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Warum wir weniger Verantwortung übernehmen sollten

Ein provokanter Titel? Ich übe mich noch in reißerischen Headlines. Nachfolgend soll es um eine bestimmte Form der Verantwortung gehen, nämlich die Eigenverantwortung. Ein Begriff, den ich erstmals in der Sozialen Arbeit hörte, und der wesentlich häufiger fällt als der Begriff der Fremdverantwortung, der praktisch nicht existiert.

 Der Sozialen Arbeit wird oft vorgeworfen, systemimmanent statt systemhinterfragend zu agieren. Auch mir erschien es so, als wäre die Hilfe teilweise daran bemessen, jemandes Leben möglichst normkonform zu gestalten. Ich hatte den Eindruck, dass diejenigen, die Hilfe zur Selbsthilfe vermitteln, oft auch genau wissen, wie die richtige Hilfe zum richtigen Lebensstil auszusehen hat. Wie ein guter Wille zur Veränderung und am Ende die richtige Art der Dankbarkeit gezeigt werden soll. Und dass, falls eine Wirkung nicht so eintritt wie geplant, es am Ende oft am Individuum liegt.

 An diesem Punkt gesellt sich oft das Schlagwort „Eigenverantwortung“ dazu. Er suggeriert, dass irgendjemand die Verantwortung, insbesondere für ungewünschtes Verhalten und dessen Anpassung in den Normbereich, übernehmen muss. Dass Verhalten nicht ohne Erklärung stehen gelassen werden kann, sondern dass es einer Zuordnung bedarf. Und dass eben nicht das Außen, die Umstände, die Gesellschaft als Schuldige in Frage kommen, sondern wir selbst.

 Eigenverantwortung. Ja, die habe ich. Ich habe die Verantwortung für mein eigenes Leben, das muss ja wohl fürs Erste reichen. Aber die Ermahnung zu Eigenverantwortung kann problematisch werden, nämlich dann, wenn wir uns in einem System befinden, welches bestimmte Menschengruppen bevorzugt, und wenn wir uns in einem System befinden, in dem Handlungsfähigkeit bestimmte Ressourcen voraussetzt, die ungleich verteilt sind. Wenn uns alle eine Sozialisierung verbindet, der wir uns nicht einfach entziehen können und das „Eigen“ in der Eigenverantwortung dadurch deutlich weniger individuell geformt ist, als es scheint. Und so kommt es leider oft, dass wir an genau den Stellen, wo wir das System hinterfragen sollten, den einzelnen Menschen anzweifeln und in diesem Zweifel gegen den Angeklagten dann ihn als weniger wertvoll betrachten – ganz automatisch.

 Aber die soziale Arbeit agiert nicht im Vakuum, ist in diesem Sinne also weniger die Wurzel und mehr ein Symptom. Wir leben in einer Zeit, in der vieles am Individuum zu hängen scheint. Ob es die Rettung des Klimas, die Vereinbarkeit von Freizeit und Beruf oder der Abbau genau jener Diskriminierungsdimensionen, von denen man selbst betroffen ist, ist. Ganz nach dem Motto: Bitte selber kümmern!

 Und diese Verantwortungsübernahme üben wir stetig, beginnen auf der Mikroebene, in unserem Privatleben. Dort fällt es besonders leicht, Diagnosen zu stellen, zu bewerten und einzuordnen, insbesondere bei jeglicher Merkwürdigkeit. Und dabei nicht zuletzt immer bei uns selbst anzufangen. Verhalten kann nicht ohne Erklärung stehen gelassen werden, sondern bedarf einer Zuordnung. Und wenn die Welt so groß und noch viel komplexer ist, bleiben am Ende nur wir selbst, um nach etwas zu greifen.

 Ich kenne niemanden, insbesondere keine Frauen, die nicht permanent kritisch mit sich selbst umgehen oder sich mit einer Strenge behandeln, mit der sie niemals eine andere Person behandeln würden. Wenn wir uns nicht normkonform verhalten, wenn wir uns mal einer Merkwürdigkeit hingeben, ist der erste Tritt danach oft der nach uns selbst: Wie oft ist der Gedanke „ich esse schon wieder zu viel“ wirklich auf Hunger bezogen, und wie oft er eigentlich Ausdruck eines ansozialisierten, gestörten Verhältnisses zu Essen? Wie oft ist ein „ich mach zu wenig Sport“ wirklich der Wunsch nach der Bewegung, und wie oft eher die Scham darüber, unproduktiv zu sein oder aufgezwängten Körperidealen nicht zu entsprechen? Wie oft bezieht sich ein „ich bin keine gute Freundin“ wirklich auf feindseliges Verhalten gegenüber anderen Menschen, und wie steckt der Druck, immer verfügbar und sich keine Fehler im Menschsein zu erlauben, dahinter? Wie oft heißt ein „ich bin zu viel“ eigentlich, dass man einfach nur mal ein Bedürfnis offen gezeigt hat, für das von außen nie genug Platz vorgesehen war? Am Ende werden lieber die eigenen Muster analysiert und das eigene Ich zerlegt, im Rücken immer die große Frage: „Wieso bin ich so?“ Anstatt einmal den Blick ins Außen zu richten und zu sagen: „Guck dich mal um!“

 Es folgt kein Lösungsvorschlag mehr, außer der Idee, dem Wort „Fremdverantwortung“, vielleicht in einer Fortsetzung, Beachtung zu schenken. Bessere Ideen habe ich erstmal keine oder zu viele. Aber keine Sorge, ich übernehme dafür die volle (Eigen-)Verantwortung.

 

 

 

Kategorie #What I hated this week

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