Über Stimmen, verpeilte Boys und Gras, das über allem wächst.
Schon wieder eine gefühlte Ewigkeit her, die Europawahlen, richtig? Wie vorauszusehen war, hat in Italien die Meloni-Partei Fratelli d’Italia (Brüder Italiens) mit 28,8 Prozent der Stimmen gewonnen - vor der Demokratischen Partei, die es auf 24,7 Prozent brachte. Die Fünf-Sterne-Bewegung erreichte nur 10 Prozent. Die Wahlbeteiligung war historisch niedrig: Weniger als die Hälfte (der stimmberechtigten) Italiener hat gewählt: 49,69 Prozent. Im Vergleich dazu haben in Deutschland 61,4 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben (bei den letzten Europawahlen waren es nur 48,1 Prozent), in Spanien stieg die Wahlbeteiligung sogar auf 60,7 Prozent.
In Süditalien war die Wahlbeteiligung noch niedriger: In Sizilien lag sie nur bei 37 Prozent. Es waren vor allem die potentiellen Wähler der Fünf-Sterne-Bewegung, die zu Hause geblieben sind. Fakt ist, dass die Fünfsterne-Bewegung, die es bei den Parlamentswahlen 2018 auf 10 Millionen Stimmen brachte, bei den Europawahlen 2024 nur 2, 3 Millionen Stimmen bekam - allein zwei Millionen weniger als bei den Parlamentswahlen 2022.
Die Ursachen? Von der Teilnahme an der Regierung Draghi, wo die Fünfsterne mit all den Übeltätern regierten, die sie immer kritisiert haben, haben sie sich nicht wieder erholt. Es war die größte politische Fehlentscheidung in ihrer kurzen Geschichte. Draghi machte alle unter Federführung der Fünfsterne beschlossenen Gesetze und Reformen wieder rückgängig, darunter vor allem ihre Justizreform, die durch eine ersetzt wurde, die so schamlos ist, dass selbst Berlusconi sie niemals gewagt hätte. Das von den Fünfsternen eingeführte Bürgergeld wurde unter Draghi reduziert - und von Meloni ganz abgeschafft. Und schließlich versetzte Luigi Di Maio (Öffnet in neuem Fenster) den Fünfsternen den letzten Stoß: Weil die für Beppe Grillo sakrosankte Begrenzung des Mandats auf zwei Legislaturperioden von vielen Fünfsterne-Abgeordneten als rotes Tuch betrachtet wurde (und von vielen immer noch wird) gründete Di Maio mit sechzig weiteren Fahnenflüchtigen eine eigene Partei. Die bei den Wahlen 2022 grandios scheiterte. Der Einzige, der weich fiel, war Luigi Di Maio. Seine guten Beziehungen zu Mario Draghi haben sich ausgezahlt: Er wurde Sonderbeauftragter der Europäischen Union für die Golfregion.
Unter Giuseppe Conte (Öffnet in neuem Fenster) wurden die Fünfsterne zu einer Partei - die Mühe hat, ein Profil zu entwickeln. Von Umwelt ist kaum mehr die Rede und in der sozialen Frage haben sie Mühe, sich von der Demokratischen Partei zu unterscheiden - wobei unklar ist, ob sich die Fünfsterne als Rivalen oder als Bündnispartner der Demokratischen Partei definieren. Wer sich in Italien für Umweltfragen interessiert (in Italien so weit verbreitet wie Schmetterlingsforschung (Öffnet in neuem Fenster)), hat bei den Europawahlen das linke Bündnis AVS (Öffnet in neuem Fenster)(Alleanza Verdi e Sinistra) gewählt, das es immerhin auf 6,8 Prozent der Stimmen brachte.
In absoluten Zahlen hat Meloni dennoch 600 000 Stimmen im Vergleich zu den Parlamentswahlen 2022 verloren. Und das, obwohl Meloni-Propaganda nicht nur von nahezu allen Fernsehsendern (die öffentlich-rechtlichen sind in Italien seit Jahren zu Regierungssendern mutiert, und die Berlusconi-Sender gehören zur Regierungskoalition), sondern auch von den etablierten Tageszeitungen (Corriere della Sera, Libero, La Stampa, Il Giornale, Il Messaggero, Sole 24 Ore) vertrieben wurde.
Hinter mir liegt ein Berlin-Besuch mit zwei verpeilten Teenies. Mit denen ich versuchte, eine Art zeitgeschichtlicher Bildungsreise zu unternehmen - also ihnen etwas beizubringen über den Nationalsozialismus, die DDR, die Teilung Deutschlands, den Fall der Mauer. (Ehrlich gesagt, hat mich die Folklorisierung der deutschen Vergangenheit in Berlin etwas befremdet, aber gut.) Unter anderem habe ich mit den Boys das Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“ besucht. Dort hörten sie, dass der graue Schotter auf dem Gelände auch metaphorisch gemeint sei: Über die Vergangenheit soll kein Gras wachsen. Und als wir rausgingen, sahen wir, dass überall Gras wächst zwischen den Steinen.
Am Tag darauf lande ich in Brindisi, gehe über das Rollfeld - und mein erster
Gedanke ist: Haben die sich verflogen? Erst dann realisiere ich, dass der Flughafen komplett blockiert ist, in Brindisi Fisch- und Badeverbot herrscht (Ba-de-ver-bot!!), Städte wie Fasano oder Ostuni isoliert sind, weshalb alle fluchen und sich fragen, warum die ihre Gipfel nicht auf einer Insel abhalten können. In Italien würden sich dafür ehemalige Gefängnisinseln wie Asinara (Öffnet in neuem Fenster) anbieten. In Berlin hatte ich gerade erst erlebt, wie Selenskys Besuch die Stadt samt S-Bahn-Linien lahmgelegt hat.
Der allgemeinen Touristifizierung Italiens folgend, fand der G7-Gipfel nicht in einer echten Stadt, sondern in einem Fake-Dorf statt, einem auf dem Reißbrett entstandenen Luxusresort mit dem Namen “Borgo Egnazia”, in dem Meloni gerne ihren Urlaub verbracht hat. (Öffnet in neuem Fenster) Und als ich dieses Foto von Giorgia Meloni sah, traute ich meinen Augen nicht:
Sie hält ihre Rede an einem Rednerpult, das aus dem Stamm eines “wegen Xylella vertrockneten Olivenbaums” besteht, wie die Nachrichtenagentur Ansa präzisiert. Passt ja, dachte ich. Im Fake-Dorf darf der Xylella-Fake (Öffnet in neuem Fenster) natürlich nicht fehlen.
Der Bürgermeister von Fasano hat übrigens mit einem Brief an den Staatspräsidenten dagegen protestiert, dass auf der Gipfel-Gedenkbriefmarke lediglich der Name des Luxus-Resorts steht (Öffnet in neuem Fenster) - und nicht der eigentliche Ort, an dem der Gipfel stattfand: Fasano, Stadtteil Savelletri.
Wenn man nicht gerade mit Meloni&Co in einem Ferienresort eingesperrt ist, ist der Salento übrigens wunderschön.
Herzlichst grüßt Sie dieses Mal vom Liegestuhl - Ihre Petra Reski
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