Alles ist gut, Madame la Marquise
Am 23. Mai 1992, dem Tag der Ermordung von Giovanni Falcone, habe ich zum ersten Mal begriffen, in welchem Land ich lebe. Ich hatte das Gefühl, als wäre aus den Tiefen des Ozeans plötzlich eine Bestie aufgetaucht, hätte alles verschlungen und wäre wieder abgetaucht. Zurück blieb ein Meer, das wieder still war, nur auf der Oberfläche trieben noch Trümmer und Holzplanken. Das war der Moment, in dem ich zu verstehen begann, dass die Mafia mehr ist als verheuchelte Bosse, die im Gerichtssaal auf jede Frage mit einem unterwürfigen »Ja, Herr Richter« und »Nein, Herr Richter« antworteten und ständig Gleichnisse aus der Bibel zitierten. Ich verstand, dass die Mafia kein Gegenstaat ist, sondern der bewaffnete Arm einer bestimmten Politik.
In den Tagen danach waren die Zeitungen voll mit Anspielungen, die ich zu enträtseln versuchte. Ich sah, wie die Politiker auf Giovanni Falcones Beerdigung ausgepfiffen wurden und las das Interview mit Paolo Borsellino, der sich als »Leiche, die noch läuft« bezeichnete – und von der moralischen Pflicht sprach, weiterzumachen, ohne sich einschüchtern zu lassen. Als er keine zwei Monate nach Falcone ebenfalls ermordet wurde, dachte ich, dass ich in ein Land gezogen war, in dem ein Krieg herrscht. Und eigentlich denke ich das bis heute.
Die meisten Antimafia-Staatsanwälte verweigern sich schon lange der als "Schaulaufen" bezeichneten Gedenkveranstaltung der Ermordung von Giovanni Falcone - weil sie sich daran erinnern, wie Giovanni Falcone zu Lebzeiten systematisch diskreditiert, isoliert und in seiner Arbeit behindert wurde. Der diesjährige Jahrestag hat einen besonderen Tiefpunkt erreicht. Nicht nur, dass Maria Falcone, Schwester von Giovanni Falcone, nicht darauf verzichtete, sich von zwei, gelinde gesagt, mafiafreundlichen Politikern begleiten zu lassen: vom Regionalpräsidenten Renato Schifani (Öffnet in neuem Fenster), Mitglied von Forza Italia und ehemaliger Präsident des Senats, gegen den bereits in der Vergangenheit wegen seiner Verbindungen zu einigen Bossen ermittelt wurde und der in Caltanissetta wegen Verrats von Amtsgeheimnissen angeklagt ist. Und vom Bürgermeister von Palermo, Roberto Lagalla, (Öffnet in neuem Fenster)dessen Bürgermeisterkandidatur von zwei wegen Beihilfe zur Mafia vorbestraften Männern unterstützt wurde: von Marcello Dell'Utri (Öffnet in neuem Fenster), rechte Hand Berlusconis und Gründer der Partei Forza Italia, und Totò Cuffaro (Öffnet in neuem Fenster), ehemaliger sizilianischer Regionalpräsident.
Das allein wäre schon beschämend genug gewesen - aber dann wurden auch noch Demonstranten gegen dieses Schaulaufen zusammengeknüppelt: Weder in Palermo noch anderswo in Sizilien ist es je vorgekommen, dass friedliche Demonstranten bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer der Mafia zum Angriffsziel von Polizisten in Kampfmontur wurden.
Heute gilt Totò Cuffaro, der 2011 wegen besonders schwerer Beihilfe zur Cosa Nostra zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde, als "vollständig rehabilitiert". Für den ehemaligen Regionalpräsidenten wurde auch die zusätzliche Strafe des Ausschlusses von öffentlichen Ämtern aufgehoben: Cuffaro, Regionalbeauftragter der "Neuen Christdemokratie", kann wieder kandidieren.
In den Tagen vor dem Jahrestag der Ermordung von Giovanni Falcone erschien ein Plakat des Offline-Kollektivs an den Wänden der Straßen von Palermo. Es zeigt ein großes Foto von Totò Cuffaro. Auf seinem Kopf ein Heiligenschein, darunter die Aufschrift: "Rehabilitiert und bald seliggesprochen".
Hier sehen Sie Totò Cuffaro (links im Bild) im Jahr 2006, als meine Freundin und Fotografin Shobha (rechts) und ich Cuffaro während seines Wahlkampfs begleiteten, um ihn zu portraitieren. Das war in den Tagen, als die Staatsanwaltschaft die Anklage "Unterstützung einer mafiosen Vereinigung" plötzlich in eine "Anklage wegen Begünstigung der Mafia" verwandelte. Der Unterschied liegt nicht nur in der Wortwahl, sondern auch im geringeren Strafmaß - dennoch wurde Cuffaro später zu sieben Jahren Haft verurteilt.
Zeitgleich, am Gedenktag der Ermordung von Giovanni Falcone, ernannte die italienische Regierung die bis dahin unbekannte Abgeordnete und Meloni-Freundin Chiara Colosimo (Öffnet in neuem Fenster) zur Präsidentin der Antimafia-Kommission ernannte - was besonders unter den Opferverbänden der italienischen Attentate große Empörung ausgelöst hat, die ihr ihre Nähe zu rechtsterroristischen Kreisen, speziell zu Luigi Ciavardini, einem verurteilten Polizistenmörder vorwerfen, der auch des Massakers im Bahnhof von Bologna im Jahr 1980 überführt wurde, bei dem 85 Menschen starben. Chiara Colosimo hat daraufhin versucht, ihre Website und ihre sozialen Profile von den Spuren der Verbindung mit dem ehemaligen Rechtsterroristen Luigi Ciavardini zu bereinigen, was in Italien als symbolische Geste verstanden wurde: Auch die regierende Rechte versucht jetzt, die Geschichte des Rechtsterrorismus und seiner Massaker auszulöschen. Nicht darüber zu sprechen, so zu tun, als sei nichts geschehen, unbequeme Jahrestage und die Klagen der Opferverbände zu ignorieren und über etwas anderes zu sprechen ist, das Gebot der Stunde.
Die parlamentarische Antimafia-Kommission sollte - rein theoretisch - überparteilich sein und hat - theoretisch - gerichtliche Befugnisse: Sie kann Ermittlungen beauftragen oder eben auch unterlassen. Der Einsatz einer dezidiert rechten Präsidentin der Antimafia-Kommission ist auch deshalb bemerkenswert, weil sich das Augenmerk der Ermittler im Hinblick auf die (nie geklärten) Hintergründe der Mafia-Attentate der Jahre 92-93 besonders auf die Indizien für die Beteiligung von Rechtsterroristen in Zusammenarbeit mit Geheimdiensten konzentriert.
Und in Venedig freut sich der Bürgermeister darüber, mit Ursula Von der Leyen in der Gondel zu sitzen:
https://www.youtube.com/watch?v=QzUIVufvU8Y (Öffnet in neuem Fenster)Ursula von der Leyen hat ihren Besuch dafür genutzt, Brugnaro für sein ökologisches Engagement in Venedig zu loben. Kein Witz. Dies geschah in der Woche, in der beschlossen wurde, dass der "canale di petroli" Kanal für Erdöltanker, Container- und Kreuzfahrtschiffe jetzt auch ohne - die eigentlich erforderliche - Umweltprüfung tiefer gegraben werden kann. Was praktisch das Ende der Lagune von Venedig bedeutet (Remember: Wie ich in meinem Venedigbuch (Öffnet in neuem Fenster) schrieb, führte das Ausgraben der Fahrrinnen in der Lagune zur Erosion, dem Hochwasser und der Verwandlung der Lagune in einen Meeresarm.)
Und als ich Ursula von der Leyen in der Gondel neben Brugnaro sitzen sah, habe ich mich daran erinnert, wie sie 2019 »Wir sehen Venedig unter Wasser« sagte - letztlich aber Venedig, diesen Kanarienvogel der Welt, auch nur zur Werbung für den Green Deal der EU nutzte. Die einen benutzen Venedig als Selfie-Hintergrund, die anderen, um ihre Politik zu beschönigen. Und wenn Venedig, wie Von der Leyen zitiert wird, "Vorbild für Nachhaltigkeit" sein soll, dann gute Nacht.
In Italien benutzt man in Fällen offensichtlichen Beschönigungsversuchen gerne den Ausdruck "Tutto va bene, Madama la Marchesa": Alles ist gut, Madame la Marquise. Der Ursprung des Ausdrucks ist ein französisches Lied, in dem ein Diener versucht, die Marquise zu beruhigen, indem er ihr erzählt, dass die Pferde beim Brand der Ställe umgekommen sind, der gesamte Palast abgebrannt ist und ihr Mann Selbstmord begangen hat. Aber alles ist gut!
In diesem Sinne grüßt Sie aus Venedig - Ihre Petra Reski
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