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TEXTE VOM VORHANDENSEIN

TEIL 1: VOM SPIELEN

VOM SPIELEN

Es ist ein schweißschwangerer Hochsommer-Sonntag. Ich sitze im Innenhof der Krummgasse in Wien. Gottesdienst mit den schönen Menschen der Projekt-Gemeinde. Was in diesem Fall heute einfach bedeutet, dass wir gemeinsam essen, trinken, rauchen und reden und uns freuen einander zu sehen; erneut oder zum ersten Mal. Abgesehen vom Tischgebet braucht es an diesem Sommer-Sonntag keine weitere Liturgie, um heilige Momente zu kreieren. Wie auch sonst im Leben vielleicht. Und kreieren, herbei führen, kann man solche Momente sowieso nicht, glaube ich. Die Kinder spielen im Keller, in den eine kleine Bar eingebaut wurde und in dem sonst einige Stühle und Tische auf den Holzdielen stehen. Der gerade mit Abstand kühlste Raum in Reichweite. Verdächtig lange bekommen wir kaum mit, dass die Kinder überhaupt da sind. Dann irgendwann kommen sie aufgeregt angelaufen und laden uns zu ihrer „Show“ ein, die sie für uns vorbereitet haben. Sie lassen sich nicht abwimmeln und sind erst zufrieden, als wir alle, wie ein braves Theaterpublikum, im Kellerraum auf diversen Sitzmöglichkeiten Platz genomen haben und ihrer Performance zuschauen.

Ich erinnere mich, dass ich so etwas als Kind ständig mit meinen Geschwistern gemacht habe. Unter Zuhilfenahme von Badminton Schlägern als Gitarren und einem Haufen Stofftieren als Requisiten und Nebendarstellern, führten wir komische Mischungen aus Impro-Theater, Live-Hörspielen und Mini-Playback Show auf. Ganz ohne eine dieser Kategoriebezeichnungen jemals gehört zu haben. Ich erinnere mich, wie wenig Angst wir davor hatten, uns zu blamieren, oder dass unser Spiel das Publikum (meistens unsere Eltern) langweilen, oder nicht interessieren würde. Wir wollten etwas zeigen. Uns ausdrücken. Nachahmen, was wir gut fanden. Und aus irgendeinem Grund wollten wir das nicht nur für uns selbst tun. Obwohl wir das durchaus auch stundenlang zu unserer eigenen Bespaßung machen konnten. Aber wir wollten, dass jemand zusieht und danach sagt, dass das schön war und dass wir das gut gemacht haben.

Schau mal, was ich kann!

Bitte, schau mich an!

Jetzt sitze ich in Wien auf meinem Stuhl, 30 Jahre später und applaudiere, als hätte ich gerade die spektakulärste Inszenierung aller Zeiten gesehen. Und erkenne mich in den aufgedrehten Kindergesichtern wieder und denke, dass das selbst jetzt noch manchmal so ist, wenn ich eine Bühne betrete. Besonders jetzt nach der Pandemie und der damit verbundenen Bühnenpause ist es überhaupt nicht selbstverständlich, dass Menschen sich dafür entschieden haben, diesen Moment ihres Lebens, ihres begrenzten Vorhandenseins in Raum und Zeit, dafür zu verwenden, mir beim Vortragen meiner Gedichte zuzuhören.

Das klingt vielleicht nach Understatement. Und tatsächlich reagiere ich oft allergisch, wenn befreundete Künstler*innen sich und ihre Kunst in Gesprächen und Selbstbeschreibungen unnötig klein und unbedeutend darstellen. Noch unangenehmer finde ich allerdings das Gegenteil. Fake it, till you make it, funktioniert für mich irgendwie nicht so richtig. Ich finde kaum etwas unangenehmer, als Menschen, die sich in aller Öffentlichkeit für wichtiger halten, als sie sind. Und das dann alle wissen lassen zu müssen. Zum Fremdschämen. Aber das ist eben ein schmaler Grad zwischen Understatement und Prahlerei. Zwischen kindlich demütiger Dankbarkeit und unrealistischer Überheblichkeit. Und in dem allen lerne ich noch sehr, wie ok es ist, auf mich und meine Arbeit stolz sein zu dürfen.

„Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Reich der Himmel eingehen.“

Matthäus 18,3

Dieses Jesus-Zitat fällt mir ein, während ich über das Spielen und die fehlende Angst dabei nachdenke. Die Freude am Spielen. Die Absichtslosigkeit. Da ist keine Message, die weitergegeben werden soll. Kein kommerzieller Gedanke. Einfach die Freude sich auszudrücken und das mit jemandem teilen zu wollen. Und wahrgenommen, gesehen werden wollen: Schau mal, was ich kann! Bitte schau mich an!

Hier findest du das Video, wo ich den Text für euch lese:

https://youtu.be/kHpm4x_HzFE (Öffnet in neuem Fenster)

Und hier gehts zur Audio Version:

Schreibt mir gerne eure Gedanken zum Text. Und wir hören und lesen uns nächste Woche wieder.

Liebe Grüße aus Marburg

Marco

NEWS-NEWS-NEWS:

Es gibt ein neues Spoken Word-Video von mir, das ich mit den Freunden von Central Arts aus der Schweiz aufgenommen habe. Das Gedicht ist Teil eines größeren Filmprojekts, von dem ich Teil sein durfte und von dem ich demnächst nochmal ausführlicher erzählen werde.

Das Stück heißt "NICHTS" und ist eine Auseinandersetzung von mir mit Sprache und Worten, ausgehend von der ersten Schöpfungserzählung in Genesis 1. Schaut und hört gerne mal rein:

https://www.youtube.com/watch?v=jVj5MJhhIJM&t=22s (Öffnet in neuem Fenster)

PS. Einige von Euch bekommen diese Mail, obwohl sie nicht zur Stead-Community gehören. Das ist kein Versehen. Ihr lest diese Zeilen, weil ihr irgendwann in der Vergangenheit mit mir und meiner Arbeit verbunden wart und seid. Vielleicht hast du Lust Teil dieser Community zu werden. Das würde mich sehr freuen! Du kannst aber auch gerne einfach mitlesen und schauen, ob die Reise, auf die wir uns gemeinsam begeben, etwas für dich ist. Und wenn du gar keine Lust auf dieses Projekt hast, fühl dich völlig frei, dich einfach abzumelden. Nicht alles ist für jeden. Das verstehe ich total!

PPS. Das soll ein Community-Projekt sein. Wenn Du Fragen, Kritik, oder Anregungen hast, melde dich jederzeit sehr gerne. Ich wünsche mir, dass das hier mehr ein Gespräch wird und weniger ein Monolog.

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