Zum Hauptinhalt springen

The Case of Hana & Alice (Shunji Iwai)

Betrachtet man die Darstellung des japanischen Schulsystems in Coming-of-Age-Geschichten, zeichnet sich ein düsteres Bild: Mobbing, gesichtslose Bürokratie und eine vereinsamende Anonymität prägen nahezu jede Erzählung. Bemerkenswert ist dabei der charakteristische Kontrast zwischen der schonungslosen Darstellung des demoralisierenden Schulalltags und dem oft versöhnlichen, gefühlvollen Grundton dieser Geschichten. "The Case of Hana & Alice" reiht sich nahtlos in diese Tradition ein.

Im Mittelpunkt steht die 14-jährige Tetsuko Arisugawa, genannt Alice, deren Leben sich im Umbruch befindet: Ihre sich scheidende Mutter zieht mit ihr in eine neue Stadt, was nicht nur einen Schulwechsel, sondern auch eine Namensänderung von Kurozawa zu Arisugawa mit sich bringt. Ohne die noch nicht gelieferte Schuluniform muss sich Alice wie ein Fremdkörper in ihrer neuen Umgebung behaupten.

Wahrgenommene Realität

Die Identitätsfrage, die sich für Alice durch ihren Namenswechsel stellt, spiegelt sich in einem von Missverständnissen und Doppeldeutigkeiten durchzogenen Schulalltag wider. Im Zentrum steht der mutmaßliche Todesfall des Mitschülers Yuda, dessen Name sich mit dem biblischen Judas vermischt. Der durch einen Bienenstich ausgelöste anaphylaktische Schock wird in der Fantasie der Schülerin Mutsu Mutsumi zu einer dramatischen Geschichte: Judas, von seinen vier Frauen ermordet, belegt nun unliebsame Mitschüler mit dem "Fluch der Anaphylaxie". Hana Arai, ehemals in Yuda verliebt, meidet seither die Schule – für Mutsu ein klares Zeichen, dass Yuda sie in die Unterwelt entführt hat.

Die Neigung zur vorschnellen Realitätskonstruktion zieht sich wie ein roter Faden durch den Film: Alice' Nachbarin Hana und deren Mutter, ein fälschlich als Yudas Vater identifizierter älterer Herr, die halsbrecherische Verfolgung eines LKW aufgrund einer vermeintlich zwischen den Rädern eingeklemmten Person – stets offenbart sich die Problematik voreiliger Schlussfolgerungen auf Basis unzureichender Informationen.

Wahrheit und Selbsttäuschung

Die vordergründige Frage nach Yudas Tod und Hanas möglicher Täterschaft weicht der tieferen Auseinandersetzung mit der Bereitschaft der Protagonistinnen, sich der Wahrheit zu stellen. In Anlehnung an Kants Aufklärungsbegriff begleiten wir Hana und Alice auf ihrem Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Hanas Versuch, sich durch häusliche Isolation der Realität zu entziehen, erweist sich als unhaltbar.

Die finale Konfrontation mit Yuda führt zu einem bemerkenswerten Wendepunkt: Als dieser den unvergesslichen Schmerz des Bienenstichs erwähnt, interpretiert Hana seine Worte als Liebesgeständnis – schließlich könne nur die Liebe solche Schmerzen verursachen. In dieser bewussten Umdeutung der Realität manifestiert sich ihre Rückkehr in die selbstgewählte Unmündigkeit.

Diese Thematik spiegelt sich auch in der Figur des älteren Kollegen von Yudas Vater wider. Seine stolze Präsentation eines faltenfreien Unterarms als Beweis seiner Jugendlichkeit, ironischerweise durch ein langes Haar auf der vermeintlich makellosen Haut konterkariert, illustriert eindrücklich die menschliche Tendenz zur selektiven Wahrnehmung der Realität. Der Film zeigt damit meisterhaft, wie die ersehnte und die tatsächliche Realität oft in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander stehen.

Das System und seine Apologeten

Ein aufschlussreicher Dialog zwischen Alice und ihrer Mutter nach dem ersten Schultag offenbart die subtilen Mechanismen gesellschaftlicher Verdrängung: Auf Alice' knappe Feststellung "Scheiße, ich wurde gemobbt" reagiert die Mutter mit einem bezeichnenden Dreischritt der Relativierung. Zunächst sucht sie reflexartig die Schuld bei ihrer Tochter, dann verharmlost sie das Problem als vorübergehendes Phänomen und schließlich projiziert sie ihre eigenen Erfahrungen auf die Situation: Als selbsternannte Schönheit habe sie in ihrer Jugend ohnehin nur männliche Freunde gehabt, da Mädchen aus Neid keine Option gewesen seien.

In dieser kurzen Sequenz verdichtet sich exemplarisch die gesellschaftliche Tendenz zur systematischen Problemverschiebung: Täter-Opfer-Umkehr, Bagatellisierung persönlicher Krisen und die grundsätzliche Infragestellung des Bedürfnisses nach Zugehörigkeit. Die implizite Botschaft ist unmissverständlich: Nicht das System trägt die Verantwortung, sondern das Individuum selbst.

Bemerkenswert ist dabei, wie der Film diese Systemkritik durch die durchweg positive Darstellung der erwachsenen Nebenfiguren kontrastiert: Eine engagierte Lehrerin, die sich auch in ihrer Freizeit um ihre Schützlinge kümmert; ein großzügiger Taxifahrer, der Alice kostenlos befördert; der fürsorgliche ältere Kollege, der sich vom vermeintlichen Kidnapper zum väterlichen Gönner wandelt; selbst die Gäste eines Ramenrestaurants, die bereitwillig ihr Abendessen den hungrigen Schülerinnen überlassen.

Diese auffällige Diskrepanz zwischen institutioneller Kälte und individueller Warmherzigkeit suggeriert eine komplexe Botschaft: Die Ängste und Sorgen der Mädchen erscheinen im Angesicht der tatsächlich erfahrenen Güte als weitgehend unbegründet. Dennoch verweist gerade diese Gegenüberstellung auf eine tieferliegende Problematik: Das System perpetuiert sich nicht durch offene Repression, sondern durch die subtile Normalisierung seiner Dysfunktionalität, bei gleichzeitiger Auslagerung menschlicher Wärme in den Bereich individueller Gesten.

Fazit

In Shinji Iwais The Case of Hana & Alice wird entgegen dem Klischee, das gegenüber der japanischen Gesellschaft besteht, der Nagel der raussteht nicht reingeschlagen, sondern er findet sich von ganz alleine in das Brett zu den anderen Nägeln ein. Die interessanten Ansätze, was Wahrheit bedeutet und wie man sich seine Realität gestalten möchte, werden am Ende wieder vom Tisch gewischt und wir verbleiben mit einer Hana, die sich die toxische, einseitige Beziehung nicht eingestehen möchte und mit einer Alice, die sich von ihrer Mutter konservativen Nonsens anhören muss.

Die Erzählstruktur des Films offenbart deutliche Brüche: Die erste Hälfte verliert sich in biblisch-kryptischen Andeutungen, führt Nebenfiguren wie eine alte Schulfreundin und einen in Bürokratie versinkenden, schneckenzüchtenden Lehrer ein. Erzählpunkte, die später keine Erähnung mehr finden. Der zweite Teil degradiert zur ziellosen Schnitzeljagd, während das eigentliche Kernthema – die komplexe Beziehungsdynamik zwischen Hana und Yuda sowie deren Nachwirkungen – auf weniger als ein Drittel der Laufzeit komprimiert wird.

Wenn ein Coming-of-Age-Film schon darauf verzichtet, systemische Kritik zu üben, sollte er zumindest die emotionale Dimension seiner Charaktere ausleuchten. Die einseitige Beziehung zweier Heranwachsender böte reichlich Potenzial für psychologische Exploration. Stattdessen reduziert der Film diese komplexe Dynamik auf oberflächliche Plot-Punkte: Hanas naiver "Ehevertrag" und Yudas zynische Weitergabe desselbigen an vier weitere Mädchen. Die tieferen emotionalen Implikationen bleiben unergründet, Hanas ursprüngliche Motivation für ihre Gefühle zu Yuda bleibt im Dunkeln.

Was bleibt, ist eine Geschichte, die sich in struktureller Verworrenheit verliert und zu spät Fahrt aufnimmt, um ihre thematischen Versprechen einzulösen. Die Charakterzeichnung bleibt blass, die dargestellte Welt verhaftet in konservativen Mustern. Die Schlussszene unterstreicht diese Problematik: Wenn Hana und Alice sich in ihren jeweiligen Schuluniformen begegnen und scherzhaft deren Unvorteilhaftigkeit kommentieren, schwingt darin die unausgesprochene Erleichterung des Films über ihre gelungene gesellschaftliche Integration mit. Was als potenziell kritische Auseinandersetzung mit Konformität und individueller Wahrheit begann, endet als subtile Bestätigung eben jener Strukturen, die es zunächst zu hinterfragen schien.

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von Pen & Popcorn und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden