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Träume in Serie - zwei Abende mit dem genialen Rumpelstilz Bob Dylan

Ausgerechnet zum Platz der Mitfahrzentrale, wo wichtigtuerisch die Tempel mannigfaltigen Konsums und Zerstreuung die Hälse recken, wo Berlins Gesicht sich vollends aufgelöst hat in der kapitalistischen Internationalen der Sicherheitsarchitektur, setzt nach 2022 und 2019 an drei Tagen des Jahres 2024 noch einmal ein Pilgerstrom zum womöglich letzten grossen Poeten ein. Zum Ersten unter Gleichen, zu diesem Giganten von zierlicher Gestalt, zu Bob Dylan. Im Gegensatz zu den wunderbaren Venues in den USA, wo Dylan in alten Vaudeville Theatern auftreten kann, betritt man in Berlin eine Szenerie, die einem Flughafen ähnlicher sieht als einem Musiksaal. Wahrscheinlich aber sind wir tatsächlich alle Passagiere. Von diesen Liedern, mit denen wir Expeditionen zu  unbekannten, entlegenen Gebieten unseres Geistes unternehmen können. Ich bin am ersten und dritten Abend zugegen. Die beiden Shows unterscheiden sich qualitativ etwas, wohl den Kaprizen des Künstlers geschuldet, die er sich auch mit knapp 83 Jahren tapfer und in kleinster Weise betagt erhält. Die Setlist bleibt gleich. Sie markiert im Rahmen dieser nach dem letzten Album benannten „Rough and Rowdy Ways“-Tour eine Art optimierten Schlusspunkt hin zum „Schlüsselroman in Konzertform“. Zwischen allen Songs des letzten Albums tauchen ikonographische Stücke wie „It‘s All Over Now, Baby Blue“ oder „Desolation Row“ auf, beendet wird das Erlebnis mit dem spirituellen „Every Grain of Sand“, einer Konstanten seit Tourbeginn.

Das Licht geht aus und zwischen den vier Mitgliedern der Band, gelangt der Maestro quasi unerkannt zum Hocker hinter seinem Flügel. Wo jeder Showstar von diesem Format den eigenen Auftritt  schon als ersten Climax mit Scheinwerferlicht und Trommelwirbel, bei den „British Badboys“ auch mit Pyrotechnik inszeniert, spazieren hier im Halbdunkel fünf schwarz gekleidete Gestalten zu ihren Arbeitsgeräten und werfen die Maschine an. Eine Maschine die sich nun entpuppt als sehr gut erhaltener, wie ein Katze schnurrender  Doppeldecker der sich - „Along the Watchtower“ - auf die Startbahn begibt und alsbald abhebt ins Reich der Schatten und (Alb)Träume.

Neben den Songs sind an beiden Abenden Fixpunkte in den Details festzustellen: Dylans Verzierungen mit der E-Gitarre bei den ersten beiden Songs. Die neuen Fertigkeiten im einhändigem Pianospiel, bei gleichzeitigem Halten des Mikrophons mit der anderen Hand, wobei beide Hände beide Tätigkeiten ausüben können. Immer wieder Ordnen und Blättern in den auf dem Flügel gestapelten Textblättern, mitunter während des Gesanges, gerade so als würde die Buchhaltung des Abends dabei erledigt werden. Legeres Anlehnen und Aufstützen am Flügel, gerne, wenn es in den Songs besonders blutrünstig zu und her geht. Zahlreiche Gänge in die Bühnenmitte zur Untermauerung der Bekenntnisse (was diese Songs immer mehr werden)  und zur Maximierung der Hinwendung zum Publikum, das dies mitunter jubelnd, mindestens jedoch mit Szenen-Applaus zur Kenntnis nimmt. Ausgiebiges Drapieren und sonstiges Hantieren mit dem Kabel des Mikrophons. Vermehrtes Spiel auf einem seitlich links neben dem Flügel aufgebauten elektrischen Piano, von fachkundigen Fans als Nord Electro 6 Keyboard erkannt. Die Fahrlässigkeit, beim Hinlegen des Mikrophons auf den Flügel, ein lautes Plog-Geräusch in Kauf zu nehmen. Schließlich das seit den 60er Jahren nicht mehr in dieser Virtuosität und Intensität gehörte Mundharmonikaspiel. Am Programmatischsten scheint mir jedoch eine Auslassung zu sein, die ich beim ersten Abend noch als Versäumnis interpretiert habe, die sich bei der Wiederholung am zweiten Abend jedoch als Fingerzeig herausstellte. „I Contain Multitudes“ beendet er mit „I contain“. Ich beinhalte. Ich befülle mit meinem Wesen und meiner aus meinem geöffneten Geist fließenden Kunst auch das leere Gebäude hier, das so leer ist wie dieses ganze Mitfahrzentralen-Viertel, selbst wenn draussen zwei milchgesichtige Zauberer einen billigen Budenzauber aufführen. Ihr könnt sie begraben, diese Knallköpfe, ich bin hier derjenige, der Stroh in Gold verwandelt. Ich bin der Feind des ungelebten, sinnlosen Lebens, dass euch von solchen Bubis schmackhaft gemacht wird. Filmt von mir aus eure bunten Sensatiönchen mit euren Apparätchen, mich werdet ihr nicht filmen, wenn ich euch mein Innerstes zeige. Das braucht ihr auch nicht, denn ich bin nicht der, den ihr auf euren Filmchen sehen würdet. Das bin nicht ich. Da kann ich nur lachen, Dignity never been photographed. Lasst euch einfach ein auf diese Reise, auf diesen Flug in die Schattenwelt und nehmt mit, was ihr versteht und auch das, was ihr nicht versteht! Ich brauche dafür nur eine Handvoll Songs, ein paar Lampen und vier, allerdings sehr, sehr gute Musiker. (Natürlich sind diese Songs keine Petitessen. Es sind 17 grossartige Songs aus einem Fundus von über 300; nicht eben eine Kleinigkeit.)

An beiden Abenden entspinnt sich eine Bilderwelt aus Stimmungen und Zuständen, ganz aus der Innenwelt des Sängers und den ihn beeinflussenden Vorlieben geschaffen und gerade deshalb transzendierend. Der Schwarze Reiter erscheint, mit ihm geistert Ennio Morricone durch den Saal und schon ist die Szenerie eines staubtrockenen Westerns erschaffen. Einen Song später, beim Zusammenbau der ureigenen Version eines neuen Gegenübers klingt die Band wie von Angelo Badalamenti für einen David Lynch Film gebucht. Vorher ist das ersehnte, noch immer zu malende Meisterwerk mit einem entfesselten Bossa-Nova Arrangement beschworen worden, das aus den Nacht-Clubs des vorrevolutionären Havanna zu dringen scheint. Ein Kopfnicken liegt zwischen Jacques Offenbachs schwelgerischem Wiegen und Chuck Berrys mitreißendem Groove. Alles fließt, alles gleichzeitig. Die Virtuosität und Leichtigkeit mit der aus diesen kollektiven Bewusstseinszuständen zitiert wird, ist mitunter atemberaubend. Es entstehen maximale Dichte und Intensität mit dieser Verschmelzung von Dylans Poetologie und den Versatzstücken der ihn beeinflussenden popkulturellen Phänomene.

Wenn Postkarten von den Gehängten verkauft werden und die Wahrsagerin ihre Werkzeuge reingetragen hat, kann auch auf das eigene Schaffen verwiesen werden: „Desolation Row“ bezieht sich mit dem nach vorne drängenden rollenden Schlagzeug auf das nur einmal eingespielte „Series Of Dreams“ und damit ist jede Zeile ein Ausschnitt aus einem seltsamen Traum. Wenn der Sänger dann noch, in die Mitte der Bühne getänzelt, die Mutter der Musen anruft, sie möge doch für ihn und sein Herz singen und daraus dann den Bogen zu der jüngeren Zeitgeschichte schlägt, ist das schlicht ergreifend. Einer der größten Künstler der Gegenwart bittet darum, sich in den Armen der Inspiration kurz ausruhen zu dürfen, er reise mit leichtem Gepäck und sei auch bald zu Hause. Wer nach solchen Momenten mehr Plauderei mit dem Publikum, Ansagen oder Storytelling wünscht, hat nicht verstanden, dass die größte Zuwendung eines Künstlers zum Publikum durch sein Werk entsteht.

Bleibt zu erwähnen, das die dritte Show in Berlin (für mich der zweite Abend) die volle Wucht dieser Kunst entfaltete, während die erste Show, von einer gewissen Fahrigkeit geprägt, langsamer Fahrt aufnahm. Hochkonzentriert und extrem aufmerksam versuchte die Band alle Unsauberkeiten und Eruptionen von Dylans Spiel und Gesang aufzufangen und abzufedern. Seine Taktiken der Frischhaltung des Liedgutes, durch Rhythmisieren oder Zerdehnen griffen nicht immer, führten manchmal zu Entgleisungen. All das war bei meinem zweiten Besuch, der dritten Show, wo auf dem Vorplatz die bereits erwähnten Zauberer-Brüder eine Art Vorschau auf ihr in der grossen Arena stattfindenden Show darboten und am Ende bizarrerweise gleich nochmal, all diese Unzulänglichkeiten spielten jetzt so gut wie keine Rolle mehr. Das Rhythmisieren mit dem Piano (im Grunde seit je ein Perkussionsinstrument) erfrischte und frischte auf, setzte gut durchdachte Akzente, die Band konnte freier aufspielen, Bob Britt und Doug Lancio, die beiden Gitarristen, warfen sich verspielt immer wieder Bälle zu oder griffen Dylans Pianophrasen auf, Jim Keltner bildete ein solides Fundament innerhalb dem sich frei bewegt werden konnte, wobei er mit unglaublicher Finesse den Pfad für jeden Tempowechsel offen ließ, ganz im Sinne des Flusses der Shows und Tony Garniers Bass erfüllte noch die düstersten und verhärmtesten Ecken dieser Poesie mit Wärme.

Seit nunmehr 40 Jahren bin ich zur Stelle, wenn Bob Dylan aufspielt. An diesen beiden Abenden leuchtete das Gemälde seines Rock n’Rolls, dem er alle nur mögliche Tiefe gegeben hat, in einer ungeahnten und noch nie erlebten Pracht.