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Історія Кролика - Die Geschichte über das Kaninchen

von Natalia Mleczko (Öffnet in neuem Fenster)

Die Geschichte des Kaninchens beginnt am Berliner Hauptbahnhof am Ende des Sommers. Ein Zug steht am Bahnsteig, wartet auf die letzten Passagiere, die hastig ihre Koffer in den Zug hieven. Der Zug der polnischen Bundesbahn unterscheidet sich kaum-merklich von den deutschen Zügen. Feine Details zeigen den Unterschied, vor allem im Innenbereich. Die Einrichtung ist kantiger. Im Zug ist es dunkler. Alles wirkt etwas kühler und grauer. Ein deutlich wahrnehmbarer Unterschied ist, dass sich in polnischen Zügen viel lauter und mit viel Gelächter unterhalten wird. Die Stimmung ist im Allgemeinen gut im Zug. Junge Polen und Polinnen unterhalten sich über ihre Tage in Berlin. Schnattern fröhlich Voicemails in ihre I Phone 12 Pros. Auf den ersten Anschein wirkt es, wie eine gewöhnliche Zugfahrt. Ein Bisschen Aufbruchstimmung, für die die verreisen und gelöste Stimmung, bei denen die zurückkehren.

Eines unterscheidet diese Zugfahrt: es wird nicht nur polnisch und deutsch gesprochen im Zug, der von Berlin nach Przemysl fährt, ein für mich ungewöhnlicher großer Anteil der Passagiere spricht ukrainisch und russisch. Anders als in Westeuropa reisen Menschen in Osteuropa gefühlt seltener und nur mit einem guten Grund, entweder wegen der Arbeit, jemand ist verstorben oder wie in dieser Situation aufgrund der russischen Invasion in der Ukraine. Diese drückende Atmosphäre fährt mit im Zug. So stark wahrnehmbar und doch nicht sichtbar. Erst wenn man in die Gesichter der Kinder sieht, dann erklärt sich der Ursprung dieser Atmosphäre. Nicht jeder der Passagiere geht auf eine Reise, nicht jeder kehrt in sein wohliges Zuhause zurück, wo die Familie und eine intakte Wohnung oder ein geräumiges Haus wartet. Einige dieser Passagiere fahren in ihr Land zurück, das sich gerade im Krieg befindet. Und damit in eine ungewisse Zukunft. Wen werden die Rückkehrer vorfinden? Was ist noch übriggeblieben? Hätte man in dem fremden, aber sicheren Land bleiben sollen, in das man geflüchtet war, oder kann man wieder zurückkehren? All diese Fragen lagen schwer in den Gesichtern der Rückkehrer. 

Die hohe Anzahl an Müttern und deren Habitus durchzogen diese zweistellige Zugfahrt in das Grenzgebiet Polens. Diesen in aller Stille dargebotenen Habitus werde ich nicht mehr vergessen. Diese Frauen waren ruhig, sie sprachen fast im Flüsterton mit ihren Kindern. Wie Frauen sich in bedrohlichen Situationen verhalten. Sie wollen verschwinden, bloß nicht auffallen. Ein zutiefst weiblicher Zug. Diese Frauen sind wie unsichtbare Löwinnen. Sie kriegen jeden Schritt ihrer Kinder mit. Obwohl sie selbst keine Aufmerksamkeit erhaschen wollen. Ihre Kinder, die oft jünger als 13 Jahre alt sind können ihren Gemütszustand deutlich schlechter überdecken. Während die Gesichter der Mütter gefasst und angestrengt sind, ist der Ausdruck der Teenager deutlich leichter von deren Gesichter abzulesen. Ich saß neben einem Jungen, dessen Mutter und seine kleine Schwester hinter uns. Die Mutter war eine dieser Mütter. Sie hatte einen zarten und freundlichen Gesichtsausdruck. Wir sagten uns "Hallo" und klärten, ob der Junge nach innen sitzen könnte. Und dann schwiegen wir, weil wir uns nichts zu sagen hatten, wie Fremde in einem Zug eben. Eine etwas angenehm Situation, vor allem wenn auf beiden Seiten Sprachbarrieren bestehen. Der Junge und ich unterhielten uns während der Fahrt ein paar Mal und kurz über die Dolmetscherfunktion seines Smartphones. Sätze wie "Lässt du mich auf Toilette?" oder "Ist es nicht langweilig hier?". Kein großes Gespräch. Wie auch? Ich bin fast zwanzig Jahre älter als er, der nicht wirkte als würde gern mit einer Fremden sprechen. Ein vernünftiger Junge. Doch seine ganze Art, werde ich nicht mehr vergessen. Er wirkte so unfassbar traurig und gleichzeitig etwas abgestumpft. Er wirkte so als wollte er tapfer wirken. Tapfer für sich, seine Mutter und seine Schwester im Kleinkindalter. Und doch ist er immer noch selbst ein Kind, dass vor dem Krieg geflüchtet ist. Was diese Familie bisher erlebt hat, weiß ich nicht. Aber sein Gesichtsausdruck sagt Bedrückendes aus. Jungs in seinem Alter haben einen anderen Gesichtsausdruck - einen gelösten. In seinem Gesicht stand bereits so vieles. Während der viele Stunden andauerten Reise, schwiegen wir uns an. Jeder tat seine Sachen. 

Jeder von uns lebte sein Leben weiter. Irgendwann, nur noch ein wenige Stunden entfernt von der Endstation Przemysl, fing seine Schwester an zu singen. Sie sang auf ukrainisch oder russisch, ich kann das nicht wirklich unterscheiden, zu sehr ähneln sich die Sprachen für mich. Zusammenhanglos verstehe ich immer wieder Sätze und Wörter, da slawische Sprache sich in Vielerlei ähneln. Sie sang von einem Kaninchen - dem 'Кролик'. Ihr Gesang stach aus der ermüdenden Fahrt und die Mutter ließ das Mädchen weiter singen. Der Junge drehte sich um und hörte ihrem lieblichen Gesang zu. Ich hörte mit dem Kopf am Fenster angelehnt und mein Herz hüpfte vor Wehmut. Dieses kleine Mädchen, das den Schrecken des Kriegs zwar miterlebt, aber anders als bei ihrem Bruder, er bisher weniger tiefe Abdrücke bei ihr hinterließ. Ihr Gesang strahlte so viel Licht im Dunklen aus. So viel Hoffnung und Fröhlichkeit. Wenig später machte ich mich auf, um meinen Koffer zu holen und stand dann wenig später an der Ausgangtür. Der Blick des Jungen und meiner trafen sich. Wir winkten uns nicht zu als ich ausstieg. Ich sah ihre Hinterköpfe, die in Richtung Przemysl weiterfuhren. Zum Grenzübergang und dann weiter zurück in die Ukraine. In ihre Heimat, die jetzt seit vielen Monaten ein Kriegsgebiet ist. Wie lange diese Familie noch gebraucht hat, um endlich nach Hause zu kommen, kann ich nicht sagen. 

Wenige Minuten später, stand ich in einem großen Kaufhaus, das verbunden ist mit dem Hauptbahnhof der Stadt, in der ich angekommen bin. Dort gab es alles Erdenkliche, was man mit Geld kaufen kann. Und dort stand ich kurz und dachte in diesem warmen, zum Konsum anregendem Licht der Kaufhausbeleuchtung an das Kaninchen aus ihrer Geschichte. Und dann mischte im mich unter die Leute und den Überfluss.

Vielen Dank für den Support und das Lesen meiner Artikel.

It means the world to me :)

Kategorie Personal Stories
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