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Der Cashmerepullover

Franziska kam kaum die Treppen nach oben. Schnaufend blieb sie schließlich vor ihrer Haustür stehen und ließ die sieben unterschiedlich großen Einkaufstaschen los. Wer hätte gedacht, dass Klamotten so schwer sein können! Nun musste nur noch der Schlüssel her. Franziska griff in ihre schwarze Lederhandtasche und versuchte in ihren dunklen Tiefen das Klappern ihres Schlüsselbundes ausfindig zu machen. Entnervt und verschwitzt wühlte sie sich durch einen Wust aus Taschentüchern, Make-Up, Handcreme, Salbeibonbons und Schmerztabletten, bis ihre Finger schließlich das kühle Metall umfassten. Sie öffnete die Tür und betrat die angenehme Kühle ihrer Altbauwohnung. Draußen waren es über dreißig Grad und sie sehnte sich nach einem Kaltgetränk und einem Stück Wassermelone. Sie schaffte die Tüten ins Schlafzimmer und ließ sie dort stehen. Die konnte sie auch später noch auspacken. Vielleicht morgen oder in ein paar Tagen. Wie viel hatte der grüne Pullover noch gleich gekostet? Auf jeden Fall war er aus Cashmere und um 50% reduziert. Sie war wirklich eine Schnäppchenjägerin. Das Glas Prosecco hatte sie sich auf jeden Fall verdient! Franzi musste jedoch erst einmal unter die Dusche, bevor sie es sich so richtig gemütlich machen konnte. Nach einer Haarkur, einem Ganzkörperpeeling und einer ordentlichen Portion Bodylotion ging es ihr schon besser. Shoppen war schließlich anstrengend. Fast so wie Sport. Bestimmt war sie dabei mehrere Kilometer gelaufen, ohne es zu bemerken. Mit dem prickelnden Glas Prosecco in der einen und dem Stück Wassermelone in der anderen Hand begab sich Franziska auf die Coach und legte stöhnend die Füße hoch. Was für ein Tag! Gerade als sie sich überlegte, wo sie heute Abend bestellen sollte, klingelte es. Ausgerechnet jetzt! Sie hatte gar kein Make-up mehr an. Doch es klingelte beharrlich an der Tür. Franziska seufzte und setzte sich widerwillig in Bewegung. Wehe, es war nichts Wichtiges! Sie riss entnervt die Tür auf und sah in das verweinte Gesicht ihrer Nachbarin Vera. „Franzi… entschuldige… aber ich bin völlig verzweifelt. Markus will die Scheidung!“

Franziska war entsetzt! Vera war so eine herzliche Nachbarin, aber dass sie ihr so etwas Vertrauliches erzählte, sagte ihr, wie drastisch die Lage sein musste! „Das tut mir so leid, Vera, komm erst mal rein“, sagte Franzi und griff nach Veras Arm, um sie in die Wohnung hinein zu bugsieren. „Kannst du bitte nach unten zu mir kommen? Ich hab die Kinder bei mir und Jakob schläft noch“, bat die immer noch schluchzende Vera und sah aus ihren blauen Augen zu ihr hoch. „Na klar. Warte kurz“, Franziska seufzte und zog sich schnell ihre Schuhe an, dann folgte sie Vera ein Stockwerk nach unten in deren Wohnung. Obwohl Vera und Franziska sich schon oft im Flur getroffen hatten und sich sogar schon mehrmals zu einem Kaffee verabredet hatten, war Franziska noch nie in Veras Wohnung gewesen. Diese war wesentlich kleiner als ihre und wirkte doch seltsam leer. Vera führt sie durch den Flur, in dem nur eine Zimmerpflanze die Stellung hielt und brachte sie ins Wohnzimmer. Franziska hatte geistesgegenwärtig die Flasche Prosecco mitgenommen und während Vera zwei Gläser holte, sah sie sich genauer um. Das Wohnzimmer war wirklich winzig. Bis auf eine Couch, einen kleinen Schreibtisch und ein Bücherregal war nicht viel zu entdecken. Alles wirkte sauber und ordentlich, aber man sah auch, dass die Möbel die besten Tage bereits hinter sich gelassen hatten. Franziska schluckte. Irgendwie hatte sie nie einen Gedanken daran verschwendet, wie es Vera und ihrer Familie wohl ging. Jetzt trennte sich Markus von ihr und sie blieb mit den vier Kindern vermutlich zurück. Kein Wunder, dass sie Franziska sprechen wollte, sie war Anwältin. „Danke, dass du dir die Zeit nimmst! Ich brauche einfach deinen Rat!“, schniefte Vera und kam mit zwei gefüllten Gläsern zurück. Sie ließ sich neben Franziska auf die Couch sinken und trank das Glas in einem Zug leer. „Er hat eine andere…nach zwölf Jahren hat er eine andere Franzi!“, flüsterte sie und Tränen liefen ihr über das Gesicht. Franziska nahm sie in den Arm und ließ ihre Nachbarin an ihrer Schulter weinen.

Nach zwei Stunden und einer weiteren Flasche Prosecco, war Franziska wieder in ihrer Wohnung. Sie hatte Vera so gut es ging getröstet und hatte ihr die Nummer eines Kollegen gegeben. Dieser war Scheidungsanwalt und Franziska vertraute seinem Urteil. Er würde Vera auf jeden Fall unterstützen. Dennoch fühlte sie sich unwohl, als sich die Haustür hinter ihr schloss. Sie sah sich in ihrer Wohnung um, die so ganz anders war als die von Vera. Sie betrachtete jedes Zimmer, jeden Gegenstand genau und fragte sich, ob das alles war. Wo war die Wärme, die Geborgenheit, die sie bei Vera gespürt hatte? Ihr Blick fiel im Vorbeigehen auf die vollen Einkaufstüten. Warum hatte sie die Sachen gekauft? Sie wusste es plötzlich nicht mehr.

Sie ging zum Telefon und wartete. „Ja, ich bin es noch mal. Vera? Ich kann morgen auf die Kinder aufpassen. Du kannst dich dann mit Peter wegen den Unterlagen treffen. Ja, kein Problem. Ich hab auch noch ein paar Bücher, die wir uns zusammen anschauen können, die bringe ich mit. Ist gut, ruh dich aus, bis morgen!“

Franziska lächelte. Wer brauchte schon einen Cashmerepulli.

Die Podcastfolge, in der ich diese Kurzgeschichte vorlese und dir auch noch darüber hinaus einige achtsame Impulse gebe findest du direkt hier ;)

Natürlich auch auf Spotify bzw. bei Apple Podcast!

https://open.spotify.com/episode/0sedQA4pLK9sQ8UO1zfNKs?si=c5a7922d62ef47b1 (Öffnet in neuem Fenster)

https://podcasts.apple.com/us/podcast/der-cashmerepullover/id1572964487?i=1000538096473 (Öffnet in neuem Fenster)

Viel Spaß beim Hören!

Deine Hannah

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