Video (Öffnet in neuem Fenster) sehen kann.

Vor ein paar Tagen war es mal wieder so weit. Man hatte mich gebeten, ein Video zu drehen, um über das Buch zu sprechen, an dem ich gerade schreibe. Weil das venezianische Rathaus in meinem neuen Buch eine nicht unwesentliche Rolle spielt, dachte ich, dass es eine gute Idee sei, das Video dort aufzunehmen.

Es war früher Abend, eine gute Zeit, fand ich, weil das Licht für ein Video ja keine geringe Rolle spielt: Krasses Sonnenlicht ist schlecht für den Teint. Beherzt laufe ich im Abendlicht Richtung Canal Grande zum Rathaus Ca' Farsetti. Fünf Minuten, denke ich, dann hast du die Sache im Kasten.

Damit man das Rathaus im Video auch sehen kann, kann ich mich nicht einfach davor stellen, sondern will mir einen Platz auf einem Bootssteg suchen. Allerdings sind die zum Rathaus gehörenden Bootsstege mit Toren verschlossen. Und auf dem einzigen freien Bootssteg ist gerade ein indisches Paar dabei, seine Venedig-Reise für Instagram+TikTok+Facebook+Twitter zu dokumentieren. Während sich die Frau vor ihrem Mann und der Kamera um einen Bootspfahl windet, warte ich geduldig und bereite mich auf meinen Einsatz vor: also Mikro mit Puschel gegen Wind anstecken (nicht, dass Sie denken, dass Sie es mit einer Amateurin zu tun hätten) und das iPhone auf den Selfie-Stick.

Das Licht ist okay, also sage ich während des Schlangestehens am Bootssteg probeweise meinen Text auf, den ich zuvor schon auf Länge gebracht habe ("Und bist du noch so fleißig, nicht über eins dreißig"). Außerdem muss ich ein paar Touristen, die sich auf den Bootssteg vordrängeln wollen, darauf aufmerksam machen, dass es hier der Reihe nach geht: Nach den Indern bin ich dran, was die Touristen murrend zu Kenntnis nehmen.

Endlich sind die Inder fertig, ich bringe mich im Abendlicht in Position und verhaspele mich gleich, aber gut, kommt vor. Nach drei weiteren Takes stelle ich fest, dass ich an falschen Stellen Pausen gemacht habe. Aber kein Problem, das Licht ist ja noch gut, nach drei weiteren Aufnahmen musse ich jedoch feststellen, dass ich mir den Kopf etwas zu viel abgeschnitten habe. Außerdem taucht die Frage "Hoch- oder Querformat?" auf. Also beide. Wenn ich schon mal dabei bin.

Inzwischen bin ich längst nicht mehr alleine auf dem Bootssteg, okay, ja bei dreißig Millionen Touristen kann man in Venedig nicht erwarten, irgendwo allein zu sein, Venedig gehört der Welt! Aber mir dauernd ins Video reinzurennen geht natürlich auch nicht. Also bitte ich die Drängler höflich, so sorry, but would you be so kind ... just a moment ... Je suis vraiment désolée, mais pourriez-vous avoir la gentillesse... juste un moment... Mi scusi, ma sarebbe così gentile... solo un momento - so lange mit ihrer Instagram-Tiktok-Facebook-Feriendokumentation zu warten, bis ich fertig bin, denn speziell bei meinem dramaturgisch wichtigen Schwenk am Ende meines Videos kann ich keine im Bild stehenden Selfietouristen gebrauchen.

Ich drehe hoch und quer, und fast wäre es geschafft, wenn nicht bei dem letzten, fast perfekten Take ein Hubschrauber knatternd über mich hinweggeflogen wäre. Also neuer Versuch. Inzwischen fängt es an, dunkel zu werden, deshalb musste es jetzt schnell gehen. Ich sage meinen Text auf, will den Schwenk zum Rathaus machen - und ein Boot mit dröhnend lauter Umba-Umba-Musik fährt vorbei.

Auf dem Bootssteg haben sich jetzt andere Touristen angesammelt, die nicht ahnen, dass ich hier bereits seit einer halben Stunde versuche, ein Video ... Sie drängeln mich fast vom Bootssteg, weshalb ich wieder meinen Spruch aufsage, so sorry, but would you be so kind ... just a moment ... Aber ein weißhaariger Herr, den ich freundlich bitte zu warten, denkt nicht daran, hier auf eine Type Rücksicht zu nehmen, die ihm bei seiner Aufnahme vom Canal Grande im Weg steht. Did you buy the place here? Is it your place?, bellt er.

Actually it is my place, sage ich: Stellen Sie sich vor, dass es hier noch zwei, drei echte Menschen gibt, die in Venedig keine Ferien machen, sondern hier versuchen zu leben und zu arbeiten.

Vermutlich handelt es sich bei dem Herrn um jemanden, dem ein Venezianer in einer engen Gasse bereits ein ungemütliches "Permesso" in den Nacken gebrüllt hat, weshalb er jetzt wie ein Molotowcocktail explodiert und schreit: You are ugly people here in Venice! Very ugly! Ugly people! And you are an ugly old woman! Ugly, ugly! And even your shoes are ugly!

Keine Ahnung, warum sich diese Krawallschachtel auf meine Schuhe kapriziert: rote Stiefeletten, nicht mal High Heels. Und was das old woman betrifft: Der Typ ist garantiert älter als ich und sieht dabei definitiv schlechter aus. Also fange ich an zu lachen, was ihn noch wütender macht, er brüllt in mein iPhone (das leider nicht aufnimmt) und hätte mich am liebsten ins Wasser geworfen, wenn ihn nicht sein am Ufer stehender Freund zur Ordnung gerufen hätte.

Als er endlich weg ist und weder ein Hubschrauber über mir knattert, noch Umba-Umba-Musik zu hören ist, nehme ich weiter auf, Hochformat, Querformat. Inzwischen ist es allerdings so dunkel, dass die Lichter am Canal Grande angeschaltet wurden. Auch schön, denke ich. Gottchen ja, irgendwas Passendes wird schon dabei sein, sage ich mir und packe meine Ausrüstung wieder ein. Und auf dem Weg nach Hause stelle ich fest, dass mein iPhone bei dem einzigen technisch und dramaturgisch einwandfreien Take einen blöden Schatten auf mein Gesicht wirft.

https://www.youtube.com/watch?v=1dHFie8J9xk (Öffnet in neuem Fenster)

Aber ich werde es noch hinkriegen, das mit dem Video für mein neues Buch!

In diesem Sinne grüßt Sie aus Venedig, Ihre Petra Reski

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