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TEXTE VOM VORHANDENSEIN

TEIL 21: VOM FESTHALTEN (UND LOSLASSEN)

I've been afraid to go forward

with you so deeply engrained
In my image (as if you could be contained)

that when i'd pray
It was only to the idea of your name
(And it sounded so much like mine)

Levi The Poet, Sanctuary Cities

Als Kind hatte ich eine Hörspiel-Kassette mit Tiergeschichten. Teils in einer form, die fast einer Fabel glichen, die anderen schlicht Geschichten, in denen Tiere vorkamen. Eine davon war eine Episode über einen hungrigen Affen, der auf der Suche nach Futter einen Kanister fand, der scheinbar randvoll mit frischen Erdnüssen war. Seine Hand passte geradeso durch die Öffnung und seine Finger schloßen sich um die köstlich duftenden Nüsse. Als er aber dann seine Hand mitsamt der Beute aus der Kanisteröffnung herausziehen wollte, stellte er fest, dass er sie, zur Faust geballt, mitsamt den Nüssen nicht durch das enge Loch bekam. Das ganze stellte sich dann als von Jägern erdachte Falle heraus. Der Kanister war zum Großteil mit Sand und Steinen gefüllt und nur ganz oben hatte man Erdnüsse darüber geschüttet, in dem Bewusstsein, dass der arme Affe zugreifen und nicht wieder loslassen würde und sich so selbst sozusagen angekettet hatte. Natürlich hätte er sich jederzeit selbst befreien können, indem er einfach losgelassen, seine leere Hand durch die Öffnung gezogen und das Weite gesucht hätte. Da er das nicht tat, wurde er am Ende von den Jägern gefangen. Leicht verstörendes Ende für eine harmlose Kinderkassette. Aus diesem oder anderen unerfindlichen Gründen, habe ich die Geschichte jedenfalls heute noch im Kopf und ich musste direkt an diese Geschichte denken, als ich mir an Ostern Gedanken über einen Satz aus dem Johannes Evangelium gemacht habe.

In der Übersetzung Martin Luthers klingt diese Szene aus dem Johannes Evangelium dann so:

„Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir: Wo hast du ihn hingelegt? Dann will ich ihn holen. Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister! Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott. Maria Magdalena geht und verkündigt den Jüngern: »Ich habe den Herrn gesehen«, und was er zu ihr gesagt habe.“ (Johannes 20, 15-18)

Ich mag den Text und die Sprache der Lutherbibel meistens sehr gerne. In diesem Fall, habe ich an Ostern allerdings den Text in der Einheitsübersetzung gelesen und bin dabei über einen Unterschied in der Übersetzung gestolpert. In der Einheitsübersetzung klingt der Text am Anfang fast identisch. Aber an der Stelle, wo Jesus zu Maria sagt, dass sie ihn nicht anfassen soll, steht dort plötzlich:

„… Jesus sagte zu ihr: Halte mich nicht fest; denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen. Geh aber zu meinen Brüdern und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott.“ 

Rühre mich nicht an oder Halte mich nicht fest? Das scheint mir keineswegs nur eine zu vernachlässigende Variante zu sein, die im Grunde dasselbe meint. Die meisten deutschen Übersetzungen oder Übertragungen folgen da aber der Lutherübersetzung. In den englischen Übersetzungen gibt es diesen Unterscheid übrigens ebenfalls. Die Kings James Bible übersetzt den Satz mit “touch me not” , wohingegen die New International Version “Do not hold on to me” und die English Standard Version sogar “Do not cling to me” daraus machen.

Jetzt ist ja diese ganze Übersetzungssache sowieso ein wenig wie das Spiel Stille Post. Das Johannes Evangelium wurde auf griechisch verfasst. Jesus hat vermutlich mit Maria aramäisch geredet. Dazu kommt, dass der Verfasser bei dieser Szene gar nicht persönlich anwesend war. Das bedeutet, jemand schreibt etwas auf, das ihm erzählt wurde und übersetzt dabei auch gleich noch in einer andere Sprache. Danach wiederum kommt jemand jahrhunderte später dazu und übersetzt diese Übersetzung wiederum in seine eigene Sprache. Fast wie wenn man einen Satz diverse Male hin und her durch eine Übersetzungsapp laufen lässt und hinterher nicht mehr ganz das heraus bekommt, was man am Anfang eingeben hat. Das alles nur, um zu sagen, dass ich es völlig verständlich finde, dass es stellenseise solche Unterschiede in den Übersetzungen gibt. Besonders im Hebräischen gibt es Worte, die mehrere Bedeutungen haben können und auch möglicherweise bewusst in ihrer Un- oder Mehrdeutugkeit von den Verfassenden so gewählt wurden. Bei der Übersetzung muss man sich dann für eine Bedeutung entscheiden und nimmt dadurch das Risiko in Kauf, die anderen mitschwingenden Bedeutungen zu ignorieren und zu verlieren.

Im Griechischen Text steht dort μή μου ἅπτου(mê mou haptou) und in der lateinischen Vulgata noli me tangere. Den griechischen Satz würde man wohl eher mit “Halte mich nicht fest” übersetzen, den lateinischen eher mit “Berühre mich nicht.”

Sicher gibt es für beide Übersetzungsmöglichkeiten gute Gründe. Sicher auch theologisch überzeugende Gründe. Mir leuchtete aber dieses harsch klingende Berührungsverbot von Jesus an Maria nie wirklich ein. Das wirkt für mich wie ein harter Bruch zu der Frage davor, als er sie fragt, warum sie weint. Und auch in der Folge, im selben Kapitel des Johannes-Evangeliums, gibt es Begegnung von Thomas und Jesus, wo diesmal Thomas explizit aufgefordert wird, Jesus ausgiebig zu berühren, um seine Zweifel zu zerstreuen.

Wie dem auch sei, ich fand dieses “Halte mich nicht fest” sehr interessant und habe seitdem ein bisschen darüber nachgedacht, was das wohl bedeuten könnte. Vielleicht ist es so ähnlich, wie die Aufforderung oder das Gebot, sich kein Bild von Gott zu machen. Im vollen Bewusstsein, dass wir ohne Bildsprache überhaupt nicht in der Lage wären, über Gott zu reden. Aber jedes Gottesbild birgt in sich die Gefahr, dieses Bild absolut zu setzen und als einzig gültige Wahrheit zu verkaufen. Dazu hat Thomas Merton einmal sehr treffend bemerkt, dass mein Gottesbild, das ich besonders betone, am Ende erstmal mehr über mich aussagt, als über Gott. Vielleicht schwingt das mit in dem Satz “Halte mich nicht fest”. Mach dir kein allzufestes, vorgefertigtes Bild, das du dann nicht mehr ändern kannst. Mach dir bewusst, dass ich anders und durch kein Bild umfassend zu fassen bin. Steck mich nicht in eine Box und binde mich nicht an die Grenzen deines Denkens. Oder wie Bonhoeffer es ausdrückte: “Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.”

Vielleicht dachte Maria auch im ersten Moment, dass nun doch alles so kommt, wie sie es sich vielleicht vorgestellt und erhofft und erträumt hat und vielleicht versucht Jesus ihr klarzumachen, dass das hier nicht ein back to normal, kein ok, weiter gehts ist, sondern dass etwas ganz neues beginnt. Das scheint er mit der Himmelfahrt jedenfalls anzudeuten.

Halte dich nicht fest am Zerbuch vergangener Träume. Schäme dich nicht für deine Tränen. Nimm dir den Raum für Trauer und Wut und Enttäuschung. Aber halte dich nicht daran fest, weil manchmal das Ende auch der Anfang sein kann. Und das fühlt sich selten nach Anfang oder Neubeginn an, wenn man noch mitten im Ende steckt. Das ist möglicherweise erst eine Deutung aus der Rückschau. Halte dich nicht fest an Gottesbildern und Vorstellungen und Ideen und Träumen in deinem Kopf, wenn das Neue schon vor dir steht. Denk größer, als es dein Denken für möglich gehalten hat. Bleib neugierig und offen. Manchmal muss ich die Hand öffnen und loslassen, um festzustellen, dass ich vorher festgesteckt habe, wie in der Geschichte mit dem Affen. So oder so, dieser Text und dieser Gedanke wird mich sicher noch eine Weile beschäftigen.

Und während ich diesen Text über das Loslassen schreibe, sitze ich auf meiner Couch in meiner Wohnung in Marburg. Diese Couch ist ein merkwürdiges Beispiel dafür, wie einem selbst Gebrauchsgegenstände irgendwie ans Herz wachsen können. Nahezu alle meiner guten Freunde und näheren Bekannten haben schon mal auf dieser Couch übernachtet. Auf diesem Möbelstück sitzend sind unzählige Gedichte, Songtexte und Podcastfolgen entstanden. An manchen Stellen sieht man noch blasse Fleckenreste von sehr gutem Wein und noch besseren Abenden mit ebenso guten Menschen. Gleich wird es klingeln und dann wird irgendeine völlig fremde Person vor der Tür stehen und diese Couch abholen und ich werde weiter machen, meinen restlichen Kram in Kisten zu packen und mich dann in einigen Tagen weiter im Loslassen zu üben. Denn das ist der letzte Text, den ich in Marburg schreiben werde. Nächste Woche beginnt für mich ein neues Kapitel und ich werde nach Wien ziehen. Ich habe oft beschrieben, dass die Worte Heimat und Zuhause irgendwie schwierig für mich sind. Irgendwie traf und trifft für mich beides nicht so richtig auf Marburg zu. Knapp drei Jahre habe ich hier gelebt, in einer unglaublich schönen Wohnung und mit richtig guten Freund*innen und Kolleg*innen, die direkt um die Ecke wohnen und mit denen ich zum Teil sogar in einem gemeinsamen Co-Working-Space gearbeitet habe. Auch dieses Loslassen fällt mir nicht leicht, obwohl ich eigentlich von Anfang an gedacht habe, dass Marburg nur eine Zwischenstation für mich sein würde. Und so schließe ich diesen Text ab, mit dieser merkwüridgen Mischung aus Melancholie und Vorfreude, Traurigkeit und Neugier und der Erkenntnis, dass Umzüge für Menschen, die sehr viele Bücher besitzen besonders scheiße sind.

To be continued…

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Lyrik beim Reflab-Festival

Im März war ich mit vielen anderen großartigen Kolleg*innen aus der Podcast-, Theologie- und Literaturwelt in Zürich beim Reflab Festival zu Gast. Ich habe dort auch ein bisschen aus meinem Lyrikband “Wir werden alle verwandelt werden” vorgelesen, u.a. das Gedicht “Heul (leise)”. Hier kannst Du in die Lesung reinhören:

https://www.reflab.ch/marco-michalzik-ich-sah-die-besten-menschen-meiner-generation/ (Öffnet in neuem Fenster)

Ansonsten findest Du den Reflab-Podcast “Abgekanzelt” auch auf allen Streaming-Plattformen.

Neue Hossa-Talk Folge mit Christina Brudereck

In unserem Podcast “Hossa Talk” sind wir jetzt wieder zu dritt. Gofi Müller, der den Podcast mit gegründet und über viele Jahre maßgeblich mitgeprägt hat, ist seit einigen Wochen wieder mit dabei. Das bedeutet, dass wir jetzt die Talks im Trio aufnehmen werden. Und dazu werden wir natürlich auch weiterhin mit spannenden und inspirierenden Gäst*innen reden. So zum Beispiel mit der wundervollen Theologin, Autorin und Theopoetin Christina Brudereck. Hör doch gerne mal rein:

https://hossa-talk.de/237-von-trotzkraft-und-hoffnungsorten-m-christina-brudereck/ (Öffnet in neuem Fenster)

MEIN NEUES BUCH

Hier kannst du mein neus Buch direkt bestellen. Wie auch schon der Vorgänger, erscheint es im wundervollen Lektora Verlag. Ich freue mich sehr, wenn ich diese Wegstrecke und diese Spurensuche mit Dir teilen darf:

https://store.ruach.jetzt/produkt/wir-werden-alle-verwandelt-werden-marco-michalzik-buch/ (Öffnet in neuem Fenster)

Liebe Grüße und bleib neugierig

Marco

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