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Durchbohrt

Vor Kurzem präsentierte ich am Familientisch ganz stolz mein neues Piercing. An einem sensiblen Morgen habe ich ja im Spiegel nachgesehen, ob irgendwas gestochen oder aufgepolstert werden sollte, weil mir nach den Turbulenzen im Frühjahr, mein Gesicht so schief vorkam. „Das zählt doch nicht als Piercing“, sagte meine Bruder. „Spinnst wohl! Klar ist das ein Piercing", sagte ich und riss die Augen auf. "Weißt du, wie das geblutet hat?“ Zur Sicherheit googelte ich, ob ein Ohrläppchen als Piercing zählte, so wie ich sonst für den Jungen Tierfakten googelte, zum Beispiel wie alt ein Tiger werden kann, 15 Jahre nur, wie groß die größte Giraffe ist, stolze 6 Meter oder wie viele Zähne ein Hammerhai hat, ungefähr 60. „Das Wort Piercing heißt übersetzt Durchbohren“, las ich laut vor. Ich schaute über den Teller mit den Chicken Wings rüber zu meinem Bruder. „Der hat durchgebohrt, ich musste dreimal ein- und wieder ausatmen, es ist ein Piercing!“ Mein Bruder hat mich dann angelächelt.

Buch

Ein halbes Jahrhundert

Über zwei alte Liebesleute

Die über achtzigjährige Helga Schubert lese ich seit sie 2020 mit ihrem Text Vom Aufstehen den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hat. Ich weiß noch, ich weiß noch, wie sie sich damals bei der Jury bedankte, ein wenig zu Tränen gerührt, sodass ich selbst ganz zittrig ums Herz wurde. Helga Schubert zitierte dann Ingeborg Bachmann: „Der Schriftsteller ist mit seinem ganzen Leben auf ein Du gerichtet.“ Ja, aber wo war sie denn bloß die letzten Jahre, fragte ich mich und las ab da Helga Schubert.

Deswegen griff ich schnell nach ihrem neuen Buch Der heutige Tag. Und als mir klar wurde, dass es sich um eine Liebesgeschichte handelte, las ich noch in der Libelle der Karl-Kunger-Straße das erste Kapitel. Der Anfang geht so:

Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant, sagt Deren zu mir und umarmt mich, als ich morgens in sein Zimmer und an sein Pflegebett komme. Wir sind seit 58 Jahren zusammen. Zwei alte Liebesleute.

So schnell habe ich ein Liebespaar in einem Buch selten gut einschätzen können. Und ich las zuhause weiter über eine Ehe in der DDR, vom gemeinsamen Älterwerden, über Gedanken an den Tod und über die Pflege eines Partners, den man lernt, gehen zu lassen. Helga Schubert ist leise und sanft in ihrem Schreiben. Das Buch klopfte höflich an, wie etwas, das Gutes im Sinn hatte und fragte: "Darf ich mich zu Ihnen setzen?", was natürlich ebenso höflich von mir beantwortet wurde. "Gerne, aber einen Moment bitte noch", sagte ich, trat ans Waschbecken, öffnete das Fläschchen mit der Gesichtsmilch und nahm einen Lappen in die Hand. Ich verteilte die Milch in meinem Gesicht, massierte und schrubbte in aller Sorgfalt. Als nächstes sprühte ich Kochsalzlösung auf mein Piercing, die so herrlich in meinem Ohr knisterte und erst als das Knistern vorüber war, tupfte ich mit der Kompresse um das Piercing. Dann ging ich zurück zu Helga Schuberts Buch. "Entschuldigen Sie bitte", sagte ich. "Ich musste noch mein Gesicht reinigen." Und mir war als wäre es nicht mehr schief.

Anmerkung der Redaktion: Helga Schubert: Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe. Erschienen bei dtv für 24 Euro.

Weitere Anmerkung der Redaktion: Den diesjährigen Bachmann-Preis gewann Valeria Gordeev mit ihrem Text "Er putzt". In das Herz der Redaktion las sich jedoch der Lyriker Martin Piekar (Öffnet in neuem Fenster), der zum Jubel aller den Publikumspreis gewann. Sein Text Mit Wänden sprechen/Pole sind schwierige Volkhandelt von dem Zusammenleben einer polnischen Mutter und ihrem Sohn, die mit der Zeit Schwierigkeiten haben, sich richtig zu verstehen. Der Text ist eine Hommage an seine verstorbene Mutter. Die Redaktion hofft auf einen Roman.

Briefzitat

Ich gehöre wirklich nicht zu denen, die erst zu spät bemerken, was eine Mutter bedeutet.

Erich Kästner an Ida Kästner, November 1926.

Bühne

Meyerhoff und Winkler

Eurotrash in der Schaubühne

Mutter und Sohn stechen in See

Das Genre "Komplizierte Beziehungen zwischen Müttern und ihren Söhnen" fand diese Woche seinen Höhepunkt am Sonntagabend.

Dem Jungen berichtete ich am nächsten Tag von dem Stück, denn ich hoffe, dass ich durch meine herzigen Erzählungen in seiner Kindheit über das Theater später mal keine Vorwürfe zu hören kriege, alles sei immer nur Filme gewesen. Ich sagte:

Da war ein Schiff auf der Bühne! Auf das fuhren eine Mutter und ihr Sohn über einen See in der Schweiz. Der Sohn war schon erwachsen und die Mutter ganz alt. Wie alt, fragte der Junge. Schon ganz, ganz alt, sagte ich. Und die haben sich ständig gestritten. "Mutter, hast du gut geschlafen?", fragte der Sohn. Und dann hat die Mutter einen Witz gemacht. Sie sagte: "Schon seit deiner Kindheit nicht mehr." Geldscheine aus Papier wurden in die Luft geworfen und ein Beutel mit Pusche, das nennt sich künstlicher Darmausgang, was auch sehr witzig war. War das echte Pusche, wollte der Junge wissen. Nein, nur gespielte. Der Sohn hat sich ganz oft umgezogen, manchmal war er von oben bis unten voll mit der Pusche, das fand ich klasse. Ach Mausi, das Schiff hätte dir gefallen.

Wie groß war das Schiff, fragte der Junge und dann sagte ich ihm, er solle stehen bleiben und lief zehn große Schritte weit von ihm weg. Von dir bis zu mir ungefähr, rief ich. Ein großes Schiff war das. Das war ein großartiger Abend im Theater.

Ob wir auch mal zusammen auf einem Schiff fahren, wenn wir alt sind, wollte der Junge wissen. Natürlich, wo wollen wir hin? Nach Asien! Gut, aber ich bin nicht an allem schuld, wenn du mal groß bist.

Anmerkung der Redaktion: Eurotrash von Christian Kracht (Öffnet in neuem Fenster). Inszeniert von Jan Bosse mit Joachim Meyerhoff und Angela Winkler.

Liebe Söhne und Töchter!

Mann, der Joachim Meyerhoff! Eigentlich wollte ich ihn gar nicht großartig finden, weil das schon viele, vermutlich zu viele, vor mir behauptet haben, da wird bestimmt zu hoch gestapelt. Aber ich weiß jetzt, was das mit ihm ist, diesem großartigen Joachim Meyerhoff.

Ansonsten bin ich freudig gespannt auf den Urlaub nächste Woche. Es geht auf den Darß, dort wo ich vor Jahren mal ein paar glückliche Tage verbrachte. Nun nicht nochmal nach Prerow, wie ich es ursprünglich überlegt hatte, sondern ein Örtchen weiter nach Zingst. Das Universum darf ruhig staunen. Ein schickes Hotel hat mich eingeladen und so wird es doch tatsächlich eine Strandkorblesung von mir geben. Meine Mutter kommt für zwei Tage vorbei und dann fahren wir weiter zum Plauer See. Einmal habe ich noch eine Doku über Hawaii gesehen und mir dabei vorgestellt, wie es wohl am Pazifik gewesen wäre. Jetzt ist es gut.

Ich hoffe, alle genießen die erste Juliwoche. Die verschuppte Politik macht einem ja schon wieder Kummer bis in die Kniekehlen. Es sei laut gesagt, verdammte AfD!

Herzlich Judith

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