Roggenmuhmenschreck
Roggenmuhmenschreck
Nicht nur Gisela ist damals verschwunden. Damals, in der Nebelzeit zwischen Kindertollerei und Erwachsenenernst. Auch Barbara war eines Tages wie vom Erdboden verschluckt. Gut zwei Jahre zuvor. Am Spättag der Sonnenwend. Durchs Dorf waberten bald Gerüchte, als alles Rufen und Suchen ohne Antwort blieb. Vermutungen. Argwohn. Schuldworte. Die immer schneller gesprochen wurden. Geschleudert. Geschrien. Gewütet. Und nur einen Namen trugen: „Der alte Wilhelm!“ Entschlossen scharrten sich die Männer und Frauen zusammen. Noch im Morgengrauen. Zogen zu seiner Hütte im Erlenbruch. Flinte, Bockbüchs und Axt geschultert. Die Hunde geschnallt. Fanden den Alten. Aufgeknüpft. An starkem Birkenast. Durchwühlten seine Behausung. Querstöberten die Lichtung, die sein Zuhaus. Ohne fündig zu werden. Von Barbara keine Spur. Gesenkte Schultern kehrten heim. Verzweiflung klopfte an die Türen. Stunden darauf dann die Polizei. Eine Hundertschaft harkte das Land. Hubschrauber kreisten. Kripomänner telefonierten. Geheimnisvollwichtig.
Doch war es Lothar und mir vorbehalten, den Kranz zu entdecken. Kornblumen, Mohn, Kamillenkraut. Vertrocknet. Mit Blondsträhne durchwirkt. Ein, zwei Tropfen Rot. Weniges darauf hielt ich sie im Arm. Am Rand des großen Schlags von Baumgarten. Nahe dem Hasenwinkel. Blass war sie. Verwirrt. Zerkratzt. Die Lippen zerbissen. Leise entwich ihnen ein „De Roggenmöhm. De Roggenmöhm.“ Zitterzart. Tränenfeucht. Mehr sagte sie nicht. Nie wieder. Bis zum heutigen Tag. Ich besuche sie manchmal. In der Kreisstadt. Im Heim. In falscher Barmherzigkeit. Ob Barbara mir einst anvertrauen wird, was ihr geschehen? Wem sie begegnete, ahne ich wohl. Denn ich kenne Frau Muhme. Ihr Gerstergelbhaar, das schleiergleich über die Felder webt. Höre Tonspiel im Innenohr; ihren Wechselchor von Lockung, Schimpf und Fluch. Spüre den Schatten des Windes, wenn ...
