Der ideale Feind, die Heiligsprechung und andere Kleinigkeiten
Begrüßen möchte ich Sie, liebe Leser von Reskis Republik und Ehrenvenezianer, mit diesem Bild, das ich frühmorgens mache, wenn ich zum Lido zum Schwimmen fahre und Venedig noch sich selbst gehört.
Wenn ich mittags zurückkehre, läuft die Venedigmaschine natürlich bereits auf Hochtouren. Im Deutschlandfunk erinnerte ein schöner Beitrag (Öffnet in neuem Fenster) an das legendäre Pink-Floyd-Konzert 1989, in dem viele Venezianer den Anfang vom Ende sahen. Als ich 1989 zum ersten Mal nach Venedig kam und dem Venezianer in die Arme lief, waren die Bilder von dem unter Müll versunkenen Markusplatz erst einen Monat zuvor um die Welt gegangen. Seitdem hat Venedigs Heimsuchung einen Namen: Pin Floi, wie die Venezianer sagen. Pin Floi ist das Sinnbild für Venedigs Niedergang, seine von den Horden zertrampelte Würde.
Die Wahlen in Frankreich sind - gefühlt - auch schon wieder lange her, aber ich fand es schon verrückt, wie alle gejubelt haben, dass Le Pen nicht gewonnen hat. In all der Aufregung über den Rechtsruck in Europa (und Amerika) fällt allerdings eines unter den Tisch: Nirgends ist die Rede von einer fehlenden Gewissensprüfung der sogenannten „linken“ Parteien, die seit Jahrzehnten eine neoliberale Politik betreiben und damit ihre eigentliche Wählerschaft im Stich gelassen haben.
Das gilt für die französischen Sozialisten, die italienische PD und die deutsche SPD - und im Übrigen auch für die englische Labour (Nigel Farage und seine Reform UK mit ihrem Stimmengewinn von über 12 Prozent lassen grüßen). Dass konservative Parteien neoliberale Ziele verfolgen (Merkel, Macron, Berlusconi) gehört zu ihrem Kerngeschäft. Blöd ist es nur, wenn das auch vermeintlich linke Parteien tun, so wie man es in Italien jahrzehntelang beobachten konnte, als die PD die Politik Berlusconis nicht bekämpfte, sondern am Leben hielt, mit ihrem Kuschelkurs, in den Berlusconi-Jahren auch inciucio genannt, der darin bestand, dass die Regierung als Belohnung die Opposition an den Pfründen beteiligte und ihr Zugeständnisse machte.
Was Gérard Biard, Chefredakteur von Charlie Hebdo, mit Blick auf Frankreich bemerkte (Öffnet in neuem Fenster), gilt im Grunde auch für Italien: „Wir haben die versuchte Normalisierung (dédiabolisation) der extremen Rechten immer angeprangert. Aber ein Teil der Linken ist für diese Normalisierung verantwortlich. Es ist klar, dass das Problem ein soziales ist, es gibt eine große soziale Kluft mit einem Rand des peripheren Frankreichs, den die Linke beiseite gelassen hat: die Arbeiter, die Bewohner der kleinen Städte. Heute ist die einzige Partei, die auf sie hört, die RN.“
Melonis Erfolg ist bis heute ungebrochen, was nicht zuletzt daran liegt, dass die Demokratische Partei Giorgia Meloni jahrelang unterschätzt, ja sogar gefördert hat, weil man sie für gut und begabt hielt – aber unfähig zu gewinnen und daher im Grunde harmlos: »der ideale Feind« laut der Huffington Post, die dem Partito Democratico nahesteht.
Was ist denn bei den einst linken Parteien Europas noch geblieben von der Klassenfrage? Wer redet denn noch von der immer größeren Kluft zwischen Arm und Reich? Nein, stattdessen bejubeln sich jetzt alle als redliche Antifaschisten: Den einstigen Linken konnte eigentlich nichts Besseres passieren, als der Aufstieg der Rechten. Nichts lenkt so gut von der eigenen Unfähigkeit ab.
Wir in Italien sind der bevorstehenden Heiligsprechung Berlusconis einen entscheidenden Schritt näher gekommen: Nach dem Staatsbegräbnis und der dreitägigen Staatstrauer, der Aufnahme in das Pantheon berühmter Mailänder und der Sonderbriefmarke, wurde nun der Mailänder Flughafen im Schnellverfahren nach Silvio Berlusconi benannt (Öffnet in neuem Fenster), um den wegen Steuerbetrugs, Bilanzfälschung und Richterbestechung rechtskräftig verurteilten Gewohnheitsverbrecher zu ehren, der auch noch in seiner Zeit als Ministerpräsident die Mafia finanzierte. Welcher Name wäre besser geeignet, um einer Bananenrepublik zur Ehre zu gereichen?
Natürlich protestiert die Opposition, werden Unterschriften gegen die Umbenennung gesammelt (Öffnet in neuem Fenster) (im Moment mehr als 140 000), Witze gemacht (“Bunga-Bunga-Flughafen”) und auf andere Flughäfen verwiesen, die Namen von Politikern tragen, etwa der Franz-Josef-Strauß-Flughafen in München. Aber bei allem Respekt für die kriminelle Energie von Franz Josef Strauß (Öffnet in neuem Fenster) (der Link ist für die Jüngeren unter den Lesern gedacht) verfügte er doch bei weitem nicht über den politischen Einfluss, den Berlusconi drei Jahrzehnte lang auf Italien ausübte - und der für das Land einen ethisch-moralischen Niedergang zur Folge hatte, deren Auswirkungen wir bis heute täglich spüren.
In Venedig erwarten wir eigentlich, dass unser Marco-Polo-Flughafen bald in Luigi-Brugnaro-Flughafen umbenannt wird, dank des selbstlosen Einsatzes unseres Bürgermeisters gegen den Overtourism, zuletzt dank der angekündigten Verdoppelung des Eintrittsgeldes (Öffnet in neuem Fenster) von fünf auf zehn Euro. Eingenommen wurden damit inzwischen zwei Millionen Euro, verständlich, dass man auf so leicht kassiertes Geld nicht verzichten will. “Obwohl die Stadt bislang über zwei Millionen Euro einnahm, wurde das Ziel, den Massentourismus zu reduzieren, allerdings nicht erreicht”, schreibt die Frankfurter Rundschau in ihrem zahnlosen Bericht. Echt jetzt? Hätte man da nicht mal nachfragen können, wozu das Eintrittsgeld verdoppelt werden soll, wenn es sein vorgebliches Ziel gar nicht erreicht?
Das Eintrittsgeld greift gravierend in unsere Grundrechte ein: Freizügigkeit und Privatsphäre werden ohne jede Notwendigkeit beschnitten – einzig und allein mit dem Ziel, Geld zu verdienen und Kontrolle über die Bewohner zu erlangen. Ich möchte jeden, wirklich jeden, zu zivilem Ungehorsam auffordern, diese Gebühr nicht zu bezahlen. Wie ich bereits schrieb (Öffnet in neuem Fenster), wurden bislang keine Geldstrafen für diejenigen verhängt, die sich der Eintrittsgebühr verweigern, weil es nicht nur erhebliche Zweifel am Datenschutz, sondern auch verfassungsrechtliche Bedenken gibt.
Über das Eintrittsgeld und einige andere Fake-News über Venedig habe ich auch in dem FAZ-Podcast gesprochen, nachzuhören hier (Öffnet in neuem Fenster).
Heute geht die Europameisterschaft zu Ende - die für uns (ich halte immer zu Deutschland) ja schon seit dem blöden Spanienspiel praktisch zu Ende ist. Am Schönsten für mich als Holger-Gertz-Fangirl (Holger Gertz (Öffnet in neuem Fenster) ist Autor der Seite Drei der Süddeutschen Zeitung) waren seine EM-Berichte, zuletzt gestern diese Hymne an NRW (Öffnet in neuem Fenster), die ich, aufgewachsen im Ruhrgebiet, vor allem als Hymne an das Ruhrgebiet gelesen habe. Wenn Holger Gertz schreibt, lese ich sogar alles über die Olympischen Spiele, die mich null interessieren, er könnte über das Verlegen von Heizungsrohren schreiben und ich würde es lesen.
https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/fussball-em-england-niederlande-em-ruhrgebiet-fans-e537020/ (Öffnet in neuem Fenster)Seine Reportage erinnerte mich an eine Begegnung neulich im Zug in Dortmund, als ein englischer Fußballfan am Telefon sagte: “We are just arrived in a city called Dortmund”. Echt jetzt? Und so was will ein Fußballfan sein? A city called Dortmund? Du englischer Vollhorst, Dortmund hat schon Fußball gespielt, als ihr noch an Druiden glaubtet.
Also diese Engländer, die sollen heute Abend auf jeden Fall verlieren. Echt jetzt. Und das sage ich, obwohl es für mich heute Abend schwierig, wenn nicht unmöglich sein wird, etwas von dem Spiel zu sehen. Denn der Italiener an meiner Seite hält Fußball für geistige Verwirrung, und wir fahren heute Abend mit dem Boot zum Lido in ein Restaurant, in dem wir nur einen Platz gefunden haben, weil alle Italiener zu Hause bleiben und das Endspiel gucken. Aber vielleicht läuft da im Restaurant doch irgendwo ein kleiner, tragbarer Fernseher …
Und zur Ferienzeit noch ein Lektüretipp: „Seinetwegen“ (Öffnet in neuem Fenster) heißt das schöne Buch, das meine Freundin und Autorenkollegin Zora Del Buono (Öffnet in neuem Fenster) geschrieben hat. „Seinetwegen“ war es, dass ihr junger Vater bei einem Verkehrsunfall in der Schweiz ums Leben kam.
Zora und mich verbindet unter anderem, dass wir unsere Väter früh verloren haben, Zora war acht Monate alt, ich fast zweieinhalb, als mein Vater als Bergmann unter Tage ums Leben kam. Um diese Leerstelle kreist Zoras Buch, wobei sie auch der Frage nachgeht, wie das Leben desjenigen aussah, der diesen Unfall verursacht - und so ihr Leben bestimmt hat.
Zora und ich sind beide mit alleinerziehenden Müttern aufgewachsen - die nie wieder geheiratet haben, was in den 1960er Jahren keine Selbstverständlichkeit war. Damals hießen unsere Mütter auch nicht „alleinerziehende Mütter“, sondern „alleinstehende Mütter“: Weil man als „alleinstehende Frau“ als unvollständig betrachtet wurde. Auch davon erzählt Zora in ihrem schönen Buch, das ich allen ans Herz legen möchte.
Herzlichst grüßt Sie aus Venedig, Ihre Petra Reski
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