May December (Todd Haynes)
In den USA bezeichnet der Begriff "May-December Romance" eine Liebesbeziehung zwischen zwei Personen mit einem erheblichen Altersunterschied. Dementsprechend dreht sich die Handlung in Todd Haynes' neuestem Film um die Beziehung zwischen Gracie (Julianne Moore) und Joe (Charles Melton). Konkret spielt die Geschichte im Jahr 2015 und folgt der Schauspielerin Elizabeth (Natalie Portman), die in einem biografischen Film die Rolle der Gracie in den Jahren 1982 bis 1984 verkörpern soll. In jener Zeit erlangte die damals 36-jährige Gracie durch ihre sexuelle Beziehung zum 13-jährigen Joe unfreiwillige Berühmtheit.
Macht
Zwischenmenschliche Macht
Ein zentrales Thema des Films ist die Frage der Macht. Ist eine Beziehung zwischen einem Erwachsenen und einem Kind oder jungen Jugendlichen immer einer Vergewaltigung gleichzusetzen? Die juristische und gesellschaftliche Antwort bejaht diese Frage eindeutig. Ein 13-Jähriger kann die Tragweite seiner Handlungen nicht so weit abschätzen, dass er dem Sex mit einer Mitte-30-Jährigen zustimmen kann. Das Machtgefälle ist schlichtweg zu groß.
Joe ist mittlerweile glücklich mit Gracie verheiratet und Vater dreier Kinder, die älter sind, als er bei ihrer Zeugung war. Auf Elizabeths Frage, wie er sich damals gefühlt habe, als er die Tragweite seiner Beziehung zu Gracie zu verstehen begann, antwortet er, dass er die Konsequenzen seiner Handlungen nicht begriffen habe. Für ihn habe sich alles ganz natürlich angefühlt. Auch jetzt scheint Joe wenig Verantwortung für seine Handlungen zu übernehmen, und Gracie setzt alles daran, dass das so bleibt. "Das ist schon das zweite Bier", ermahnt sie ihn zu Beginn des Films, als sich Joe beim Grillfest ein Bier aus dem Kühlschrank holt. Die Regeln sind klar und von ihr aufgestellt: Man duscht sich, bevor man ins Bett geht, und das Hobby - die Aufzucht einer Schmetterlingsart - hat im Schlafzimmer nichts zu suchen.
Als Joe dann mit seinem Sohn Charlie auf dem Dach sitzt und ihm noch etwas für seinen Studienbeginn am College mitgeben will, ist es Charlie, der ihm einen Joint anbietet und lachen muss, wenn sein Vater ihm gesteht, noch nie gekifft zu haben. Nach den ersten Zügen bricht Joe weinend in den Armen seines Sohnes zusammen, und wir sind uns nicht mehr sicher, wer eigentlich Vater und wer Sohn ist.
Wenn Elizabeth schließlich Joe verführt - indem sie ihm Hilflosigkeit vorspielt und damit an seinen väterlichen und männlichen Stolz appelliert - und mit ihm schläft, sagt sie ihm: "Das ist eben, was Erwachsene so machen". Joe ist in ihren Augen kein ebenbürtiger Erwachsener, sondern noch ein Kind, dem man die Welt erklären muss.
Georgie, ein Sohn aus Gracies erster Ehe, versucht die Machtspiele zu seinen Gunsten mitzuspielen. Er bemüht sich, Elizabeth einzulullen und zu erpressen. An seinen Geschichten ist sie zwar interessiert, doch die Erpressung lässt sie kalt. Es ist offensichtlich, dass Georgie ihr in Sachen Macht nicht das Wasser reichen kann. Als Gracie am Ende Elizabeth offenbart, dass sie täglich mit Georgie spricht und seine Bluffs aufdeckt, wird deutlich, dass Georgie sich noch so sehr anstrengen kann - von seiner Mutter wird er nie loskommen.
Auch ihre Tochter Mary, aus der Ehe mit Joe, kann sich nicht gegen Gracie durchsetzen. Bei der Anprobe des Kleides für die Graduation lobt Gracie den Mut ihrer Tochter, ein ärmelloses Kleid zu kaufen und sich nicht um das Geschwätz der anderen zu kümmern. Die Absicht ist klar, und die Wahl fällt dann natürlich auch auf ein Kleid, bei dem die Oberarme weniger sichtbar sind.
Anders verhält es sich bei Honor. Schon seit Längerem ausgezogen und auf dem College, konfrontiert sie ihre Mutter bei der Graduationsfeier ihrer Geschwister damit, dass diese ihr eine Waage geschenkt hätte. Der Einfluss über die Familie scheint zu schwinden, sobald sich die Kinder nicht mehr im direkten Einflussbereich Gracies befinden.
Finanzielle Macht
Es wird nicht direkt ausgesprochen, aber die Vermutung liegt nahe, dass Gracie damals den Skandal um ihre Person finanziell auszunutzen wusste. Die Familie lebt in einem großen Haus in einer ruhigen Nachbarschaft. Ab und zu wird noch ein Paket mit Hundekot vor ihre Tür gelegt, aber das kommt nicht mehr so oft vor wie früher. "Der Pool ist noch in Arbeit", entschuldigt sich Gracie bei Elizabeth dafür, dass das Haus doch nicht so großartig sei. Joe arbeitet in einem Krankenhaus als MTA und Gracie als Kuchenbäckerin. Davon kann man sich ein solches Haus sicher nicht leisten, zumal Gracie für einige Zeit im Gefängnis war.
Die Kuchen, die Gracie backt, werden immer von denselben Personen gekauft. "Aus Mitleid", wie ihr ehemaliger Strafverteidiger sagt. Als dann ihre Freundin wegzieht und ihre große Kuchenbestellung stornieren muss, bricht Gracie in Tränen aus, obwohl diese ihr noch versprochen hat, für die bestellten Kuchen zu bezahlen. Es geht nicht ums Geld, sondern um die soziale Anerkennung.
Wahrheit
Die Suche nach - und die Inanspruchnahme von - einer objektiven Wahrheit liegt jeder Figur zugrunde. Die Frage der Authentizität muss stets beantwortet werden. Wird der Film Gracies Geschichte nun endlich so zeigen, wie sie sich wirklich zugetragen hat, anders als die Boulevardpresse vor 25 Jahren? Wie diese Wahrheit schlussendlich ausgestaltet werden soll - und mehr noch, ob es diese Wahrheit wirklich gibt - können auch die Figuren nicht beantworten.
Elizabeth bittet den Besitzer der Tierhandlung, ob sie den Lagerraum sehen kann - jenen Raum, in dem damals Gracie mit Joe erwischt wurde. "Um sich ein besseres Bild von Gracie verschaffen zu können", lautet ihre Begründung. "Bitte fassen Sie die Köder nicht an", fordert der Besitzer Elizabeth auf, und auch sonst hat der Raum - logischerweise - nichts Erotisches oder Verruchtes mehr. Dennoch setzt sich Elizabeth auf die kleine Treppe, ruft sich die Boulevardberichte nochmal ins Gedächtnis und spielt die Sexszene für sich allein nach. Ob diese tatsächlich so abgelaufen ist oder nicht, ist unerheblich.
Die Rolle der Schauspielerin an sich ist hier besonders aufschlussreich. Realismus (oder Wahrheit) wird in der Rezeption von Filmen besonders oft als Qualitätsmerkmal verwendet. Und auch in "May December" stellt sich die Frage, was der Film aussagen oder transportieren möchte, für keine der Personen. Die einzige Frage ist, ob er die Wahrheit zeigt.
Um eben dieser Wahrheit näher zu kommen, begleitet Elizabeth Gracie über mehrere Wochen und ist sogar bei der Graduationsfeier ihrer Kinder mit am Familientisch. Gracie zeigt ihr gerne, wie sie Kuchen backt oder Blumen dekoriert, bei Fragen nach Gracies Kindheit weicht sie aber aus: "Wofür musst du das wissen? Es geht doch nur um die Jahre 1982 bis 1984".
Als Elizabeth dann in Marys High-School-Theater-Club Rede und Antwort steht, wird deutlich, wie hier die Grenzen verschwimmen können. Der Klassenclown fragt sie, wie sie zu Sexszenen steht. Eine Provokation, selbstverständlich, die allerdings von Elizabeth (wahrscheinlich ebenfalls als Provokation) gewissenhaft beantwortet wird: "Spiele ich eine Person, die Lust empfindet, oder spiele ich eine Person, die keine Lust empfindet?". Gaukelt die Schauspielerin also dem Publikum etwas vor, oder gaukelt sie vielmehr der Crew hinter der Kamera etwas vor? Auf die Frage, warum Elizabeth nun jemanden Böses spielt, antwortet sie, dass sie sich vielmehr für die Komplexität dieser Figuren interessiert als für jemanden Gutes. Eine Antwort, die Gracies Tochter Mary zutiefst beleidigt. Ist Gracie nun böse oder gut?
Die Idee einer wahrhaftigen Person oder Persönlichkeit wird weiter ausgelotet durch die verschiedenen Spiegelszenen. Immer wieder sehen wir Elizabeth und/oder Gracie Monologe oder Dialoge vor dem Spiegel führen. In einer Szene bittet sogar Elizabeth Gracie, dass diese sie doch vor dem Spiegel so schminken solle, wie sie sich selbst schminkt. Damit es authentischer ist. Im Spiegel betrachten wir uns immer selbst. Selbstkritisch wird alles hinterfragt, vom Pickel auf der Stirn bis zur Lebensentscheidung, die wir vor zwanzig Jahren getroffen haben, während wir uns prüfend in die Augen schauen. In "May December" sind diese Spiegel allerdings die Kameras, die uns, dem Publikum, die Figuren zeigen. Es wird deutlich, dass wir alle im permanenten Austausch mit dem Äußeren (der Gesellschaft) sind und es diese eine authentische Person nicht geben kann.
Zur Eskalation kommt es, als Joe, nachdem er von Elizabeth verführt wurde, zu Gracie zurückkehrt und diese mit der eigenen Einschätzung der Beziehung vor 25 Jahren konfrontiert. Zuerst weicht Gracie aus und lässt weder Joes Interpretation der Ereignisse zu noch ist sie bereit, selbst Stellung dazu zu beziehen. Erst als Joe durchblicken lässt, dass ihre gemeinsame Liebe hauptsächlich ein Schauspiel ist und der Bestätigung durch das Gespräch bedarf, geht Gracie zum Angriff über: "Du hast mich verführt! Wer hatte die Kontrolle? Wer hatte die Kontrolle?". Die Wahrheit wird mit der Macht verknüpft. Durch die Darlegung (scheinbarer) Machtverhältnisse wird Joe paradoxerweise vollständig entmachtet. Dass diese Wahrheit natürlich subjektiv ist, ist uns klar, steht sie doch im Kontrast zur juristischen Wahrheit, die eine Verführung durch Minderjährige grundsätzlich ausschließt.
Fazit
Mit "May December" ist Todd Haynes ein fantastischer Film gelungen, der eindrücklich die eine objektive Wahrheit negiert und aufzeigt, wie wir permanent diesen Wahrheitsanspruch nutzen, um entsprechende Machtverhältnisse zu legitimieren. Beeindruckend ist hier vor allem auch, dass die eigentliche Szene, die sich im Lagerraum der Tierhandlung vor 25 Jahren abgespielt hat, nie im Film gezeigt wird. Lediglich die Darstellung, wie Elizabeth sie als Schauspielerin aufführt, bekommen wir in der Schlussszene zu sehen. Wie Medusa mit einer Schlange am Arm liegt sie lasziv auf der Couch und verführt den jungen Joe. Und als der Regisseur mit dem dritten Take zufrieden ist, sagt Elizabeth: "One more time. Please. This one’s for me".