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Neues aus der Welthauptstadt des Massentourismus

Als Venedig am langen Wochenende an Allerheiligen von 450 000 Touristen überrannt wurde, sah das so aus, wie hier auf dem Foto der Facebook-Gruppe

"Venezia non è Disneyland" - ein programmatischer Name, der jetzt nur noch wie ein frommer Wunsch klingt. Der venezianische Lokalsender Antenna Tre hat sich anlässlich dieser Invasion zu einem erstaunlich kritischen Beitrag hinreissen lassen, in dem der Reporter Venedig als "Welthauptstadt des Massentourismus" bezeichnet, was natürlich eine ironische Anspielung auf

https://www.youtube.com/watch?v=StbPmBMri40 (Öffnet in neuem Fenster)

den Titel "Venedig, Welthauptstadt der Nachhaltigkeit" ist, jener Stiftung, die der Ex-Forza-Italia-Politiker Renato Brunetta zusammen mit dem Lega-Politiker Luca Zaia und dem venezianischen Bürgermeister-Unternehmer Luigi Brugnaro zum Entsetzen der Venezianer gegründet hat - und die ungefähr so glaubwürdig ist wie Putin, Lukaschenko und Erdogan, die eine Vereinigung der Pazifisten gründen: Zu der Stiftung gehören vor allem private Unternehmen, Erdgasnetzbetreiber, Mineralölkonzerne, Energiekonzerne und amerikanische Unternehmensberatungsgruppen, die ein Auge auf die Milliarden des Europäischen Wiederaufbaufonds geworfen haben. 

Am Bahnhof standen die Besucher mehr als eine Stunde für ein Vaporettoticket an, um dann erschöpft in einen "typisch venezianischen" Baccaro einzukehren, wo sie sich an der Seite von anderen Touristen von dieser Anstrengung zu erholen versuchten. Ja, Venedig wird ausgepresst wie eine - inzwischen vertrocknete - Zitrone.

Um dem Chaos zu entgehen, habe ich mir an Allerheiligen mit zwei halbwüchsigen Venezianern eine Bildungsreise nach Paris gegönnt, was eine Freundin knapp mit: "Ehe ich mit zwei pubertierenden Monstern freiwillig verreisen würde, würde ich mir lieber einen Nagel ins Knie schlagen" kommentierte. Aber die beiden Venezianer folgten mir klaglos durch den Louvre (Mona Lisa ist überschätzt, Géricaults Floß der Medusa (Öffnet in neuem Fenster) so okay, bei Delacroix' nicht ersichtlich, warum die Freiheit, wenn sie das Volk führt (Öffnet in neuem Fenster), dabei ihre Brüste zeigen muss), in der Conciergerie (Öffnet in neuem Fenster)wurde die französische Revolution gelegentlich mit der Herrschaft Napoleons verwechselt, im Marais stellten sie fest, dass hier fast das gleiche Gedrängel herrscht wie in Venedig, bei der Seine-Rundfahrt warf einer der beiden Venezianer allen jungen, hübschen Passantinnen am Ufer wie besessen Kusshände zu, im Naturkundemuseum im Jardin des Plantes fingen sie in der letzten Etage an, leicht zu schwächeln.

Was sie aber nicht hinderte, mir auch noch bei meinem Nostalgietrip in die Cité universitaire zu folgen, wo ich als Studentin zwei Jahre lang gewohnt habe. Höhepunkt des Paris-Aufenthalts war zweifellos der Kauf eines "Original-T-Shirts" von Paris Saint-Germain auf Englisch: "How much?", das sie in den folgenden drei Tagen nicht mehr ausgezogen haben. Den krönenden Abschluss bildete der Besuch des Eiffelturms, wo wir in der Warteschlange noch

Muße hatten, die Wikipedia-Seite (warum den Reiseführer lesen, wenn doch alles im Internet steht?) zu studieren ("Hä? Das alles soll ich lesen?" - "Nein, du sollst mir nur eine kurze Zusammenfassung geben, also wie hoch, wann, warum und zu welchem Anlass erbaut, wie war die Reaktion von den Zeitgenossen, solche Dinge."). 

Und als ich wieder zurück in Venedig war, wunderte ich mich darüber, dass jetzt neben mir keiner mehr über einen Poller sprang, mit den Fingergelenken knackte oder in die Luft boxte und dabei "unz, unz" oder "oink, oink" machte.

Zwei Stadträte, die mit rosa Luftballons und den salbungsvollen Worten „Diese von den Bewohnern des Viertels seit langem erwartete Eröffnung stellt einen Moment der Wiedergeburt dar“ einen neuen Supermarkt für die letzten Eingeborenen einweihen: So geschehen nicht in einem Indianerreservat, wo sich zwei Bleichgesichter für ihren aufopferungsvollen Einsatz für die verbliebene indigene Bevölkerung rühmen, sondern in Venedig, dieser kleinen Stadt im Wasser.

Oh, ja Wiedergeburt. Die Frage ist dabei nur, als was wir hier in Venedig wiedergeboren werden. Vielleicht als Airbnb-Kunden? Denn von den in La Nuova gerühmten „Lokalen Produkten“ ist in dem Supermarkt keine Spur - außer man geht davon aus, dass auf den Feldern von Sant’Erasmo eingeschweißte Fertiggerichte wachsen. 

Ich habe für die Wiedereröffnung dieses Supermarkts ein besonderes Interesse - nicht nur weil ich als Bewohnerin von San Marco auf ihn angewiesen bin, sondern auch weil es sich dabei um den Supermarkt handelt, den ich in „Als ich einmal in den Canal Grande fiel“ (Öffnet in neuem Fenster)verewigt habe, mit den Worten „Der Supermarkt ist eines der vielen Symbole unserer Unterwerfung. Und das nicht, weil wir hier in Venedig Feinde des Konsums wären und die Auswahl von siebenunddreißig Magermilchjoghurts nicht zu schätzen wüssten. Aber im Supermarkt an der Käsetheke zwischen Airbnb-Kunden zu stehen und auf Französisch angesprochen zu werden, fühlt sich für Venezianer so an, als würden sie mit ansehen, wie Napoleon die venezianischen Löwen von den Balkons schlagen lässt.“

Da konnte ich noch nicht ahnen, zu welchen Ungeheuerlichkeiten die Lebensmittelindustrie fähig ist.  Ja, der Markt. Er hat auch hier wieder zugeschlagen.

Um Overtourism und die Auswirkungen auf die Städte wird es auch nächsten Donnerstag in Rom gehen: Das Schweizer Kulturinstitut veranstaltet eine Konferenz mit dem schönen Titel "Overbooking (Öffnet in neuem Fenster)" und hat mich eingeladen, eine Runde mit venezianischen Tourismus-Experten zu moderieren, es besteht die Möglichkeit, auch online dabei zu sein. 

Zum Schluss noch ein Buchtipp: "Damals - das Magazin für Geschichte" hat einen sehr schönen Band über Venedig herausgegeben: "La Serenissima. Venedig von der Völkerwanderung bis zum Massentourismus" (Öffnet in neuem Fenster), in dem namhafte

Historiker die Entwicklung Venedigs beschreiben. Ich bin natürlich keine Historikerin und zeichne deshalb das Bild Venedigs von heute - zwischen "Tradition und Overtourism".

In diesem Sinne grüßt Sie herzlich aus Venedig, Ihre Petra Reski

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