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In der langen Zeit

Die Krise des Konservativismus/Christopher Clark/ Marseille/Fabien Valos

Vor einer Lesung in Wolfenbüttel durfte ich am Donnerstag einen Blick in die Herzog August Bibliothek werfen. Leider ist sie derzeit für den Publikumsverkehr geschlossen, aber Direktor Peter Burschel machte freundlicherweise eine Ausnahme. Unter den vielen faszinierenden Dingen, die er zu erzählen wusste, war auch die Beobachtung, dass sich der namensgebende Herzog und ursprüngliche Sammler, sollte er aus dem Reich der Toten wiederkehren, hier gleich zurechtfinden würde: Am Bestand, der Klassifizierung und selbst an der Aufstellung der Bände hat sich einiges, aber nicht viel geändert. Kleine Bücher stehen oben, große unten.

So steht die Einrichtung für ein Denken, das es derzeit schwer hat: Nicht disruptiv und innovativ wird hier vorgegangen, sondern konservativ im Wortsinne: Man bewahrt hier Bücher auf, pflegt sie und ermöglicht den Zugang für immer neue Generationen von Forscherinnen und Forschern. Über Jahrhunderte hinaus und ohne an das große Geld zu denken. Ganz so, wie es die Verfasser der mittelalterlichen Handschriften, der uralten Schachbücher und alchemischen Handbücher, die hier verwahrt werden, auch hielten: Manches soll über die eigene Lebenszeit hinaus Relevanz entfalten und behalten.

Natürlich ist das nur ein Tätigkeitsfeld so einer Bibliothek, aber es ist selten genug geworden, dass man sich einfach darüber freut, wenn mal irgendwo in Stetigkeit und langer Dauer gedacht wird.

Konservativ ist vom Aussterben bedroht. Die konservativen Studienräte meiner Schulzeit und viele CDU-Politiker jener Zeit glichen sich: Sie waren stolz auf gute Noten, wissenschaftliche Glanzleistungen und bestanden auf eine Anrede mit akademischem Titel. Dann schwärmten sie von einer Natur, die sie möglichst ungestört genießen wollten und manchmal auch von ihrer Familie. Kommunisten und Popkultur lehnten sie gleichermaßen ab. So weit, so übersichtlich. Heute ist im sogenannten konservativen, teilweise auch im liberalen Lager, davon wenig übrig: Dort hält man an fossilen Technologien fest, die die Natur zerstören und muss dazu die Erkenntnisse der Wissenschaft verhöhnen. WissenschaftlerInnen und ExpertInnen sind in diesem Lager nun die Elite, die man verächtlich machen kann.

Aber löst man die mit dem Klimawandel verbundenen, wohl erforschten Folgen für Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft, wenn man sich über Luisa Neubauer oder die Klimakleber lustig macht und Robert Habeck einen Skandal andichtet?

Die extreme Personalisierung des Themas ist die einzig verbliebene Taktik für das Lager rechts der Mitte. Es ist ganz einfach: Ohne die Einsicht in die Notwendigkeit einer konsequenten Bekämpfung des Klimawandels ergibt sich keine logische konservative Agenda mehr. Was gibt es im Waldbrandgebiet, in Hochwasserkatastrophen noch zu bewahren? Einer, der das schon früh erkannt hat, einer der letzten Konservativen mithin, ist der britische König.

Um dieses fundamentale Problem zu überspielen, ersetzt man Politik durch ein Theater der Abgrenzung: Tucker Carlson, Donald Trump und ihre europäischen Anschmachter haben nichts anderes anzubieten als Bullshit Wissenschaft(Trinkt Chlorbleiche gegen Corona/E-fuels werden den deutschen Verbrenner retten)und die Verächtlichmachung von anderen. Woke und Gender sind ihre Ausgrenzungsbegriffe, obwohl die wenigsten genaue Vorstellungen damit verbinden dürften, was durch die Bekämpfung dieser vagen Ressentimentplatzhalter besser wird auf der Welt. Es ist wie auf dem Schulhof: Wer nicht dazugehört, ist doof. Und warum ist er doof? Weil er nicht dazugehört.

Einen besonders unverständlichen Kurs wählt hierzulande die FDP. Statt konsequent auf Freiheitsenergien zu setzten - so Lindners eigene Wortschöpfung, bleibt man in der Zeitschleife der siebziger Jahre, in der Autobahn und Eigenheim die zivilen Götter waren. Dabei geht die Rechnung nicht auf: Die Kosten, nichts für das Klima zu machen sind einfach viel höher als die Investition in den Wandel jetzt.

Herzog August, der sein kleines Fürstentum durch kühne Ankäufe zu europaweiter kultureller Relevanz führte, hätte das verstanden.

Vor einigen Jahren durfte ich Christopher Clark in Cambridge besuchen und an einer Vorlesung teilnehmen. Es war nicht besonders früh, aber die Studierenden kämpften noch gegen die Müdigkeit. Thema war die Revolution von 1848. Clark erzählte mir später, dass er an einem Buch zum Thema sitzt und ärgerte sich, dass er das Jahr 2018 als Erscheinungstermin nicht schaffen konnte. Aber nun ist es da, erhältlich im gut sortierten Frankfurter Bahnhofsbuchhandel. Clark macht schon gleich in der Einleitung keine Gefangenen: Die Perspektive des Scheiterns der 1848 Revolution sei undifferenziert und irreführend. Sie habe zu einer nationalen Deutung der Ereignisse geführt und letztlich zu jener unzeitgemäßen Überhöhung des Nationalstaats, die uns bis heute plagt. Und dann geht es da um all die Typen und Originale der Zeit, absolut unwiderstehlich!

Übrigens dauerte es keine 15 Minuten, bis Clark seine Studies hellwach und mitfiebernd hatte. Ich saß hinten und hatte freie Sicht auf die Bildschirme der Laptops: Textprogramme gingen hoch, soziale Medien wurden beendet.

Die deutsche Fassung „Frühling der Revolution“ erscheint im September 2023.

Nach der Lesung in Wolfenbüttel kam eine Dame in den betsen Jahren zu mir, die von einer ungewöhnlichen Reise erzählen wollte. Sie hatte immer schon nach Marseille gewollt, weil der Name der Stadt einen Zauber auf sie ausübte. Also entschloss sie sich eines Tages, zehn Tage in Marseille zu verbringen, und zwar ganz allein. Kein Tag, schwärmte sie, sei wie der andere gewesen. Weil ich Marseille ein bisschen kenne – einen Moment ist man in der südfranzösischen Provinz, im nächsten in einer mediterranen Metropole – konnte ich ihre Begeisterung nachvollziehen.

Ab dem 9. Mai widmet arte der Stadt eine Serie, die werde ich gewiss ansehen.

https://www.arte.tv/de/videos/RC-023740/marseille-mon-amour/ (Öffnet in neuem Fenster)

Der kochende Philosoph Fabien Vallos

https://www.lemonde.fr/le-monde-passe-a-table/article/2023/05/03/fabien-vallos-ce-que-j-aime-surtout-en-mangeant-c-est-sentir-une-intensite-gustative-alliee-a-une-technique-et-un-recit_6171903_6082232.html (Öffnet in neuem Fenster)

betreibt eine fröhliche Wissenschaft in Gestalt von großen Festessen mit KollegInnen und Studierenden. Basis seines Werks ist eine Sammlung von 2500 Rezepten, die er rund um das Mittelmeer gesammelt hat und in diesem Blog mit dem sympathischen Namen „devenir dimanche“ veröffentlicht

https://devenir-dimanche.org (Öffnet in neuem Fenster)

Hier ist fast jedes Rezept interessant, für den Sonntag fand ich aber dieses besonders interessant:

https://www.instagram.com/p/CGrp1gBBzNy/ (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

Ihr

Nils Minkmar

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