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Die gewendete Zeit

Überraschung am Mittwoch/Der wieder gefundene DeGaulle/Montaigne in Marbach

Ich konnte es kaum glauben, als sich am Mittwochabend die Nachricht vom Besuch Zelenskyis in Paris verbreitete. Noch dazu in Gegenwart des Bundeskanzlers. Ich suchte nach Livesendungen, Programmunterbrechungen und Sondersendungen, hatte aber kein Glück. (Es gab wohl etwas auf Phoenix, das habe ich aber verpasst, ich fand da nur eine Diskussionsrunde).

Nach einem langen Jahr, in dem meine beiden Heimatländer eher stolpernd und irrend in die gewendete Zeit fanden, endlich ein Moment der Wahrheit. 

Die stundenlangen Telefonate von Scholz und Macron mit dem russischen Präsidenten waren nutzlos. Schon jetzt muss man die Zeit nach ihm vorbereiten, die Anklagen auf den Weg bringen und aufhören, sich immer wieder wegen einzelner Waffenlieferungen zu verhaken. Die Ukraine kämpft für unsere Werte und ganz konkret, um Russland von weiteren Überfällen auf Nachbarländer abzuhalten. Daher sollte die einzige Aussage, was die Unterstützung der Ukraine angeht, der legendäre Spruch von Mario Draghi sein, mit dem er seinerzeit den Euro rettete: Whatever it takes. 

Wozu soll man sich detaillierter in die Karten schauen lassen? 

Als ich vor einigen Wochen in Paris war, hatte mir der Philosoph Bernard-Henri Lévy angedeutet, dass eine gemeinsame Initiative, ein kleiner medialer Coup zwischen Präsident und Bundeskanzler vereinbart worden sei und das wird er wohl damit gemeint haben. Vielleicht kommt da noch mehr?

Hat der Bundeskanzler vielleicht die symbolische Kraft von Bildern entdeckt? Es wäre nicht zu früh.

Eine historische Rede in auswegloser Lage ist Teil der französischen Geschichte geworden, der Appell von de Gaulle aus London am 18. Juni 1940. Damals überrollte das Deutsche Reich seine Nachbarländer und schien unbesiegbar. Der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten lag noch in weiter Ferne und auch die Sowjetunion verhielt sich im Rahmen des Hitler-Stalin-Pakts noch abwartend. Realpolitiker wie Philippe Pétain drangen darauf, sich mit den neuen Machthabern zu arrangieren, sein einstiger Weggefährte Charles de Gaulle aber floh nach London und hielt Reden. In der tollen De Gaulle-Biografie von Johannes Willms kann man  nachlesen, dass de Gaulle damals mental arg schwankte und von Churchill für geisteskrank gehalten wurde.Die Rede jedenfalls ging in die Geschichte ein, allerdings hat sie beim ersten Mal kaum jemand gehört und eine Aufnahme ist auch nicht überliefert.Nun haben die Kollegen von Le Monde mithilfe einer Mitschrift, die sich beim Schweizer Geheimdienst fand, von künstlicher Intelligenz und einem Schauspieler, dem großen François Morel, das Tondokument synthetisch wieder hergestellt. Was besonders auffällt, ist die Unsicherheit des damals noch völlig unbekannten Redners und an der man erkennt, wie unwahrscheinlich ein Sieg gegen Hitler damals erscheinen musste.

https://www.lemonde.fr/videos/video/2023/01/18/moi-general-de-gaulle-l-appel-du-18-juin-peut-il-etre-reconstitue_6158301_1669088.html (Öffnet in neuem Fenster)

Ich bin nun schon so lange im Feuilleton tätig, aber war in dieser Woche zum ersten Mal auf der Schillerhöhe in Marbach am Neckar. Es ist mehr eine Art Wallfahrt, denn hier befindet sich das literarische Gedächtnis des Landes. Das Deutsche Literaturarchiv, das Schillermuseum und das literarische Museum der Moderne bilden eine Trias weit oberhalb der kleinen Stadt, ein magischer Ort. Dass es diese, offenbar auch gut ausgestattete Institution in diesem  kulturell so unberechenbaren Land überhaupt gibt, grenzt an ein Wunder. Gut zu wissen, dass in einem Berg im Süden ganz analog das Gedächtnis dessen, was einmal das Land der Dichter und Denker war, nicht nur aufbewahrt, sondern so sorgfältig studiert, gehegt und gepflegt wird. Auf Einladung der Leiterin Sandra Richter unterhielt ich mich mit der Tübinger Germanistin Dorothee Kimmich über "Montaignes Katze" – , hier ist das Video:

https://www.youtube.com/watch?v=QLuMP__MjtY (Öffnet in neuem Fenster)

Der Unternehmer Pierre Charlent organisiert eine Plattform für den Vertrieb frischer Lebensmittel im Großraum Paris, vergleichbar mit unserem System der Grünen Kisten. Er hat sich, nachdem er im Studium über dem real existierenden französischen Mensafraß verzweifelt ist, der guten und regional belieferten Küche verschrieben. Sein Vorbild waren kalifornische Freunde,  alltagskulinarisch längst weiter waren. Nun bemüht er sich um Küchentraditionen, die scheinbar so gar nicht in unsere Zeit passen, wie das Sauerkraut. 

https://www.lemonde.fr/les-recettes-du-monde/article/2023/01/24/la-choucroute-la-recette-de-paul-charlent_6159093_5324493.html (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

PS: Der  Charakter dieses Newsletters scheint mir darauf zu gründen, dass ich ihn ganz frei gestalten kann. Damit ich dafür auch die Zeit habe, kann, wer es möchte, hier einen kleinen Beitrag dazu leisten:

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