Das Volk, die Märtyrer und überhaupt.
Fangen wir mit dem Positiven an: Gestern habe ich gewählt.
Schließlich habe ich so lange um meine italienische Staatsbürgerschaft gekämpft, um endlich meine Stimme hier abgeben zu können. Der Italiener an meiner Seite tat erst so, als wolle er nicht zur Wahl gehen (das gab es noch nie!), fand angeblich nicht seinen Wahlausweis, bis ich ihn fand und mit ihm zur Wahl ging. Was er gewählt hat, weiß ich natürlich nicht. Meine roten Schuhe sind übrigens keine heimliche Wahlpropaganda. Außerdem ist das, was in Italien mal rot war, schon lange unter der Sonne verblasst.
Wie es dazu kam, dass es mit meiner Staatsbürgerschaft so lange dauerte, ist ab dem 2. September hier nachzulesen (Öffnet in neuem Fenster):
Die ersten Termine für meine Lesereise (Öffnet in neuem Fenster) stehen schon fest: Ich werde in Erfurt, Kamen, München, Rheinbach, Frankfurt, Friedberg, Wetzlar, Freising und Zofingen lesen. Wer Interesse an einer Veranstaltung hat, kann sich bei Swea Starke melden (Öffnet in neuem Fenster), die sich um meine Lesungen kümmert.
Wir sind froh, dass der Wahlkampf endlich vorbei ist (wobei das in Italien relativ ist, eigentlich herrscht hier ständig Wahlkampfstimmung). Aber immerhin müssen wir nicht mehr ertragen, wie Meloni von nahezu allen Fernsehsendern und Moderatoren hofiert wird. Die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender der RAI sind seit der letzten RAI-Reform, für die der in Deutschland über den grünen Klee gelobte Matteo Renzi sorgte, ausschließlich regierungstreu, dann gibt es noch die ebenso regierungstreuen Berlusconi-Sender und den Sender La 7, der meiner Meinung nach passablen Journalismus macht, aber Meloni gegenüber noch nicht als besonders angriffslustig aufgefallen ist.
Meloni aber reicht die Gleichschaltung der Medien noch nicht, weshalb sie sich mit einer Videobotschaft (Öffnet in neuem Fenster) an die Zuschauer von La 7 wendete und im typischen Meloni-Duktus herunterratterte: „Liebe Zuschauer von La7, es ist eine Weile her, dass wir uns gesehen haben und ich hoffe, Sie sind ermutigt durch die abgewendete Gefahr des autoritären Abdriftens, des Zusammenbruchs der Wirtschaft, der internationalen Isolierung Italiens. Denn während viele über diese Gespenster diskutierten, haben wir unermüdlich daran gearbeitet, Italiens Lage zu verbessern. Natürlich gibt es noch viel zu tun, und wir sind noch nicht zufrieden, aber in der Zwischenzeit kann man schon sehen, dass die Ergebnisse beachtlich sind. Am 8. und 9. Juni werden nicht die radikalen Schickeria-Salons das Wort ergreifen, sondern das Volk, und das Urteil des Volks war schon immer das einzige Urteil, das uns interessiert hat“.
Ja, das Volk. Was macht man nicht alles dafür! Das Volk, so vermutet Meloni auch, schätzt auch eine gewisse vulgäre Ausdrucksweise, weshalb Ministerpräsidentin Meloni sich bei der Einweihung eines Sportplatzes in Caivano an den Präsidenten der Region Kampanien mit den Worten: „Präsident De Luca, ich bin die Schlampe Meloni. Wie geht es Ihnen?" wendete.
https://www.youtube.com/watch?v=Wxk9339jsYM (Öffnet in neuem Fenster)Nach dem Händedruck antwortete der Gouverneur: „Willkommen, was die Gesundheit betrifft, gut“.
Dem voraus ging ein Hintergrundgespräch im Februar im Parlament, in dem De Luca (der zur Demokratischen Partei gehört) die Ministerpräsidentin als “stronza”, Schlampe, Miststück bezeichnet hatte - was prompt im Fernsehen landete. De Luca stellt ein besonders pittoreskes Exemplar der Fauna und Flora der italienischen Politik dar. Und hätte sich für seinen Ausrutscher natürlich bei Meloni entschuldigen müssen. Es ist allerdings ein kleiner Unterschied, ob ein Journalist heimlich ein Video von einem Ausfall aufnimmt oder ob das Pressebüro der Ministerpräsidentin die Schlampen-Attacke plant, filmt und in ihren zur Verfügung stehenden sozialen Medien veröffentlicht.
Tatsache ist, dass diejenigen, die von Meloni geächtet werden, sich eines wahren Märtyrerstatus erfreuen können. Im Fatto Quotidiano vermutete Antonio Padellaro (Öffnet in neuem Fenster), dass es bei den Rechten ein “Büro für die Förderung der Intellektuellen und Märtyrer der Linken” gebe. So sei dieses Büro bei der RAI tätig geworden, um den Schriftsteller Antonio Scurati auszuladen (Öffnet in neuem Fenster) und so 1800 Euro Aufwandsentschädigung zu sparen, was Antonio Scurati zu unverhoffter Popularität verhalf. Weil Roberto Saviano bei den Märtyrern natürlich nicht fehlen darf, wurde er von dem italienischen Beauftragten für die Frankfurter Buchmesse (Italien ist in diesem Jahr Gastland der Buchmesse) nicht zur Buchmesse eingeladen. Daraufhin erklärte sich sofort ein ganzer Trupp empörter Schriftsteller mit Saviano solidarisch, verzichtete auf die Teilname und hofft ebenfalls, als Opfer des Regimes anerkannt zu werden - um so in die Bestsellerlisten zu kommen.
Und bei den Linken (insofern man die Demokratische Partei als links bezeichnen kann), gibt es laut Padellaro das Komitee, das Melonis Antifaschismus misst, und das bei der antifaschistischen Gedenkfeier für Giacomo Matteotti (Öffnet in neuem Fenster), dessen Ermordung als Beginn der Diktatur Mussolinis gilt, Mängel festgestellt haben will: Melonis Antifaschismus habe mal wieder nicht ausgereicht, weil sie weder den Verbrecher Mussolini als Täter genannt, noch veranlasst habe, dass Senatspräsident Ignazio La Russa endlich seine Mussolini-Büsten und seinen zweiten Vornamen (“Benito”) entsorgt.
Und dann gibt es noch den General Vannacci (Öffnet in neuem Fenster), der von der Lega als Europakandidat aufgestellt wurde, weil sich sein im Eigenverlag herausgebrachtes Buch “Verkehrte Welt” (Öffnet in neuem Fenster) - in dem er erklärt, dass er Homosexuelle nicht für normal hält und den Waffengebrauch ausweiten will - sich dank der Besprechungen der Repubblica und weiterer tapferer Antifaschisten 300 000 Mal verkaufte. Kurz vor den Wahlen schien das Licht des durchgeknallten Generals schon zu verblassen, also ließ er sich in einem T-Shirt mit einem großen X ablichten, dem Zeichen für die rechten Terrorgruppen der “Xª Flottiglia MAS” des faschistischen Marionettenstaats der “Italienische Sozialrepublik”. Prompt zeigten sich die Linken entsetzt und empört, und der General kann sich sicher sein, dass er eine weitere Ladung nazifaschistischer, rassistischer, homophober etc.pp. Stimmen erhält.
Es ist also so wie immer in Italien. Links tut so, als ob es links sei. Und die Rechten gerieren sich als Kommunistenfresser. Blöd ist nur, wenn man sich weder auf die eine, noch auf die Seite schlägt. So wie die Fünfsterne. Oder die Grünen, die es in Italien de facto nicht mehr gibt, und die Alleanza Verdi e Sinistra (AVS), die grün-linke Allianz, in Umfragen bei vier Prozent dümpelt. Und warum auch? Klimakrise? Kann man das essen?
Wir hier in Venedig hingegen fühlen sie mit den Füßen. Aquagranda heißt wörtlich übersetzt “großes Wasser”, es ist ein venezianischer Ausdruck, der für das Hochwasser von 1966 stand (übrigens auch für eine Oper (Öffnet in neuem Fenster) mit dem gleichen Namen) - bis es nach dem zweiten apokalyptischen Hochwasser von 2019 praktisch zum Synonym für die immer extremeren Hochwasser wurde, die Venedig seit 1966 heimsuchen. Jetzt steht Aquagranda auch ein Projekt der kollektiven Erinnerung, das ein Archiv mit digitalen Spuren der extremen
https://www.aquagrandainvenice.it/it/welcome (Öffnet in neuem Fenster)Hochwasser in Venedig von 1966 bis 2019 umfasst. Es entstand 2020 aus einer Zusammenarbeit zwischen der Universität Ca' Foscari und der Science Gallery Venedig und ist sowohl ein Kollektiv von Forschern als auch eine Gemeinschaft von Menschen, die dazu beitragen, dieses Archiv durch öffentliche Initiativen und Ausstellungen lebendig zu halten.
Denn wenngleich die Hochwasser in Venedig im Laufe der Geschichte oft aufgetreten sind, sind sie dennoch nicht “normal”: Es handelt sich um menschengemachtes Hochwasser, ausgelöst nicht nur durch den menschengemachten Klimawandel, sondern auch dadurch, dass die venezianische Lagune nicht als Biotop betrachtet wird, sondern als zu nutzende Infrastruktur: Für den Hafen wurde erst der Kanal für Erdöltanker ausgegraben, der zur Erosion des zentralen Teils der Lagune sorgte, und später noch die anderen Kanäle, als Fahrrinnen für Kreuzfahrtschiffe, Containerschiffe, Tanker. So lange der Interessenkonflikt (Öffnet in neuem Fenster) zwischen dem Hafen und Venedig weiter besteht, wird sich an der Zerstörung der Lagune und der Gefährdung durch das Hochwasser nichts ändern.
Die Nuova di Venezia meldet “Zweifel” am Eintrittsgeld für Venedig (Öffnet in neuem Fenster) an.
Ich meine: von wegen Zweifel. Man muss schon unter einem Stein leben, um von der Datenabschöpfung des sogenannten “Smart Control Rooms” nicht beunruhigt zu sein. Jetzt unterliegt das Ganze endlich einer „komplexen“ Untersuchung des obersten Datenschutzbeauftragten Italiens.
Free Venice from Ticket (Öffnet in neuem Fenster) hat die Verletzung der Privatsphäre schon lange kritisiert. So handelt es sich bei den Überwachungskameras in Venedig nicht um ein einfaches Videoüberwachungssystem, weil hier künstliche Intelligenz eingesetzt wird und damit nach Ansicht von Experten die neue Grenze für die Gewährleistung der Sicherheit in Städten überschritten wird.
Wie Kritiker betonen, geht es im Wesentlichen nicht um die fünf Euro, die die Touristen zahlen sollen, sondern um die Verwendung persönlicher Daten: „Der Mechanismus, der hinter dem Smart Control Room steht, ist der neue Überwachungskapitalismus, wir sind nicht mehr Bürger, sondern Nutzer der Stadt, Nutzer der Stadt, und es gibt nur zwei Bereiche, in denen wir von Nutzern sprechen: Drogen und soziale Medien. Wir werden zum Produkt, in diesem Fall sind es unsere persönlichen Daten. Wenn die Stadtverwaltung keine Geldstrafen gegen diejenigen verhängt, die das Ticket nicht bezahlen, dann nur deshalb, weil bei einer Überprüfung Anomalien ans Licht kämen”- stellte ein venezianischer Gemeinderat fest.
Anomalien wie die Tatsache, dass das private Verkehrsunternehmen Marive bereits mit seiner Zusammenarbeit mit dem Smart Control Room wirbt. Zufälligerweise ist Marive auch einer der Sponsoren (Öffnet in neuem Fenster) des Basketballvereins des Bürgermeisters, Reyer Venezia Mestre.
Und zum Schluss noch ein Filmtipp: Marcello mio (Öffnet in neuem Fenster) ist ein wunderbar poetischer Film, in dem die Tochter von Marcello Mastroianni sich in ihren Vater verwandelt.
Aus Venedig grüßt Sie herzlich Petra Reski und, nicht vergessen:
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