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Negativ

Corona/Hitler-Tagebücher/Serie Rough Diamonds/Weltmeisterschaft im Bresse-Huhn

Noch auf der Rückreise aus den Ferien fühlte ich wie einen heftigen Muskelkater und zu Hause brachte einer der letzten noch irgendwo vor sich hin verstaubenden Tests die Gewissheit und den zweiten roten Strich, der mir all die Jahre erspart geblieben war. Ich wusste ungefähr, was auf mich zukommt. Es war wie in den Geisterbahnen meiner Kindheit: Obwohl ich aus Erzählungen wusste, welche Monster und Skelette hochfahren würden, um mich zu erschrecken, war es doch ganz schön gruselig.

Offiziell ist es das nicht mehr: Rein von den Bestimmungen her, durfte ich in den Supermarkt gehen, im Chor singen dürfen oder mich hustend in die Bahn quetschen. Aber wie verantwortungslos wäre es gewesen? Die Reaktion in der Hausarztpraxis war eindeutig: Alles kam elektronisch, ich soll bloß isoliert bleiben. Profis wiegeln die Tücke und Schwere von Corona nicht ab.

Es ist eine seltsame Krankheit. Gleich zu Beginn war mir nach einer Cola. Ich habe seit Jahren keine mehr getrunken, aber plötzlich empfand ich einen Cola-Mangelzustand. Die komische Infektion (ein wenig Fieber, Müdigkeit und Muskelschmerzen) weckte Kindheitserinnerungen, an Tage mit Windpocken oder Mandelentzündung. Damals verbrachte ich die Nachmittage mit Donald Duck Alben von Carl Barks, mit Asterix und Tim und Struppi. Jetzt ging, was damals ging: Lesen. Sonst aber wenig. Wenn ich es für überstanden hielt und dachte, ich lege mich nur zehn Minuten hin, wachte ich zwei Stunden später auf. Und in den Tagen, als ich wieder negativ testete, war ich kurzatmig und langsam in allem, musste viele tolle Termine und Veranstaltungen absagen.

Eine seltsame Verschiebung: Zwei Jahre lang kannten wir kein anderes Thema, dann überfiel Russland die Ukraine und Corona war durch. Carlo Masala und Marie-Agnes Strack-Zimmermann (beide super, darum geht's nicht) nahmen in Talkshowsesseln Platz, die noch warm waren von Christian Drosten und Melanie Brinkmann (auch beide super).

Warum nicht weiterhin eine Isolationsvorschrift für Infizierte und eine Maskenpflicht in Bussen und Bahnen aufrechterhalten werden, ist nicht richtig zu verstehen. Es ist, als könne unsere doch so differenzierte und fragmentierte Öffentlichkeit nur genau ein Thema auf einmal verhandeln. Mal geht es jahrelang um Afghanistan und Irak und dann ist es, als seien diese Länder vom Globus verschwunden, obwohl nichts besser ist. Zwei Jahre lang legt die Pandemie die halbe Welt still, dann wird das Thema weggezappt, obwohl Menschen noch erkranken, leiden und die Ursachen ungeklärt sind. Die Fragen aber blieben: Was lernen wir aus der Pandemie? Wir gehen wir jetzt noch mit ihr um? Wie beugen wir einer neuen vor?

Vor vierzig Jahren tauchte die schon damals kuriose Frage auf, ob Adolf Hitler Tagebuch geführt hat. Der "Stern" hatte entsprechende Bände erworben, wollte mit ihrem Inhalt die Geschichte des Dritten Reichs neu schreiben und blamierte sich, weil es nichts als grobe Fälschungen waren. Diese bizarre Geschichte wurde immer wieder Gegenstand künstlerischer Bearbeitung, etwa in dem meisterlichen Film Schtonk von Helmut Dietl. (Öffnet in neuem Fenster)

(Ich kann in diese Geschichte immer wieder eintauchen und besonders gut gefällt mir die peinliche Rolle des britischen Historikers Hugh Trevor-Roper, der die Tagebücher für echt hielt, weil es so viele davon gab. Jahre später fiel der Mann noch durch fiese Äußerungen gegen Salman Rushdie auf und zwar unmittelbar nach der Fatwa.)

Eine besondere Faszination üben bis heute die Telefonate aus, die die beiden Hauptbeteiligten miteinander führten, nämlich der "Stern"-Mann Gerd Heidemann und der Fälscher Konrad Kujau. Heidemann hat die Gespräche aufgenommen und daher kann man an ihnen studieren, wie ein geschickter Betrüger, in diesem Falle Kujau, mit einem Opfer umgeht, das ihm so gerne glauben möchte. Zu jeder verdächtigen Entwicklung fällt Kujau spontan eine irre Story ein, die er seinem Hamburger Geldgeber auftischt und der reagiert mit wohligen Seufzern der Erleichterung: Aaah, so war das.

Wer sich dafür interessiert, sollte sich den Podcast Faking Hitler anhören, wo sehr viel von diesem Material aufbereitet wurde.

https://faking-hitler.podigee.io/ (Öffnet in neuem Fenster)

Zum vierzigsten Jahrestag hat nun auch die ARD eine dreiteilige Dokumentation realisiert, die noch in der Mediathek abrufbar ist. Der Fokus liegt hier auf dem Inhalt der von Kujau in Eile zusammen geschriebenen Tagebücher und besonders auf den Hitler exkulpierenden Passagen. Der Kujau-Führer wollte die Juden nicht ermorden, sondern umsiedeln. Es wird nahe gelegt, dass eine Verbindung zu Neonazi-Kreisen bestand, allein schon wegen des Handels, den Kujau mit Nazi-Reliquien betrieb. Falsch ist das sicher nicht. Allerdings glaubten damals - vor den Arbeiten von Daniel Goldhagen, Saul Friedländer und Christopher Browning - sehr viele Erwachsene, dass der Massenmord an den europäischen Juden das Verbrechen weniger Fanatiker war. Die Rede von Richard von Weizsäcker, die mit diesem Mythos entlarvte, wurde erst zwei Jahre später gehalten.

https://www.ardmediathek.de/video/der-hitler-fake-geschichte-einer-jahrhundertfaelschung/folge-1-jagdfieber-s01-e01/swr/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzE4NDM4Mzg (Öffnet in neuem Fenster)

Wenn man postinfektiös noch so herum dämmert, schlägt die Stunde der mediokren Kunst. Im Normalbetrieb interessieren wir uns für gute und beste Bücher, Serien und Musik, aber in einem fiebrigen oder erschöpften Status, ist man von Meisterwerken überfordert und genervt. Zum Glück ist ein Großteil künstlerischer Produktion qualitativ nur so mittel ambitioniert, man hat also freie Auswahl. Ich verfiel so auf die Netflix-Serie Rough Diamonds. Wer sich für Familienkonflikte, das Geschäft mit Diamanten, die Mafia, das Leben in Antwerpen und das jüdisch-orthodoxe Milieu interessiert, wird bestens unterhalten. Man kann es hintereinander wegschauen, ohne von großen Gedanken oder Emotionen beschwert zu werden und ist bestens unterhalten.

https://www.netflix.com/watch/81416287?trackId=14277283&tctx=-97%2C-97%2C%2C%2C%2C%2C%2C%2C81332635%2CVideo%3A81416287%2CdetailsPageEpisodePlayButton (Öffnet in neuem Fenster)

Völlig an mir vorbei ging ein kulinarisches Ereignis zur Feier des Bresse-Huhns (Öffnet in neuem Fenster). Ich habe auch immer noch nicht verstanden, ob es ein Wettbewerb um das Bresse-Huhn an sich oder speziell um ein Rezept mit Sahnesoße handelt, aber sei es drum. Es ist doch tröstlich, dass es in diesen Zeiten Menschen gibt, die sich mit Hingabe und voller Konzentration der perfekten Zubereitung der besten Hühner der Welt widmen.

https://www.dijonbeaunemag.fr/poulet-de-bresse-a-la-creme-la-recette-du-champion-du-monde/ (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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