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Die große Simulation

Mehr Piketty wagen /The Card Counter/Avocado mal anders

Die Ostseite des Humboldt-Forums sieht aus wie die neue Messehalle von Wiesbaden. In Richtung des Marx-Engels-Denkmals und Alexanderplatz ist das Forum kein fake Schloss mehr, als habe man aus dieser Himmelsrichtung den Spuk kommunistischer Geister gefürchtet. Die Maske einer altertümlichen Fassade, die Buckingham Palace gleicht,  sehen nur die Menschen im Westen. 

Ich habe jedenfalls noch niemanden getroffen, der dort ab und zu hingeht. Das Riesending erinnert daran, dass nicht nur die Kleinigkeiten des Alltags schief gehen können: Man vergisst seine Schlüssel, nimmt den falschen Bus oder schneidet das Kabel des Toasters durch, ohne zu wissen, warum. 

Aber auch im ganz Großen können Dinge falsch laufen, siehe Berliner 3/4 Schloss. Das Berliner Humboldt-Forum, so resümierte es die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, ist das Produkt der politischen Angst der Verantwortlichen, einer Omniangst vor allem und jedem: der Konkurrenz, der Presse, der Zukunft.

Es steht heute für eine Politik der Simulation: Die so tut, als wüsste sie, was sie tut. Die so wirkt, als könne sie wirksam sein. 

So ist das zum Beispiel mit dem Tankrabatt: Vor einem Tennisclub in unserer Nähe parken an belebten Tagen ewige Schlangen von sehr teuren, sehr viel Kraftstoff verbrauchenden Autos. Wenige Meter weiter ist eine Bushaltestelle, Takt alle 10 Minuten, auch mit dem Rad kommt man gut hin. Der Tankrabatt simuliert, es seien noch die Zeiten des billigen Benzins. In Frankreich müht sich die Regierung mit dem Ausstellen von Schecks, die ebenfalls den status quo von einst simulieren sollen. Es ist gut gemeint, aber  besser wäre ein Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft im Sinne eines new deal, eine ambitionierte Politik in europäischer Dimension. 

 

Und eine faire Verteilung der Lasten: Mehr Piketty wagen!Eine Maßnahme wie die allgemeine Erbschaft für junge Leute und eine Neuauflage des bundesdeutschen Lastenausgleichsgesetz, um die Folgen von Krieg und Krise sozial auszugleichen - das würde keine Reichen ruinieren und Druck aus dem Kessel nehmen. Aber die Angst der Ampel ist zu groß. Vor Putin, vor der Bild-Zeitung, vor der Zukunft.

In unserer Stadt ist die Kinolandschaft leider eine Katastrophe: Es gibt ein Arthouse-Kino, in dem, immer wenn ich Zeit hätte, restaurierte Meisterwerke des frühen kanadischen Kinos laufen und einige kommerzielle Buden, deren Leinwände kleiner sind als unser Fernseher.Also bin ich guter Kunde bei den digitalen Anbietern und fand ein echtes Meisterwerk, das ich im Kino leider nicht sehen konnte: 

https://www.youtube.com/watch?v=MIjB4f6IUyg (Öffnet in neuem Fenster)

Paul Schrader, der Autor von Taxi Driver und Light Sleeper, hat einen hoch politischen Film gemacht. Es geht um das Schicksal eines Veteranen des Irakkriegs – ein Thema, das derzeit so hart verdrängt wird. Um seine Erfahrungen in Abu Ghuraib, seine Schuld. Dann um Suchtabhängigkeit von Oxycontin, um Schulden und um den Versuch, im Kartenspiel wieder Kontrolle zu erlangen. Es ist eine einzige Anklage: All die großen Verbrechen des Jahrhunderts sind ungesühnt. Der Westen ist damit seinen eigenen Prinzipien untreu geworden. 

Darum geht es in dem elegischen, von einer kühlen Intimität geprägten Film, in dem es allerdings auch recht brutal zugeht. Wieder bestätigt sich das Urteil meiner französischen Großmutter.  Als der Rest der Familie gegen die USA wetterte, von wegen Watergate, Vietnam und Wall Street – konterte sie mit der Frage, woher all diese Skandale und Missstände denn bekannt seien? Aus den amerikanischen Filmen, genau. Und wo, fragte sie, ihren Triumph auskostend, sind die französischen Filme über den Algerienkrieg?

The Card Counter ist wieder ein Beweis ihrer These. (Übrigens wird hier, wie in vielen Schrader-Filmen, sehr viel nächtliches Tagebuch geführt. Diesmal mit einem robusten Lamy-Safari-Füller aus Deutschland. Tolle Firma übrigens.)

Wenn es wärmer wird und man  draußen essen möchte, Menschen auch dreidimensional und analog empfangen kann, ist es Zeit für neue Rezepte. Hier ist eines, das gut in diese Jahreszeit passt, aber in alle anderen eigentlich auch. Mit etwas Übung sollte es auch AmateurInnen gelingen. 

https://www.lemonde.fr/m-le-mag/article/2022/05/27/la-galette-d-avocat-de-cyril-lignac-j-avais-envie-que-ce-soit-manucure-que-ca-claque_6127938_4500055.html (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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