Ein harter Tag für die Löwin

Sabine betrat die Wohnung. Als sie die Tür hinter sich schloss, lehnte sie sich kurz dagegen und seufzte. Heute war einfach ein furchtbarer Tag gewesen! Dass die Leute so kurz vor Ostern wieder dem Kaufrausch verfallen würden, wusste sie ja mittlerweile nur zu gut, aber derartige Anstürme auf ihr Geschäft hätte sie nicht für möglich gehalten. „Wir haben keine Schokoeier mehr und die Leute fragen nach dem Zitronentee!“, hatte Paulina ihr zugerufen. „Früher hatten Sie doch mal diese kleinen Pralinen mit Himbeerfüllung. Die hätte ich gerne“, bat eine alte Dame und zupfte an Sabrinas Ärmel. „Mir ist die Bruchschokolade runtergefallen!“, rief Lars schockiert. Und so ging es sage und schreibe acht Stunden lang. Als Sabine und ihre beiden Mitarbeiter die Schlacht an der Pralinentheke gewonnen hatten und die letzten Kunden mit vollen Tüten den Laden verließen, wollte sie nur noch nach Hause. Langsam zog Sabine ihre Schuhe aus und bekam das schöne Gefühl, wenn man sich selbst wieder richtig spürt. Ihre Füße reckten sich dankbar und Sabine machte gleich damit weiter Jacke, Schal und Tasche abzulegen und ihr Blick wanderte bereits sehnsüchtig zum Schlafzimmer, wo schon die Jogginghose auf sie wartete. Morgen musste sie schon wieder gleich vor Ladenöffnung im Geschäft sein. Die neue Lieferung kam und mit ihr die neue Oster-Kollektion: Schokohasen, Eierlikör und Hagebuttentee. Wer brauchte an Ostern schon Hagebuttentee!

Hatte sie wohl noch einen Schluck kalten Weißwein im Haus? Sabine brauchte nun dringend eine Erfrischung. Wieso waren die Tage so lang und die Kunden so anstrengend! Hätte sie doch nur ein paar Tage frei! Und Lars wollte nächste Woche seinen Urlaub nehmen! Sabine schnaufte. Den hätte sie eigentlich verdient! Gerade als sie es erfolgreich in die Jogginghose geschafft hatte, hörte sie es. Das Schluchzen. Natürlich konnte es nur von Corinna stammen. Hatte sie schon die ganze Zeit geweint? Sabina war so beschäftigt mit sich gewesen, dass sie es nicht sagen konnte. Schnell ging sie aus dem Schlafzimmer und ortete vom Flur die Quelle des Schluchzens: das Wohnzimmer. Sabine öffnete langsam die Tür und sah ihre 15- jährige Tochter in einem Berg von Kissen und Taschentüchern auf der Couch sitzen. Die Augen geschwollen, das Gesicht rot und angestrengt von den vielen Tränen und Gefühlen. Sie wirkte gleichzeitig erschöpft und aufgeregt. Sabine spürte einen kurzen Stich: mein Kleines!

„Hey mein Schatz!“, sagte sie sanft und flog zur Couch. „Was ist denn passiert?“, fragte Sabine und nahm Corinna in den Arm, die sich tief in ihren Pullover vergrub. Erst nach ein paar Sekunden konnte sie sich von ihrer Mama lösen und blickte mit verweinten Augen zu Sabina auf. „David“, brachte sie schließlich heraus. „Er hat Schluss gemacht!“ Das war zu viel. Corinna schüttelte eine neue Welle aus Tränen und sie drückte sich ein weiteres Mal fest an ihre Mutter. Corinna und David waren seit fast zwei Jahren ein Paar. Sabine hatte den sympathischen Jungen mit dem blonden Lockenkopf sofort gemocht. Zwischen den beiden hatte es noch nie richtig Streit gegeben. Und jetzt das? „Er, er hat jemand anderen kennengelernt. Ausgerechnet Madeleine aus der Parallelklasse!“, sprudelte es nun aus Corinna hervor, während Sabine ihr sanft übers Haar strich. Sabine spürte, wie es ihr den Hals zuschnürte! Sie fühlte sich furchtbar. Die ganze Zeit über hatte sie sich wegen ein paar Schokoeiern beschwert und ihre Tochter musste ganz allein den ersten Liebeskummer aushalten. Sabine spürte, wie die letzten Spuren des Tages ihre Macht verloren und ihr Rücken straffte sich. Die Löwin würde ihr Junges nicht allein im Dschungel der Gefühle zurücklassen! „Es tut mir so leid, Corinna!“, sagte sie und drückte sie ganze fest an sich. „Was hältst du davon, wenn ich uns Eiscreme besorge? Auf Netflix läuft seit heute die neue Staffel von Kitchen Party… oder wie wäre es mit Jurassic Park?“, fragte sie und schaute ihre Tochter an, die aus dem Berg aus gebrauchten Taschentüchern zurückschaute. „Schoko-Pekannuss und auf jeden Fall Jurassic Park“, schniefte sie. „Ich brauche jetzt dringend ein paar Männer, die von riesigen fleischfressenden Dinosauriern verspeist werden!“ Da war es. Ganz leicht, für den ungeübten Beobachter nicht zu erkennen. Aber Sabine wusste, dass Corinna gerade wieder lächeln konnte.

Die Podcastfolge, in der ich diese Kurzgeschichte vorlese und dir auch noch darüber hinaus einige achtsame Impulse gebe findest du direkt hier ;)

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Viel Spaß beim Hören!

Deine Hannah