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Sommer/Produktivität

Der Sommer kommt langsam. Ich kann ihn schon riechen. Ich denke an meinen letzten Sommer, den ich bei meiner Großmutter Edda verbracht habe. Denke daran, wie mich die Aussicht auf einen langen, heißen Sommer allein in Gesellschaft meiner fast 80-jährigen Großmutter verschreckte. Und wie ich mich dann mit ihm versöhnte.

Edda hasst den Sommer so wie ich vergleichsweise nur Biomüll und starken Wind hasse. Sie nutzt ihn, um sich wochenlang von der gesamten Welt abzuschotten. Ihr Tag beginnt dann etwas früher. Die kühlere Morgenluft nutzt sie, um die Pflanzen noch einmal zu gießen und der Außenwelt dann Lebewohl zu sagen. Denn um zehn Uhr werden die Rollos im Haus heruntergelassen und die Türen geschlossen. Und dann ist Ruhe.

Im Sommer finden jene Dinge einen Stillstand, die Edda das ganze Jahr über beschäftigen. Meistens sind das anstrengende und unbeliebte Dinge, die jedoch wichtig für eine gute Außenwirkung sind. Oder wichtig sind, weil sie halt gemacht werden müssen, weil das irgendwer mal so festgelegt hat. Allen voran zum Beispiel die Einfahrt, die immer gekehrt und sauber sein muss. Die Tageszeitung, die weiterhin bestellt wird, obwohl Edda es nicht mehr bis zum Briefkasten schafft und daher immer heimlich jemanden schickt. Die Fenster, die in einem halsbrecherischen Akt, der inzwischen viel zu gefährlich ist, regelmäßig geputzt werden müssen. Das Auto, das sauber bleiben muss, obwohl es immer in der Garage steht. Das Unkraut, das dringend noch vom Beet muss, bevor jemand was sagt. Einmal war Edda sehr gestresst, weil sie die ganzen Rezepte, die sie aus diversen Zeitschriften ausgeschnitten hat, in die Kategorien Backen, Kochen, Fleisch und Vegetarisch sortieren musste. Ja, musste, das hat sie so gesagt. Sie war so gestresst, dass ich mich nicht getraut habe zu fragen, wann sie denn das letzte Mal gekocht oder gebacken hat. So vergehen die Wochen, fleißig und wachsam. Ein Auge auf der To-Do-Liste, das andere auf den Nachbarhäusern. Manchmal, wenn sich Edda müde in den Sessel fallen lässt, um sich dann nach kurzer Zeit wieder aufzurappeln, bereit um ein neues Problem zu lösen, finde ich das traurig. Traurig, dass die Logik der Produktivität nicht mal vor einer 76-jährigen Halt macht. Die Logik verändert sich nicht, nur ist sie seniorengerechter geworden, hat sich mit einer Pflegestufe getarnt und sich ebenerdig gebaut. Der Stress dahinter aber bleibt, vermutlich bis man stirbt.

Letzten Sommer aber habe ich was beobachtet. Denn obwohl die unerträgliche Hitze, die für Edda ab exakt 24 Grad beginnt, ihre Knochen müder macht, entsteht in den Sommermonaten das, wie ich es nenne, magische Zeitfenster: Die Saison des Rasenmähens beginnt im April. Dann muss jede Woche gemäht werden und Edda muss folgerichtig jede Woche jemanden finden, der genau das macht. Die Zeit des ewigen Laubhakens auf Eddas riesiger Wiese, wo der Blätterregen nie zu enden scheint, beginnt ab Oktober. Die Sommerreifen müssen im Frühjahr rauf. Das ist auch die Zeit, in der Edda die meisten ihrer Pflanzen ein- oder umtopfen muss, und nicht zu vergessen die Vögel und die anderen Kleintiere, die Edda in den kalten Monaten im Garten mitversorgt. Ab Oktober müssen dann wieder die Winterreifen drauf, und sobald irgendwann im Dezember der erste Schnee fällt, wird sowieso pausenlos nur noch geschippt und gesalzen und sich aufgeregt, denn der steile Berg, den Edda bewohnt, ist schon bei leichtem Schnee kaum noch befahrbar. Und dann ist da noch Eddas alte Heizanlage, die im Winter ständig ausfällt oder gewartet werden muss oder die Wasserpumpe, die bei großer Kälte einfach einfriert. Im Frühjahr und im Winter stehen außerdem noch ständig Feiertage auf dem Plan. Plötzlich ist dann die ganze Familie im Haus und verlangt Edda ab, doch mal eben ein Osterlamm zu backen oder die Krippe unterm Baum aufzustellen. Und dann wird das Weihnachtsessen organisiert und es wird eingekauft und es werden Geschenke organisiert und nochmal eingekauft, und die Wäsche gemacht und immer so weiter.

Was am Ende bleibt, sind Juli, August und ein bisschen September. Die magische Zeit, in der die Welt auffallend wenig von Edda zu wollen scheint und jede kletternde Gradzahl ruft: Leg dich doch hin, was soll man bei der Hitze sonst machen. Die Zeit, in der die Rollos auf einmal anziehend wirken, und niemand mehr sehen kann, ob die Fenster nun wirklich geputzt sind oder nicht. Die Zeit, in der die Rückenschmerzen plötzlich nachlassen, und man sich fragt, was eigentlich chronisch bedeutet. Es ist die Zeit, in der Edda nicht so produktiv sein muss wie sonst und vor allem nicht planen muss, wie man produktiv wirkt, wenn man es körperlich nicht mehr schafft. Würde Edda den Begriff „Mental Load“ hören, würde sie sicherlich lachen und sagen, dass sie mit englischen Begriffen nichts anfangen kann.

 Als ich Edda in diesem Sommer beobachtet habe, habe ich auch mich beobachtet. Und mich ertappt dabei, wie ich in Gedanken den Tag verschlafen, auf der Wiese lesen und abends einen kalten Rosé zum Sonnenuntergang trinken wollte. Und wie ich dann ganz schön wenig den Tag verschlafen, auf der Wiese gelesen und abends einen kalten Rosé zum Sonnenuntergang getrunken habe. Die meiste Zeit des Tages hing ich eben doch im Kopf ab und war still und heimlich, wie eine fleißige Ameise, und ohne dass es Aufsehen erregt, an irgendeiner Stelle doch produktiv. Diese eben angesprochene Logik, die Edda noch in ihren letzten Lebensjahren befällt, macht vor niemandem Halt. Und oft ist die Logik der Produktivität nicht mal sichtbar. Oft arbeitet sie verdeckt, verbündet sich mit dem Druck, sich selber zu optimieren zu müssen, und mit dem lauten Ruf der Scham, sich auf keinen Fall ausruhen zu dürfen. Ein perfider Balance-Akt zwischen immerwährendem-gestresst-sein und nicht-zu-gestresst-sein-zu-dürfen, denn ich mache ja doch nicht so viel wie die anderen. Was ist eigentlich schlimmer: Das Scheitern an der Produktivität selbst oder das Scheitern, das dann eintritt, wenn den anderen nicht einmal auffällt, wie produktiv du bist? Das Motto eines jeden produktiven Tages ist immer gleich: Ich. Gut, aber nicht gut genug. Weil ich der Logik nach beschäftigt bleiben muss und Akzeptanz vielleicht ihr Ende bedeuten würde. Und so arbeite auch ich weiter, nur eben mich an mir selber ab.

Der Sommer kommt und ich glaube, dieses Mal bin ich bereit. Aber er ist noch nicht da. Noch sind die Rollos tagsüber oben und Edda rödelt noch durch das Haus. Noch gibt es genug zu tun und genug Probleme, die aus dem Nichts aufzutauchen scheinen. Ich weiß noch, als Edda letzten Sommer von ihrer besten Freundin Brigitte nach Hause kam, leicht angetrunken, denn die beiden trinken sonntags immer ein Glas Sekt zusammen. Die kleine Rebellion am heiligen Sonntag. Edda ließ sich erschöpft in ihrem Sessel nieder und schaute gequält zum Thermostat: „Jetzt schon 21 Grad, das wird ab jetzt immer schlimmer“. Und ich musste lächeln und sagte: „Ich glaub, du bist ein Sommermensch“. Sie schaute mich an, als hätte ich sie persönlich beleidigt. „Du spinnst doch“, rief sie. „Du weißt doch, wie ich den Sommer hasse“. Ja. Vielleicht liebst du ihn nicht, aber dafür er dich.

Kategorie Die "Edda"-Kolumne

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