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Die schöne Gegenwart

Deutsche Gründerzeit/Stefan Lambys "Ernstfall"/ Wladimir Horowitz/Alessandra Montagne Hähnchenkroketten

Auf einem Empfang klagte mir neulich ein Universitätsdozent sein Leid: Früher hob er an, und da schon wurde ich stutzig, denn er war um einiges jünger als ich früher also hätten die guten Absolventen in den Geisteswissenschaften noch die Wahl gehabt: Programmleiter in einem Verlag oder Redakteur in einem bedeutenden Feuilleton, heute aber sei alles so...anders. Arme Jugend. Ich widersprach energisch. In der alten analogen Zeit herrschte Massenarbeitslosigkeit. Vom Abitur bis zur Promotion wurde ich, wenn ich meine beruflichen Wünsche vortrug, mehr oder minder direkt ausgelacht. Stellen waren rar und wurden vor dem Ableben der Inhaber nicht umbesetzt. Und weil ich das Binnenklima der alten, von außen so bewunderten Institutionen bundesdeutschen Geisteslebens noch aus Erzählungen kenne, weiß ich auch, dass es da keinen Grund zur Nostalgie gibt.

Heute kommt es vor, dass ich die Füße auf das Fensterbrett lege und gespannt warte, dass eine Mail kommt, das Telefon vibriert und mir jemand etwas Neues vorschlägt. Ich werde selten enttäuscht. Es herrscht Gründerzeit in der deutschen Medienszene. Neue Podcasts, Kurse, Websites oder Newsletter – überall diese bemerkenswerte Energie und Agilität. Eine Marke, die bescheiden anfing, wie die medienkritische Seite Übermedien, ist heute allseits bekannt, wird respektiert und prosperiert. Als Stefan Niggemeier mir zum ersten Mal von diesem Projekt erzählte, konnte ich mir wenig darunter vorstellen – nun bin ich stolz, ab und zu dort schreiben zu dürfen. Von der Neugründung zur Institution - der Weg ist viel kürzer als in der alten Medienumwelt. In der vergangenen Woche durfte ich zum ersten Mal an der Reportageschule Reutlingen unterrichten und war vom Konzept begeistert: Medien dort machen, wo die Menschen leben, die diese Medien dann auch konsumieren. Nicht alles gelingt. Manchmal rede ich ewig und intensiv mit anderen Gründern und dann versandet das Projekt. Anderes, wie dieser Newsletter entsteht nach nur zwei Telefonaten und einem Zoomtreffen. (Beobachtung am Rande: Sachen, die von Frauen angeschoben und gemanaged werden gelingen eher als jene von beseelten Männern.)

Es ist kein Verdrängungswettbewerb: Die gedruckte Tageszeitung und das digitale Angebot ergänzen und befördern sich. Als Printjournalist kann man sich kein besseres Team und kein besseres Publikum wünschen als jene der Süddeutschen Zeitung, wo Exzellenz und Enthusiasmus Hand in Hand gehen. Natürlich gibt es auch beklagenswerte Aspekte in der Medienlandschaft: So herrscht eine Tendenz, Probleme durch Personalwechsel zu lösen und manchmal ist kaum die digitale Signatur in einer Vereinbarung eingefügt, da bekommt man schon diese Dankbar für die gute Zeit- spannende neue Aufgaben Mail der gefeuerten Person. Und wird prompt zur Altlast. So fällt es schwer, langfristige kreative Partnerschaften zu etablieren. (Obwohl ich ehrlich gestanden manche Personalien der letzten Monate mit Hurra-Rufen begrüßt habe und Ideen habe, wie manche Redaktionen durch eine bessere Führung wieder belebt werden könnten!)Die Dynamik in der Branche ist faszinierend. Viele fliehen auch vor drückenden Hierarchien, lähmenden Meetings und zeitfressenden Ritualen – und tragen so dazu bei, die Abläufe in den Medien zu modernisieren.

Deutschland ist ein Industrieland, aber auch mehr als das. Die Medien und die Kunst-und Kreativbranche verändern das Land, erweitern seine Möglichkeiten und bilden Vermögen. Das ist erst der Anfang: Eine europäische Vernetzung wird der nächste Schritt und künstliche Intelligenz wird dabei helfen, Sprachbarrieren zu überfliegen. Das Beste kommt noch.

Wenn trotz Gründerzeit keine umfassende Euphorie regiert, liegt das an der internationalen Situation. Ich gehe davon aus, dass Joe Biden wieder gewählt wird, Donald Trump in vielen Staaten gar nicht erst auf dem Stimmzettel erscheint und die Ukraine schneller gewinnt, als zu vermuten ist. Aber die letzten Jahre haben auch gezeigt, dass alles anders kommen kann. Glück kann sich wenden: Es braucht nur eine falsche Entscheidung im Kreml und wir alle werden zu Flüchtlingen.

In der Rückschau werden dann diese sorgfältigen Beobachtungen von Stephan Lamby in "Ernstfall" sehr wichtig. Das Buch ist nochmal reflektierter, auch kritischer als sein gleichnamiger Dokumentarfilm (Öffnet in neuem Fenster).

Lamby zeigt, dass hierzulande bald nach Beginn des russischen Überfalls eine große Bereitschaft vorherrschte, Opfer zu bringen, um die Ukraine zu unterstützen. Aber die Ampel, schreibt er, fürchtete die deutschen Autofahrer mehr als Putin. Und er kommt noch mal auf die Aussage von Angela Merkel zurück, die zu Protokoll gab, genau gewusst zu haben, dass Putin die EU zerstören will. Warum, fragt Lamby, hat sie dann so wenig dagegen unternommen? Nicht wenigstens elementare Vorkehrungen getroffen, was Verteidigung und Energieautonomie angeht? Das Buch ist andererseits eine Hommage an den Versuch der Ampel, unter sehr schlechten Bedingungen die Unabhängigkeit von russischem Gas zu erreichen, das Land wieder wehrhaft zu machen und Panik zu vermeiden. Lamby macht es sich nicht einfach und lädt seine Leserinnen und Leser ein, selbst zu denken und zu urteilen. Ein spannender Politiker-Thriller, dessen Ende völlig offen ist.

Nach der Lektüre des Romans Fugue Américaine (Öffnet in neuem Fenster) des französischen Wirtschafts-und Finanzministers Bruno Le Maire habe ich angefangen, die Konzerte von Wladimir Horowitz zu hören. Und irgendwie bin ich auf diesen wunderbaren, ruhigen und angemessen exzentrischen Dokumentarfilm "The last Romantic" von Albert und David Maysles gestoßen. Er zeigt uns den Künstler als Überlebenden jahrelanger Depressionen, der nun wieder arbeiten kann. Der Maestro spielt in seinem Wohnzimmer an der Upper Eastside, fährt herum und plaudert. Man könnte ihm und seiner Frau Wanda stundenlang zuhören und zusehen. Zur Welt kam Horowitz in Berditschew in der Ukraine. Am 1. Oktober wäre er 120 Jahre alt geworden.

https://www.youtube.com/watch?v=lMNkmD47j6o (Öffnet in neuem Fenster)

Alessandra Montagne wuchs in der brasilianischen Provinz auf. Über ihre familiären Verhältnisse muss man nur so viel wissen, dass sie nach der Schule Hähnchenkroketten herstellte und verkaufte, um Geld für die Flucht zu einer Tante zu sparen. Als sie viele Jahre später mit 22 in Paris ankam, war ihr Freiheitsdrang immer noch so groß wie ihre Ambition. Sie schrieb die größten Köche an, bat um Hilfe – und erhielt sie. Heute betreibt sie zwei Restaurants in der französischen Hauptstadt und wartet auf ihren ersten Michelin-Stern. Und hat Le Monde dieses Rezept verraten:

https://www.lemonde.fr/le-monde-passe-a-table/article/2022/10/20/les-coxinhas-d-alessandra-montagne-au-bresil-les-enfants-sautaient-par-dessus-la-grille-de-l-ecole-pour-m-en-acheter_6146675_6082232.html (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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