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Der Sommer der Anarchie

Zum ersten Mal seit dem Sommer 1940 hat Frankreich keine ordentliche Regierung, nur noch geschäftsführend amtieren Attal und Co. Und irgendwie machen das in diesem Sommer alle nach.

Schon die Eröffnung der Olympischen Spiele, diese zugleich wagemutige wie elegante Schau dessen, was war und was sein sollte, gab den Ton vor: Der Präsident durfte nur einen einzigen Satz sagen! Wo er doch so gern redet!

Dieser Geist der wachen Zivilgesellschaft, der im politischen Patt zwischen elf Fraktionen und drei Blöcken zu isch kommt, war im ganzen Land zu spüren und selbst im Wasser.

In den Badezonen der Atlantikstrände wachen traditionell Polizisten über die Sicherheit der Menschen in den Wellen – Angehörige der Sondereinheit CRS. Doch dieses Jahr wurden alle für die Olympischen Spiele in Paris gebraucht, also übernahmen studentische Aushilfskräfte den Job auf dem Hochsitz. Das erzeugte eine völlig neue Stimmung.

Die CRS in Badehose nutzen heftig die Trillerpfeife, dirigieren die Leute und setzen ganz auf Vorbeugung. Verirrt sich ein Surfer mit Brett in den Badebereich, stürzen sich die Ordnungshüter in die Wellen, nehmen diesen crazy Mensch in den Schwitzkasten und hauen ihn mit dem Brett, bis er verstanden hat. Hunde sind verboten und laufen Gefahr, von den CRS weggebissen zu werden, denn es sind recht robuste Polizisten. Ich übertreibe, aber nur ein wenig.

In diesem Jahr konnte man Schwimm- und Surfbereiche kaum noch unterscheiden, die Rettungsschwimmer beschränkten sich aufs Rettungsschwimmen. Und auch das arg geschäftsführend. Mein Freund und Nachbar Éric geriet einmal in Schwierigkeiten, wurde von der in diesem Jahr besonders tückischen Strömung erfasst. Er schaffte es durch kräftige Wellen wieder ans Ufer, aber die Rettungsleutchen haben nix mitbekommen. Während die üblichen CRS dich schon bei leisesten Anzeichen herausfischen, beschieden die coolen jungen Bademeister dieser Saison dem guten Éric nur: C’est la mer, Monsieur.

Hunde tollten über den Strand und freuten sich des Lebens. Ich hielt Ausschau nach surfenden Hunden in der Badezone, dann wäre restlos alles klar gewesen.

Eines Tages hat auch die Müllabfuhr keinen Bock mehr gehabt und meine Tonne einfach stehen lassen. In der Hitze hatten sich schon Maden entwickelt, also habe ich alles umgepackt und die wimmelnden, stinkenden Säcke mit dem Rad zu einem amtlichen Allgemeincontainer gefahren – gehört schon jetzt zu meinen Highlights 2024.

Keine Regierung nirgends, in den Talkshows geht’s um Olympia und Frankreich ist trotzdem nicht untergegangen. Vielleicht bildet sich eine kompromissfähige Regierung, vielleicht gibt es Neuwahlen oder alle hangeln sich so durch. C’est la vie. C’est la mer.

Zu den blinden Flecken der jüngeren Geschichte zählt der Irakkrieg und die Schuld, die die USA und ihre Verbündeten damals auf sich geladen haben. Es war eine schwere Sünde gegen Völkerrecht und Menschenrechte, die Prinzipien des Westens und verlangt nach einer gründlichen Aufarbeitung. Auf die Justiz ist dabei leider nicht zu zählen, aber Medien können hier sehr wohl eine Rolle spielen. Der New Yorker hat nun in einer Podcastreihe den Massenmord in Haditha am 19. November 2005 untersucht. Damals erschossen Angehörige einer Einheit der Marines 24 Zivilisten in einem Privathaus. Völlig unschuldige Menschen. Doch nie wurde ein Marine dafür vor Gericht gestellt.

Es gelingt dem Team des New Yorkers, die Geschehnisse und vor allem die Verschleierungsbemühungen der Militärs aufzuarbeiten, und zwar auf eine sehr ansprechende, menschliche und sogar humorvolle Art und Weise.

https://www.newyorker.com/podcast/in-the-dark/season-3-episode-1-the-green-grass (Öffnet in neuem Fenster)

Wo sucht man nach der Wahrheit über das eigene Land ? Man wartet vielleicht auf den definitiven Deutschland-Roman, auf eine fulminante Serie oder das augenöffnende Sachbuch – aber manchmal findet man so eine Wahrheit eben an ganz unvermuteten Orten. Die Doku-Serie Star Kitchen mit Tim Raue hat solch eine zeitdiagnostische Qualität. Raue trifft sich mit Menschen, die hier in Deutschland hohe gastronomische Ambitionen hegen – sie möchten einen oder einen weiteren Michelin-Stern. Aber sie sind unsicher, zögern, zaudern und liegen nachts wach. Es geht in dieser Serie kaum um das Kochen oder gar um Rezepte, viel öfter taucht man ein in die Geschichte einer Familie, die Entwicklung einer Obsession und das Klima eines Teams. Lernt die komplizierten wirtschaftlichen Bedingungen der Spitzengastronomie kennen, in der der Profit über die Getränke gemacht wird.

Was, diese Grundfrage entwickelt sich, hindert technisch exzellente Köchinnen und Köche daran, eine höhere Ebene zu erreichen? Sie müssen dazu ihre Emotionen, ihre Weltanschauung, die eigene Geschichte entschlüsseln und vermitteln, aber manchmal, da trauen sie sich nicht und stehen sich selbst im Weg. Alles ist vorhanden, aber es geht nicht wie gewünscht voran. Warum? Eine Serie über das Deutschland von heute.

https://www.amazon.de/STAR-KITCHEN-mit-Tim-Raue/dp/B0CWGVRCP8 (Öffnet in neuem Fenster)

Morgen beginnt bei uns die Schule, der Alltag klopft sachte an die Tür und räuspert sich und obwohl man den Kopf noch in den Perseiden und die Füße in Sandalen hat, ahnt man schon die kurzen Abende, die frühen Morgenstunden und die Schnupfen des Herbstes. Gerade dann braucht man die Energie eines gelungenen Huhngerichts!

https://www.nytimes.com/2024/08/20/dining/five-weeknight-chicken-dinner-recipes.html (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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