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Vergangene Sorgen

Im Rewe stand vorgestern ein Mann neben mir und betrachtete konzentriert das Tierfutterregal. Er war weder alt noch jung, weder reich noch arm. Einfach ein Mann aus der Nachbarschaft. Dann nahm er sein Iphone aus der Tasche und setzte seine Lesebrille auf. Rief seine Frau an und fragte präzise und sachlich wie ein Chirurg während der Hirn-OP: Hat die Blacky noch Knabberstreifen?

Er nutzt die feine digitale Technologie, um die Wünsche eines Tieres zu erfüllen, das solch einen Service selbstverständlich verdient und erwartet. Diese Szene ist mir wegen der Ruhe des Mannes in Erinnerung - manchmal erkennen wir ja nur in anderen, was wir selbst gerade so treiben. Ich stand daneben und tat das gleiche, legte zwei Dosen mit Whiskas-Knabbertaschen für die Siamkatzen in den roten Rewe-Korb. Ein schöner Moment: Wir hatten gerade keine anderen Sorgen.

In die Nachrichten schaffen es solche Betrachtungen natürlich nie. Medien sind das Reich der Sorgen und Warnungen: Schrammt ein potentiell todbringender Asteroid an unserem Planeten vorbei, wird am nächsten Tag vor Zecken gewarnt. Probleme verschwinden, dann vergisst man sie. Neue treten auf, aber man vergleicht sie nicht mit den vorigen. So gerät der Fortschritt aus dem Blick.

In den Geschichten der Großeltern kam noch der Hunger vor und jede Mahlzeit endete mit der zunehmend überflüssigen Frage, ob auch alle satt sind. Häufig starben Mutter und Kind bei oder kurz nach der Geburt und der Krieg suchte die Menschen heim. Menschen mit Behinderungen wurden ausgegrenzt, oft misshandelt. Rassismus gibt es auch heute noch, aber es handelt sich um eine sozial geächtete Form des Hasses. Einst war es eine wissenschaftliche Disziplin. Antisemitismus war in Deutschland kein Grund, seinen Job zu verlieren, sondern für eine Beförderung. Der Hass auf Juden war Konsens der Eliten, geltendes Recht und Staatsräson, führte zum Massenmord. Wer nicht ins heterosexuelle Muster passte, musste ein Leben lang lügen und irrsinnige Kämpfe ausfechten – alles befeuert und befördert von Kirchen, die damals noch richtig was zu sagen hatten und ihre Macht zu oft missbrauchten.

Das ist nun anders. Am heutigen Datum im Jahr 1789 wurde das Gefängnis mitten in Paris, die Bastille, gestürmt. Die Zeitgenossen kannten nichts anderes als die Monarchie von Gottes Gnaden. Die Dreiteilung der Gesellschaft in Adel, Klerus und den Rest hielten sie für so natürlich wie den Wechsel der Jahreszeiten oder den Lauf der Sterne. Und ebenso unabänderlich. Auf vielen Feldern hat sich unfassbar viel zum Guten verändert - dank vieler unbekannter Heldinnen und Helden - so dass sich der Blick in den Rückspiegel durchaus lohnt. Es befördert die extremen Bewegungen, wenn die Aussichten immer nur düster sind und der Blick auf die Welt tiefschwarz ist. In vielen Gesprächen dieser Tage wird stets die gleiche Differenzierung vorgenommen: Privat geht es mir gut, aber die Weltlage..?

Beides ist miteinander verbunden - wenn man gute Dinge im eigenen Leben findet, darf man auch darüber reden. Ich freue mich zum Beispiel, dass die Kinder nicht mehr unter diesem dummen Problem Massenarbeitslosigkeit ihren Weg machen müssen. Dem konnte ich in der Jugend in keinem Gespräch entkommen – Geschichte studieren? Mach’ gleich Taxischein. Vor einiger Zeit begleitete ich unseren Sohn zu einer Lehrstellenbörse. Alle großen Firmen und kleinen Handwerksbetriebe der Region waren da. Die Mitarbeiterinnen verteilten Prospekte und Kugelschreiber, boten Wasser und Snacks an. Danach stellte unser Sohn fest: Papa, ich hab’ mich gefühlt wie ein König. Zu meiner Zeit hätten sie die Türen von innen verrammelt, um den Jahrgang 66 ja draußen zu halten.

Man kann sich daran freuen, dass sich erneuerbare Energien und E-Mobilität weltweit durchsetzen, vor allem in China. Es ist - noch nicht jetzt, aber bald schon - viel billiger als das fossile Zeug. Photovoltaik und Wärmepumpe werden bald die günstigste Lösung sein.

Und wenn ich an Sommerabenden durch die Stadt spaziere, riecht es wie eh und je nach Joints. Nur, dass es nicht mehr heimlich geschehen muss. Auf den Fensterbänken gedeihen die Hanfpflanzen. Die Bundesrepublik, man muss es nüchtern feststellen, ist seit der Legalisierung nicht untergegangen. Irgendwann wird auch der ganze Rest freigegeben, das organisierte Verbrechen wird sonst zu stark. Ich sehe sie schon vor mir, die Boutiquen am Görlitzer Park, wo dereinst die zu Respekt und Wohlstand gekommenen Veteranen des gepflegten Unterhaltungsrauschs ihr Bio-Kokain hinter Marmorfassaden –”Traditionsgeschäft für Opiate und Derivate seit 2024” – anbieten.

Ich möchte nichts beschönigen, viel bleibt zu tun. Nicht allen geht es gut, aber eben so vielen wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Auf so vielen, so wichtigen Gebieten gibt es kein zurück mehr und all die Kräfte, die das möchten – etwa die US-Republikaner, die Putin Fans in Europa und die Killer im Iran – sind bald vergessen wie unsere Sorgen von gestern.

Als ich zu Beginn des Jahres die große Demonstration gegen die AfD besuchte, fiel mir eine Szene auf: Die Menge versammelte sich auf dem Marktplatz vor einem Bürogebäude, in dem noch Licht brannte. Aus den bodentiefen Fensterscheiben schauten Frauen in Kittelschürzen zu uns unten auf den Platz, eben jene Frauen mit internationaler Geschichte, die die AfD loswerden möchte. Unten gingen nie gesehene Menschenmassen auf die Straße, um das zu verhindern und noch mehr - denn die ganze Abschieberei ist natürlich nur ein Startsignal für noch mehr Faschismus. Die Anti -AfD Demos waren, so schien es mir, Demonstrationen aus der Tiefe der Fotoalben: Jede deutsche Familie weiß was Krieg ist, was Nazis sind und einmal ist genug.

Möglich wurde dieser Protest durch die Enthüllungen der Kolleginnen und Kollegen von Correctiv. Tausendundeine Stunde haben uns die AfD Protagonisten leider auch in Sendungen der Öffentlich-Rechtlichen von ihrer Harmlosigkeit zu überzeugen versucht, aber nun kam die Wahrheit ans Licht. Wenn die AfD Migrationskontrolle sagt, meint sie Deportation. Wenn sie von Kultur spricht, meint sie den Kampf gegen ihr fremd vorkommende Menschen und ihre langfristige Politik folgt in Wahrheit der Ideologie vom drohenden Bevölkerungsaustausch. Nie würden sie das im Fernsehen zugeben. Nie werden sich genügend Menschen finden, dies hinzunehmen, weder in Deutschland noch in Frankreich.

Wer diese ganze Aufklärung noch einmal in Ruhe nachlesen möchte, kann dies nun in dem Buch von Marcus Bensmann tun - es liest sich spannend wie ein deutscher Gesellschaftsroman mit Gruseleffekt.

Manchmal muss man sich ein wenig durch die Mediatheken klicken, aber früher oder später findet man dort sagenhafte Sachen. Wenn man Papierkram erledigen muss, sind Dokus eine perfekte Begleitung und in diesem Fall lernt man auch eine Menge: Der feine Journalist Yves Kugelmann trifft Lea Ypi, die zu recht sehr angesagte Philosophin der Stunde, zu Erörterungen über Freiheit, Migration und Klassenfragen, aufgenommen in Albanien. Pfirsichbaum vor dem Küchenfenster, auch nicht schlecht.

https://www.arte.tv/de/videos/110190-002-A/deep-thought-das-grosse-gespraech-mit-lea-ypi/ (Öffnet in neuem Fenster)

Zu den ewigen Rätseln der französischen Gegenwart zählt die unerklärliche Trennung zwischen einem zunehmend araber-, maghreb- und islamfeindlichen Diskurs und einer multikulturellen sozialen Praxis. Der ganze Wahnsinn wird deutlich, wenn man sich die hemmungslose Liebe der Mehrheitsgesellschaft für Couscous betrachtet. Die einst aus Nordafrika importierte Mehrkomponentenspeise ist längst das Lieblingsgericht Frankreichs. Gute Adressen werden nur unter der Hand weitergegeben. Der Politiker Florian Philippot, damals beim Front National, flog übrigens aus seiner Partei, weil er ein Selfie in einem Straßburger Couscous-Restaurant gepostet hatte.

Für mich gehört dieses kommunikative, variantenreiche und internationale Gericht zu den besten Ideen, die die Menschheit hatte. Diese Dokumentation beleuchtet die sozialen, kulturellen und ökonomischen Komponenten dieser tollen Erfindung.

https://www.youtube.com/watch?v=D2DUAzAxaew (Öffnet in neuem Fenster)

Ein interessantes Huhn Rezept habe ich auch noch gefunden. Mit den Komponenten Estragon und Champagner kann eigentlich nichts schief gehen:

https://www.instagram.com/reel/C9Co3H4oyME/?igsh=aXVtODRnenIzZ3Bh (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

PS: Mit dieser Ausgabe beginnt die traditionelle Sommerpause des Newsletters und ich widme mich einem Buch. Die Ausgabe zur Rentrée ist am 25. August in ihrem Postfach.

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