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Die Coronamatte ist ab

Ein Tag als Vorzeigetouristin

Wir hatten uns nach dem Lockdown endlich wieder hergerichtet und gründlich ausgelüftet: einige Tage gegammelt, einige Zeit mit befreundeten Kolleg*innen viel Kultur angeschaut. Jetzt wollten wir auf der Rückfahrt nur noch einen schönen Zwischenstopp einlegen – im bayerischen Ingolstadt. Die Suche nach einem Frühstückscafé führte nur zu einem (für seine Trostlosigkeit) überteuerten Imbiss. Doch wie es sich für Modernisten gehört, umkreisten wir am Ende freudig klugscheißend ein Stück gute Architektur. Das brutalistische Stadttheater (Öffnet in neuem Fenster), 1966 fertiggestellt nach Entwürfen von Hardt-Waltherr Hämer und Marie Brigitte Hämer-Buro, war für uns ein Zufallsfund. Fast ein eigener Stadtteil, ein gestrandeter Wal, der sich nach Herzenslust von allen Seiten fotografieren und bestaunen ließ. Mehr Erholung geht nicht.

Mitten im Betonglück liefen wir einer Lokaljournalistin in die Füße. Ob wir kurz Zeit hätten für ein Gespräch. Sie befrage Tourist*innen für die nächste Ausgabe des Donaukuriers. Wir tauschten die Eckdaten aus: Alter und Beruf entlarvten uns rasch als klassische Kulturhipster. Was wir uns denn angesehen hätten? Wir schwärmten vom Stadttheater, vom pittoresk begrünten Beton. Sie notierte "Brutalismus" und schaute skeptisch auf. Das würden wir jetzt nicht ironisch meinen? Und schon waren wir mitten im schönsten Architekturgespräch über die Geschmäcker und Befindlichkeiten der Ingolstädter*innen. Da sei wenig Liebe zum modernen Betonklotz, der auch noch unter Denkmalschutz stehe. Das Theater brauche mehr Raum, die Architektur drängend eine Sanierung. Durch die erzwungene Coronapause war der Bau offenbar weiter ins Abseits gerückt. Der Schritt von malerisch überwuchert zu sträflich vernachlässigt ist ein kleiner.

Für ein zweites Ziel spielten wir Google-Bingo: "Kirche" eintippen, den Namen der Stadt dazu und das erste interessante Bild anpeilen. So führte uns das Internet zur evangelischen Johanneskirche – 1964 gestaltet vom Architekten Theo Steinhauser (Öffnet in neuem Fenster), um 1980 an- und ausgemalt vom Künstler Hubert Distler (Öffnet in neuem Fenster). Und, Überraschung, das Pfarrhaus war besetzt und man ließ uns freundlich in die Kirche. Einfach nur, weil wir sie schön fanden. Der Gottesdienstraum schien geliebt, eine Zeitkapsel gleich zweier Stile. Altar, Kanzel und Taufstein wiesen noch betonsichtig in die 1960er Jahre, während die Farben und weitere Details laut und vernehmlich 1980 riefen. Nach außen überzeugte der ungewöhnliche Turmquader auf dem fast schwebenden, zweigeschossigen Baukörper. Vielleicht eine kleine Auffrischung hier und dort, ohne die subtile Balance der Geschmäcker zu stören, und die Johanneskirche kann optimistisch in die Zukunft schauen.

Ingolstadt, Hindenburgstraße 55–61 (Bildquelle: stadtplanungsamt-ingoldstadt.de (Öffnet in neuem Fenster))

Dann, schon auf der Ausfallstraße gen Frankfurt, fiel ein letzter kurzer Blick auf ein Schätzchen der späten Moderne. Der Wohnriegel von 1974 hatte 1992 den Deutschen Bauherrenpreis (Öffnet in neuem Fenster) erhalten. Nicht für seine brutalistische Ursprungsarchitektur, sondern für dessen Neuinterpretation: Die Büros Thomas Sieverts/Elfinger, Zahn und Partner hatten den Sichtbeton der 1970er Jahre belassen. Stattdessen erweiterten und erschlossen sie ihn 1990 durch einen gerundeten, mehrfach gestaffelten Vorbau in Rot und Weiß. Diese Ergänzung irgendwo zwischen Bauhaus und Postmoderne war nun selbst schon wieder in die Jahre gekommen. Trotz aller Patina überzeugt das Konzept bis heute durch das klare, respektvolle Nebeneinander zweier Stile. Ingolstadt kann also doch gut mit Beton, es muss nur wollen.

Text und Bilder (oben, Mitte): Karin Berkemann, 2020; Titelmotiv: Martin Maleschka (Öffnet in neuem Fenster), 2017

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