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TEXTE VOM VORHANDENSEIN

TEIL 28: VON DER MÖGLICHKEIT

In diesen Adventstagen und zu Weihnachten werden vielerorts wieder die Texte und Geschichten hervorgeholt und vorgelesen, die von der Geburt eines Kindes in einem Stall irgendwo im Nirgendwo erzählen. Eine dieser Geschichten beginnt damit, dass ein Lichtwesen (möglicherweise mit Flügeln) plötzlich vor einer jungen Frau erscheint und ihr eine absolute Ungeheuerlichkeit mitteilt, zu der diese schließlich ihre Zustimmung gibt:

 „Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn wirst du gebären; dem sollst du den Namen Jesus geben. Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden“ (Evangelium nach Lukas 1,31-32). Zuvor jedoch hat sie berechtigte Einwände, ob und wie das denn überhaupt möglich sein soll. Daraufhin antwortet ihr das Lichtwesen schlicht: „Bei Gott ist kein Ding unmöglich“ (Lukas 1,37). Das scheint ihr genügt zu haben.

 „I dwell in possibility“ (Ich wohne in der Möglichkeit) – so beginnt ein Gedicht (Öffnet in neuem Fenster)von Emily Dickinson. Sie beschreibt diese bewohnbare Möglichkeit und letztlich die Poesie als ein Haus mit zahlreichen Fenstern und Türen. Einen vertrauten Zufluchtsort, aber eben keine unauffindbare Höhle, keinen hermetisch abgeriegelten Bunker. Da sind Türen, durch die ich gehen kann und Fenster, durch die ich Neues oder Vertrautes bestaunen kann. Da gibt es unterschiedliche Räume und Besuch und ein Dach so weit wie der Himmel. Den Gedanken, den Träumen, dem Hoffen, dem Formulieren sind in diesem Haus keine Grenzen gesetzt.

Kurz nach ihrer Begegnung mit dem Lichtwesen formuliert die junge Frau, Maria, ebenfalls einen poetischen Text. Magnificat wird er von manchen genannt. Er beginnt ein bisschen anders als das Gedicht von Emily Dickinson, aber zählte man die Vorgeschichte einige Verse zuvor dazu, könnte „I dwell in possibility“ durchaus auch eine passende erste Zeile für Marias Text sein. Der Anfang klingt fast wie die Komposition eines Psalms. Sie beschreibt, besingt, bedichtet (ihren) Gott als groß, machtvoll, heilig und als Retter. Sie verknüpft dabei ihre eigene Erfahrung mit den großen Erzählungen ihrer Glaubenstradition.  

Emily Dickinsons Gedicht endet mit dem Wort paradise. Mit geöffneten Händen, die immerhin die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass das Paradies berührbar, greifbar, anfassbar, erlebbar sein könnte. Marias Gedicht endet ebenfalls mit Paradies. Vielleicht nicht mit dem konkreten Wort, aber doch mit einer poetischen Beschreibung einer Utopie. Einer Zeit, einem Ort, wo Erbarmen groß und hochmut klein geschrieben wird. Wo die Mächtigen vom Thron gestürzt und die Niedrigen erhöht werden. Wo die Hungernden beschenkt werden und die Reichen leer ausgehen.

Ein politisches Gedicht am Anfang der Weihnachtsgeschichte. Machtkritisch, revolutionär, fast umstürzlerisch, was Maria in ihrem Gedicht nicht nur neben den Ausdruck ihres Gottesglaubens stellt, sondern als Hoffnung, die sie konkret daraus abzuleiten scheint. Mystik und Widerstand, wie es Dorothee Sölle nennen würde. In Zeiten zunehmenden Nationalismus, Turbokapitalismus, Missbrauch, Abschiebephantasien und geschlossener Grenzen umso beeindruckender, was diese junge Frau als Möglichkeit formuliert. I dwell in possibility.

 Und ich…

 …ich wohne im Vielleicht, im Zwischenraum von Ja und Nein. Ans Geländer der Brücke gelehnt zwischen Hoffen und Hinnehmen.

Ich wohne in guter Nachbarschaft von Zweifeln und Staunen. Beide versuchen regelmäßig mich zu besuchen. Manchmal bin ich aber unterwegs.

 Ich möchte in der Möglichkeit wohnen, dass Veränderung vorstellbar ist und meistens im Kleinen und Unscheinbaren beginnt.

 Ich möchte in der Möglichkeit wohnen, dass kein Thron und kein Machtsystem für alle Zeit unstürzbar zementiert bestehen bleibt und alles so bleibt, weil es schon immer so war.

 Ich möchte in der Möglichkeit wohnen, wo Fragezeichen die Räume weiten und Zeilenzwischenräume und Schweigen zum Verweilen einladen.

 Ich möchte in der Möglichkeit wohnen, in der Offenheit, in der Neugier, im Hinhören, im Dialog, im Ausprobieren, im ALLES prüfen und das Gute behalten.

 Ich möchte in der Möglichkeit wohnen, dass manchmal Licht wird, wenn jemand (einfach) ein Wort spricht.

 Ich möchte in der Möglichkeit wohnen, dass ich so ein jemand für einen anderen jemand sein kann und umgekehrt. Manchmal ohne es jemals gewusst zu haben.

 Solange du atmest, bist du noch da und solange du da bist, wohnst du (vielleicht) in diesen vier (oder wie vielen auch immer) Wänden und unter diesem geheimnisvoll weit ausgedehnten Himmelsgiebeldach der Möglichkeit.

 Wir wohnen in der Möglichkeit.

NEWS- NEWS- NEWS- NEWS- NEWS

DIE GERADE LINIE IST GOTTLOS PT. 1

Taaadaaa! Darf ich vorstellen? Das Cover unserer neuesten Veröffentlichung aus dem Hause #poetrymeetsbeats, die im Januar das Licht der Welt erblicken wird. Dahinter verbirgt sich eine neue EP mit 3 neuen Spoken Word-Tracks. Sie trägt den Titel: DIE GERADE LINIE IST GOTTLOS PT. 1: HEUL (LEISE) und bildet gewißermaßen den Auftakt zu einer dreiteiligen Serie von EPs, die wir über das kommende Jahr veröffentlichen möchten. Uns war es besonders wichtig diese Neuigkeiten zuerst hier mit Dir zu teilen, bevor wir das Projekt über die offiziellen Kanäle vorstellen. Das werden wir auch mit den folgenden Releases so machen. Das heißt, hier liest du es immer zuerst, wenn es etwas Neues gibt.

Der Titelsatz ist ein Zitat aus dem Verschimmelungsmanifest gegen den Rationalismus in der Architektur (Öffnet in neuem Fenster) des österreichischen Künstlers Friedensreich Hundertwasser. Seit ich diesen Satz zum ersten Mal gehört habe, habe ich ihn mit mir herumgetragen und gewusst, dass ich irgendwann einmal etwas damit machen möchte. In meinem Gedichtband “Wir werden alle verwandelt werden” kommt er als Zitat in mehreren Texten vor. Und da wir einige dieser Texte jetzt vertonen, erschien es mir passend diesen Satz dann auch als Titel für diese Reihe zu verwenden. .Ich glaube, ich mag diesen Satz so gerne, weil er sich für mich direkt so wahrhaftig anfühlt. Weil er irgendwie ausrückt, dass es beim göttlichen nicht um Perfektion und Stringenz geht. Dass da Heiliges und Heilsames gerade in den Brüchen und ungeraden Umwegen des Lebens liegt. Vielleicht sogar, dass das Göttliche eher immer wieder in den Unterbrechungen der geraden Linien von vorhersehbaren Grenzlinien in Denk- und Glaubenssystemen zu finden ist. In umgeworfenen Tischen auf der einen Seite und Tischgemeinschaft auf der anderen Seite mit Menschen, die man dort vielleicht am wenigsten erwartet hätte. Ich bin keine gerade Linie. Ich bin ein Mensch voller Widersprüche, der das eine sagt und das andere heimlich hofft. Der das eine vorgibt zu glauben und dann handelt, als sei er vom Gegenteil überzeugt. Auch mein Glaube ist keine gerade Linie. Vieles hat sich sehr verändert. Vieles wird sich weiter verändern. Hoffentlich.   

Ich habe es sehr geliebt, endlich wieder mit Manu im Studio zu sein und an neuen Stücken zu arbeiten. Aber natürlich ist das neben all der Freude und Begeisterung auch eine Investition, die wir durch Streams auf Spotify & Co niemals wieder reinholen können. Im Grunde ist es tatsächlich so, dass wir und sämtliche Musikerkolleg*innen enorm viel investieren, um ein Produkt herzustellen, dass wir dann mehr oder weniger verschenken. Deshalb möchte ich dir gerne fünf Möglichkeiten vorstellen, wie du mich und uns grundsätzlich und besonders bei diesem Projekt unterstützen kannst:

  1. Werde Teil meiner Steady-Supporter

    Damit machst du nicht nur diese Texte möglich, sondern unterstützt auch mein Schreiben und Kreatives-Arbeiten allgemein. Das geht ganz einfach, indem du zum Beispiel auf folgenden Button klickst:

  1. Werde Manus Steady-Supporter

    Dasselbe kannst Du auch bei Manuel Steinhoff machen. Auf seiner Steady-Seite veröffentlicht er regelmäßig Updates zu seinen Produktionen und Projekten, gerade vor allem zu der großartigen Musik seiner Frau “Monyana Yole” (Öffnet in neuem Fenster). Hier geht es direkt zu Manus Steady Seite:

    https://steadyhq.com/de/manuundrose/posts (Öffnet in neuem Fenster)

  2. EP kaufen

    Es wird zum Release die Möglichkeit geben, die EP auf meiner Webseite käuflich zu erwerben und herunterzuladen. Außerdem wird es auch in einigen Online-Stores möglich sein, die EP nicht nur zu streamen sondern eben auch zu kaufen. Beides hilft sehr.

  3. Gigs buchen

    Manu und ich wollen gerne im nächsten Jahr wieder mehr mit #poetrymeetsbeats unterwegs sein und die neuen Stücke auch live vor Publikum performen. Wenn du Interesse hast oder jemanden kennst, für den das spannend sein könnte, schreib gerne eine Mail an info[at]marcomichalzik.com

  4. Sharing is caring

    Und natürlich hilft es auch sehr, wenn du die EP über deine Kanäle teilst und den Menschen in deinen Netzwerken davon erzählst.

Vielen Dank, wenn du den langen Text bis hierhin gelesen hast. Wir freuen uns sehr auf die gemeinsame weitere Reise mit dir <3

PS. Die Steady-Supporter bekommen übrigens in den nächsten Tagen noch eine zusätzliche Mail mit dem Download-Link zur neuen EP. Exklusiv und vorab, einen knappen Monat bevor sie offiziell veröffentlicht wird. Als kleines Vor-Weihnachtsgeschenk und besonderes Dankeschön von uns für Euch <3

Bist du dabei?

VIER POETISCHE EMPFEHLUNGEN

Vielleicht erinnerst du dich noch an Teil 11 dieser Textreihe “Vom Verbundensein (Öffnet in neuem Fenster)” (ansonsten kannst du ihn im Archiv jederzeit nachlesen). In besagtem Text habe ich davon erzählt, wie wichtig mir Kollektive und der gemeinschaftliche Aspekt beim Schreiben und Kunstschaffen ist. Und ich habe von enigen wundervollen Menschen erzählt, die ich durch und über das Schreiben kennen lernen durfte und die über die Jahre von Kolleg*innen zu Freund*innen geworden sind, die miteinander Höhen und Tiefen, Erfolge und Enntäuschungen, Texte und Leben teilen und mit denen ich mich sehr verbunden fühle. Zu dieser besonderen Gruppe von Menschen gehören u.a. Micha Kunze, Jasmin Brückner, Tabitha Hanan und Leah Weigand.

Alle 4 haben in letzter Zeit hochspannende und wie ich finde ganz grandiose neue Texte veröffentlicht. In ganz unterschiedlichen Formen und Medien. Gedruckt, in Buchform, aufgenommen und mit Musik performt und als Bewegtbild-Kunstwerk in Poetry Clips.

Vielleicht hast du in den Tagen zwischen den Jahren (merkwürdige Formulierung) ja Lust dich ein bisschen mit lyrischen Texten zu beschäftigen. Hinzuhören, reinzulesen und in inspirirende Gedanken- und Gefühlswelten einzutauchen - dafür habe ich hier vier ganz besondere Empfehlungen für dich:

1. LILA KATZE / MURPHY WAR EIN OPTIMIST / BRIEFFRAGMENT II von Micha Kunze

Micha veröffentlicht demnächst ein neues Spoken Word-Album und hat vorab schon drei fantastische Stücke vorgelegt. Unter den Covern habe ich dir jeweils die Audio- und Videoversion verlinkt, denn Michas Poetry-Clips auf Youtube sind wirklich besonders sehenswert. Aufwengig inszeniert und grandios produziert fürgen sie den ohnehin schon tollen und bisweilen fast schmerzhaft ehrlichen Texten noch eine visuelle Ebene hinzu, die in diesem Genre ihresgleichen sucht.

“Es braucht noch seine Zeit, bis du verstehen kannst, was ich meine. Die Schuhe der anderen passen dir auch - doch es sind nicht deine.”

- Micha Kunze - Brieffragment 2

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  1. TAHLEQUAH von Jasmin Brückner

Endlich, endlich, endlich gibt es Jasmins Poesie nicht nur live auf Bühnen zu hören, sondern auch aufgenommen und von Kilian Mohns großartig musikalisch in Szene gesetzt. Ein Stück über die Endlichkeit, die Trauer und den persönlichen und gesellschaftlichen Umgang damit. Ich will Trauerkollektive und Wehklagenräume, in denen Menschen schreien und weinen und schweigen und fragen können.

Ich will meiner Trauer ein Haus bauen können, in dem ich leben darf und all der Schmerz auch. Ich wil gesetzliche Trauertage - so viele, wie ein Herz eben braucht.

- Jasmin Brückner - Tahlequah

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  1. ICH SEH ROT von Tabitha Hanan

Ich hatte in diesem Jahr die große Freude und Ehre die Texte dieses wunderschönen Kunstbuches von Tabitha lektorierend zu begleiten. Texte über Wut und den Umgang mit ihr, aber auch immer wieder über Themen und Ungerechtigkeiten, an denen sich die Wut entzündet. Eine lyrische Entdeckunsreise durch das Feld einer Emotion, die wir alle zu kennen glauben und die dennoch so viel facettenreicher und überraschend besser ist, als ihr Ruf es gemeinhin vermuten lässt. Unbedingt reinlesen!

“In mir lebt ein großer runder Feuerball.

Er sitzt mir mitten in der Brust.

Manchmal glüht er auf, meistens lodert er vor sich hin.Er war nicht schon immer da, gewachsen ist er mit der Zeit und den Ereignissen, mit dem Wissen,

dass es Feuer in mir geben darf.”

- Tabitha Hanan - Großer runder Feuerball

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  1. EIN WENIG MEHR WIR von Leah Weigand

Eines meiner absoluten Highlights in diesem Jahr war die Release-Lesung von Leahs Buch “Ein wenig mehr Wir” in Berlin. Das war nämlich auch so ein besonderer Verbundenheits-Moment, weil Leah an diesem Abend nicht einfach nur ihr Buch vorgestellt und daraus gelesen hat, sondern die Bühne mit Micha, Jasmin, Tabitha und mir geteilt hat und uns an diesem besonderen Moment hat teilhaben lassen.

Dass dieses Buch nicht nur eine unbedingte Empfehlung, aber bei weitem kein Geheimtipp ist, verrät allein schon die Tatsache, dass dieser feine Lyrik-Band zum SPIEGEL-Bestseller geworden ist. Aber vor allem sind es Texte einer Poetin, die unglaublich fein beobachtet, achtsam hinschaut und die kleinen Momente des Alltags feiert, die sonst allzuleicht übersehen werden. Ein zutiefst menschliches Buch. Verse vom Verbundensein. Ganz große Empfehlung meinerseits!

“Man spricht viel über mich, was ich will und wer ich bin. Doch was ich bin, ist Liebe - vielleicht reicht das zu Beginn.”

-Leah Weigand - So wirklich hell ist es nicht

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Ich wünsche dir viel Freude und Inspiration mit den Empfehlungen und freue mich schon auf das nächste Jahr und das gemeinsame Nachdenken über Texte, Themen und die eine oder andere theologische

Liebe Grüße aus Wien und lichtdurchflutete Feiertage

Marco
Kategorie Texte vom Vorhandensein

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